Positiver Frieden zielt auf mehr als physische Gewaltsamkeit. Die Begriffe der "strukturellen" und der "kulturellen" Gewalt (vgl. Galtung 1971; 1998) bezeichnen Zwangs- und Gewaltverhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die einem Frieden entgegenstehen, der mehr sein will als die Abwesenheit von direkter Gewalt. Die kulturelle Gewalt begegnet uns dabei als "Rechtfertigung direkter und struktureller Gewalt" (Galtung 1998: 341f).
Gewalt und Gesellschaft bilden unter kapitalistischen Bedingungen keineswegs nur in den Weltregionen, die früher einmal ›Dritte Welt‹ hießen, einen untrennbaren Zusammenhang. Jedoch verbergen sich die Gewaltverhältnisse innerhalb „unserer“ westeuropäisch-amerikanischen Welt einem oberflächlichen Blick. Dieser Teil der Welt wird als prinzipiell gewaltfrei angesehen, Gewalt als Problem immer nur „den Anderen“ angelastet. Das Problem wird als solches von den Zentren in die gesellschaftliche Peripherie verlegt, gegen die man dann zur „Verteidigung“ rüstet. Oskar Negt weist auf den blinden Punkt einer solchen Sichtweise hin:
"Das würde jedoch die westeuropäische Geschichte nicht nur verfälschen, sondern auch die gesellschaftlichen Gesteinsverschiebungen außer Betracht lassen, die nach Art eines Quantensprungs plötzlich zum Umkippen einer Sozialordnung führen können. Es ist gerade ein halbes Jahrhundert her, daß wir im hochzivilisierten Westen über 50 Millionen Tote zu beklagen hatten; und es waren nicht die marodierenden Horden der SA und SS, welche die nationalsozialistische Gewaltgesellschaft am Leben hielten, sondern es war das wohlgeordnete System aus Militär, Polizei, Bürokratie, Lehrern, Hochschullehrern usw., die alle ihren Teil der Gewalt zu diesem System beitrugen." (Negt 2002)
Galtungs dreigliedriger Gewaltbegriff
Grundsätzlich lässt sich mit Galtung Gewalt insgesamt zunächst begreifen als eine "vermeidbare Verletzung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzen [sic], was potentiell möglich ist." (Galtung 1998: 343, kursiv i.O.) Grundlegende menschliche Bedürfnisse umfassen dabei alles, was zum Überleben und zum körperlichen Wohlbefinden nötig ist, was dem Leben Sinn und Identität verleiht und beinhalten Freiheit. Gewalt wird dagegen bürgerlicherseits stets auf körperliche Gewalt verkürzt, selten als strukturelle Gewalt begriffen - gesellschaftliche Zwangsstrukturen, wie Lohnarbeit, Wehrdienst oder per Staatsbürgerschaft verordnete Aufenthaltsge- und -verbote, geraten einem auf die physische, interpersonale Gewaltanwendung verkürzten Gewaltbegriff nicht als Gewalt in den Blick. Das zivilgesellschaftliche Kollektiv ordnet den Verzicht auf diejenigen Formen von Gewalt an, die ihm als unnütz oder gefährlich erscheinen. Die strukturellen Gewaltverhältnisse, auf denen die materielle Reproduktion einer kapitalistischen Wirtschaft beruhen, werden entweder ausgeblendet oder naturalisiert (Sachzwänge!) - sie werden jedoch in der Regel nicht als Ergebnis eines reflektierten Umgangs kritisch angegangen. Galtung trennt Gewalt zunächst analytisch auf in direkte und strukturelle Gewalt, nicht ohne die Beziehung zueinander und die Verflechtung miteinander klarzumachen:
"Der Unterschied [zwischen direkter und struktureller Gewalt, ME], der nach wie vor bestehen bleibt, ist der Unterschied zwischen Gewalt, die die Menschen als direktes Resultat der Aktionen anderer trifft, und Gewalt, die sie indirekt trifft, weil repressive Strukturen durch die summierte und konzertierte Aktion von Menschen aufrechterhalten werden. Die Antwort [auf die Frage nach dem Unterschied, ME] liegt im qualitativen Unterschied der Aktionen." (Galtung 1971: 76, kursiv i.O.)
Dann führt er über direkte und strukturelle Gewalt hinausgehend den analytischen Begriff der kulturellen Gewalt ein:
Kulturelle Gewalt (K) bezeichnet "jene Aspekte der Kultur, der symbolischen Sphäre unserer Welt [...], die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren." (Galtung 1998: 341)
Diese macht
"die Realität so undurchsichtig, daß wir eine gewalttätige Handlung oder Tatsache überhaupt nicht wahrnehmen oder sie zumindest nicht als solche erkennen. [...] Die Analyse kultureller Gewalt hebt die Art und Weise hervor, in der der Akt direkter und die Gegebenheit struktureller Gewalt legitimiert und so für die Gesellschaft akzeptabel gemacht werden." (Galtung 1998: 343)
Kulturelle Gewalt wird z.B. dort notwendig und wirksam, wo Regierungen spezifische nationale Interessen mit Mitteln verfolgen, die den eigenen Anspruch (Demokratie, Freiheit, Menschenrechte etc.) konterkarieren. Mit Hilfe der Medien sollen die Widersprüche geglättet, verheimlicht oder vertuscht werden. Die Außenpolitik der USA hat eine lange Geschichte solcher Fälle vorzuweisen, sie reicht von der militärischen Hegemonialpolitik auf dem amerikanischen Kontinent im 19. Jahrhundert bis ins gegenwärtige Geschehen, wo es gelang, auf der Basis erfundener und gefälschter Beweise über die Massenmedien einen Konsens für den Angriff des Irak und dessen Eroberung herzustellen. Mittlerweile gelingt es den Öffentlichkeitsmachern, ihre fake news zu kompletten „alternativen Wahrheiten“ zu formen, den diversen konkurrierenden Verschwörungs-Weltsichten.
Die Gegengeschichte gegen die massenmedial-propagandistische Verstopfung aller Kanäle kommt zwar ebenfalls aus den USA, - so haben z.B. der amerikanische Journalist William Blum (Blum 1995) und Noam Chomsky, der Großvater aller Fakten-Checker_innen, dutzende Fälle der gewalttätigsten und blutigsten Einflussnahmen der USA quellenreich aufgearbeitet - erreichen aber nie die mediale Durchschlagskraft des staats- und regierungsloyalen Massenjournalismus (vgl. Schuster 1995). Mit Aufklärung anhand korrigierter historischer Fakten und Zusammenhänge alleine ist nicht ausreichend gewaltfreie Gegenkultur zu machen. Was über die US-Außenpolitik bekannt ist, sollte jedoch keinesfalls zum Anlass für einen besonders ausgeprägten Antiamerikanismus werden. Denn z.B. die belgischen Aktivitäten im Kongo oder das deutsche Engagement in Ex-Jugoslawien (Küntzel 2000: 59ff) unterscheiden sich von denen der USA lediglich in der Größenordnung - und im Grad ihrer gegenöffentlichen Aufarbeitung.
Allerdings stellen Analyse und Kritik des Propaganda-Modells nur einen Teil der notwendigen Kritik von kultureller Gewalt dar. Denn Chomsky selbst arbeitet mit einem verkürzten Ideologiebegriff: Ideologiekritik heißt für ihn vor allem Kritik der dominanten Rede vom Terrorismus (früher Kommunismus) und Kritik der fünf Filter, mit deren Hilfe innerhalb der Nachrichtenindustrie zensiert wird.[1]
Ideologie als kulturelle Gewalt
Angesichts der Vielzahl von Entwürfen und Debatten zum Ideologiebegriff (vgl. dazu aber u.a. Eagleton 1993; Herkommer 1999: 8f), führt das Ideologieverständnis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule aus dem Wirrwarr. Zentrale Idee: Der klassische Ideologiebegriff ist historisch und materiell an die bürgerliche Gesellschaft gebunden. "Demgemäß ist auch Ideologiekritik, als Konfrontation der Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit, nur soweit möglich, wie jene ein rationales Element enthält, an dem die Kritik sich abarbeiten kann." (Adorno/Dirks/Institut für Sozialforschung 1956: 169) Ideologie ist demnach nicht einfach nur Lug und Trug der Herrschenden, wobei diese Lügen kein Fünkchen Wahrheit beinhalten würden, quasi frei erfunden wären. [2] Vielmehr speist sich Ideologie aus einer spezifischen Wirklichkeit, um deren Analyse es denn auch gehen muss, wenn man Ideologiekritik üben will. Insofern ist Ideologie die Legitimation bürgerlicher Herrschafts-, Eigentums- und ganz allgemein: Gewaltverhältnisse. Ideologie ist kulturelle Gewalt im oben zitierten Galtungschen Sinne,
"aber sie legitimiert nicht nur eine gesellschaftliche und politische Ordnung, die selbst widersprüchlich ist und zudem bereits brüchig zu werden droht, sondern sie enthält auch das wahre Moment der bürgerlichen Gesellschaft, das über sie hinausweist, sich als Idee der Gerechtigkeit, als die Ideen der Freiheit und der Gleichheit am Modell des Tausches orientiert" (Herkommer 1999: 11, Herv. i.O.)
Den spezifisch bürgerlichen Ideen des Liberalismus und des Individualismus ist das rationale Element des Tausches von Äquivalenten wesentlich. Die freie Person in Gestalt des Warenbesitzers wird als Privateigentümer anerkannt, aber "doch bereits emanzipiert von persönlicher Herrschaft und Abhängigkeit" (ebd.). Dieser Ideologiebegriff ist ganz im Sinne der kritischen Theorie gemeint, nämlich historisch, also gebunden an eine spezifische, die bürgerliche Gesellschaftsform. Von Ideologie lässt sich in diesem Sinne nur sprechen, solange es den objektiven Schein einer von der Freiheit und Gleichheit der Individuen bestimmten Gesellschaft gibt, die in ihrer inneren Konstruktion als einer Klassengesellschaft auf Unfreiheit und Ungleichheit, auf der Ausbeutung[3] der produktiven Klasse beruht. In Anlehnung an Marx schreibt der Philosoph Herbert Schnädelbach:
"Ideologie ist gesellschaftlich notwendig falsches Bewußtsein, sofern man die Subjektseite betrachtet, und gesellschaftlich notwendiger Schein, wenn man vom Gegenstand des ideologischen Bewußtseins spricht. Der Terminus 'gesellschaftlich notwendig' bedeutet nicht einen naturgesetzlichen Zwang zum falschen Bewußtsein, sondern eine objektive Nötigung, die von der Organisation der Gesellschaft selbst ausgeht. Sie entsteht [...] wenn bestimmte Oberflächenphänomene ihre innere Organisation verdecken." (Schnädelbach 1969: 83f.)
Damit ist die Vergesellschaftung über Ware und Geld angesprochen: Das spontane Bewusstsein der Menschen unterliegt in der bürgerlichen Gesellschaft dem Fetischismus von Ware und Geld. In jeder arbeitsteiligen Gesellschaft stehen die Menschen in einer Beziehung zueinander. In der kapitalistischen, warenproduzierenden Gesellschaft erscheinen diese gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen jedoch als Beziehungen von Dingen (die Beziehungen der Tauschenden erscheinen als Wertbeziehung der ausgetauschten Produkte), so dass aus gesellschaftlichen Beziehungen scheinbar sachliche Eigenschaften werden. Den Dingen wird ›Wert‹ (ein originär gesellschaftliches Verhältnis) als ihnen dinglich zukommende Eigenschaft zugeschrieben, als wäre eine Tomate nicht nur rot und saftig, sondern besitze auch noch Wert von Natur aus. Dieses Bewusstsein ist allerdings mitnichten einfach ein Irrtum, sondern hat seine materielle Grundlage: Die Menschen beziehen sich bei der Versorgung ihrer Bedürfnisse ja tatsächlich nicht unmittelbar aufeinander. Erst der Tausch, der über ihre Arbeitsprodukte vermittelt wird, bringt sie zueinander. Eine Sache stellt über den Tausch erst den gesellschaftlichen Zusammenhang her und daher ist es - analytisch betrachtet und nicht moralisch - nicht falsch, dass die Sachen unter den Bedingungen der Warenproduktion gesellschaftliche Eigenschaften haben, falsch ist nur, dass sie das automatisch, in jedem gesellschaftlichen Zusammenhang haben. Falsch ist also, dass diese Eigenschaften als selbstverständliche Naturnotwendigkeit gelten. Dass dies dennoch so wahrgenommen wird, verdankt sich nicht einem Irrtum, sondern stellt genau jenen objektiven Schein, jene objektive Gedankenform dar, von der oben die Rede war (vgl. Heinrich 2004: 179ff). Um es mit Marx zu sagen:
"Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion. Aller Mystizismus der Warenwelt, all der Zauber und Spuk, welcher Arbeitsprodukte auf Grundlage der Warenproduktion umnebelt, verschwindet daher sofort, sobald wir zu andren Produktionsformen flüchten." (Marx 1989: 90, Herv. d.A.).
Die Naturalisierung von (Staats-)Gewalt und Privateigentum
Die Kritik der bürgerlichen Ideologie macht nicht Halt bei der Kritik der Naturalisierung gesellschaftlich spezifischer Verhältnisse, sie erstreckt sich auch auf den Zusammenhang von Arbeit und Eigentum und dessen gewaltsame Durchsetzung, Aufrechterhaltung und Verteidigung. In diesem Zusammenhang erfolgt die Naturalisierung von staatlichem Gewaltmonopol und seiner Institutionen Polizei und Militär. Und analog zum Fetischcharakter des Geldes (vgl. Marx 1989: 62 ff; ausführlich zur Debatte um die Marxsche Wertformanalyse: Heinrich 1999: 196ff) ließe sich vom Fetischcharakter des Militärs sprechen: Nur im fiktiven Ursprungsmoment eines ebenso fiktiven Gesellschaftsvertrages, indem sich die Bürger zum Staat zusammenschließen, treten die Institutionen des Gewaltmonopols für die Sicherheit der Staatsbürger ein (vgl. Hobbes/Fetscher/Euchner 1984: 131ff; kritisch dazu: Narr 1980: 557ff).
Besteht der Staat erst, verkehrt sich dieser ursprüngliche Zweck in eine Legitimationsfunktion. An seiner Stelle wird den Institutionen des Gewaltmonopols die Staatssicherheit zum Zweck. In dieser Verbindung von absolutem Monopolanspruch und seiner Durchsetzung mit staatsgewaltigen Mitteln haben die sogenannten Teufelskreise inner- und zwischenstaatlicher Rüstungsspiralen ihren systematischen Ursprung. Der Staat muss sich als Monopolherr um alle gesellschaftlichen Vorgänge und Konflikte kümmern, die seinen Sicherheitsanspruch berühren könnten (vgl. Narr 1980: 556). Im hierin zutage tretenden Herrschaftsinteresse verbindet sich ein Interesse an Herrschaft um ihrer selbst (vgl. Krippendorff 1985: 353) und um ihrer sozialen und ökonomisch-kapitalistischen Inhalte willen (vgl. Agnoli 1990: 59f).
Die frühbürgerlichen Philosophen verteidigten das Privateigentum als gegenüber Gemeineigentum effizientere Eigentumsform, plädierten zugleich dafür, dass das Recht auf Eigentum durch Arbeit begründet werde und dass der säkularisierte Staat hierfür den Rahmen zu schaffen habe. Diese Seins-Annahmen sind bis heute im bürgerlichen Denken verankert, trotz des Umstands, dass kapitalistisch produzierende Gesellschaften einerseits auf der Eigentumslosigkeit[4] der doppelt freien Arbeiter beruhen (frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, frei von Produktionsmitteln), andererseits auf der Konzentration des Privateigentums an Produktionsmitteln in den Händen weniger, der daher so genannten Kapitalisten und obendrein der staatlich-gewaltförmigen Garantie dieser Verhältnisse durch Polizei und Militär.[5] Ideologie- bzw. Erkenntniskritik nach diesem Muster zeigt, dass und wie das Bewusstsein geprägt und erzeugt ist von den herrschenden Verkehrs- und Produktionsformen (und eben nicht von ›den Herrschenden‹ oder ›den Medien‹) und dass diesem Bewusstsein alle gleichermaßen unterliegen, Beherrschte und Herrschende und Medienschaffende.
Gewalt ohne Ende – zum Beispiel Energie
Der unerschütterliche zivilgesellschaftliche Konsens lautet: Gegen Gewalt[6] und für Frieden bzw. Toleranz. Was dieser Konsens für den Charakter zivilgesellschaftlichen Friedens bedeutet, ist in den Auseinandersetzungen um den Krieg gegen den Irak deutlich geworden. Gegen den Angriffskrieg der USA ohne UN-Mandat gingen die Massen auf die Straße. Nur eine kleine Minderheit kritisierte im Rahmen dieser Proteste die herrschende Ordnung, die auch einer sog. friedlichen Lösung des Irak- und des Ölproblems zugrunde läge: die kapitalistische Verfasstheit des Welt(öl)handels und dessen latente Gewalthaltigkeit (vgl. Euskirchen 2003). Ebenso minoritär ist der Widerstand im Falle kriegerischer Interventionen, die von der UN abgesegnet sind: Sie werden von den meisten Kriegsgegnern wenn auch zähneknirschend akzeptiert. Auch bei Teilen der Partei „Die Linke“ kommt die Kriegsgegnerschaft an diesem Punkt ins Wanken. (Bürgerliche) Vertragsform und Einhaltung formaler Prozedere verleihen der Gewalt in letzterem Falle eben ihre Legitimität ("Legitimation durch Verfahren", N. Luhmann), auch wenn sich an der Realität der Kriegsführung in all ihren Erscheinungsformen und mit all ihren Folgen alleine durch die völkerrechtliche Rechtmäßigkeit faktisch doch gar nichts ändert.
Aber - um im Beispiel zu bleiben - die Energieversorgung über einen Weltmarkt mit Öl beruht darauf, dass die Ölverbraucherländer die Kooperationsbereitschaft der Ölstaaten mit verschiedenen Mitteln herstellen. Und das heißt immer: sie notfalls zur Kooperation zu zwingen. Die Mittel der großen Ölkonsumenten sind erstens Waffenlieferungen, um Militärmacht der Regierungen der ölproduzierenden Staaten von sich abhängig zu machen, und zweitens - gleichzeitig - eine glaubwürdige und universelle Kriegsdrohung gegen diese Lieferländer. Als Nato stellen sie kollektiv die Verlässlichkeit der Partner militärisch her und sichern die Transportwege: Schiffsrouten und Pipelines (vgl. die offene Ehrlichkeit der alten Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 26. November 1992 unter Punkt (8): "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung.")
Ziel der Ölverbraucherländer ist nicht die Erbeutung oder die Sicherung einzelner Lagerstätten. Sondern Einrichtung und Erhalt eines weltweiten Marktes, auf dem die Ölversorgung nur noch eine Frage des Preises ist. Da dieses Regime für viel Unzufriedenheit bei den Lieferländern sorgt, lässt die militärische Bedrohung dieser Staaten durch ihre Kunden nie nach.[7] Ein Krieg in der Ölregion ist daher stets möglich und manchmal - aus Sicht der Aufrechterhaltung einer friedlichen und sicheren Ölversorgung - auch nötig: Er bestätigt die Entschlossenheit der Verbraucherländer zur Energiesicherung. Nur weil dieses Regime etabliert ist, können die multinationalen Energiekonzerne den Regierungen der Öl produzierenden Länder als Kunden gegenübertreten. Sie sind die kommerziellen Repräsentanten der Verbraucherländer, die den Markt als ganzen militärisch aufrechterhalten. An diesem Punkt leuchten dann auch die Aufrüstungsbemühungen der Bundeswehr (mehr als 10% Etatsteigerung von 2017 bis 2019), das permanente Kriegsgeschehen in Nah- und Mittelost (Öl!) und der Nato-Aufmarsch bis an Russlands Grenzen (Gas!) ein.
Kulturelle Gewalt verhindert positiven Frieden – und sichert den negativen
Gewalt als Krieg einerseits und Abwesenheit physischer Gewalt („Frieden“) andererseits bilden das Gegensatzpaar, innerhalb dessen es sich einzuordnen gilt, wenn es um internationale Politik geht. In der Innenpolitik wird der Gewalt gegen Migranten und Menschen, die irgendwie anders sind, mit Forderungen nach Zivilcourage und Toleranz begegnet - getreu den Idealvorstellungen vom freien, gleichen, brüderlichen Miteinander. In den Toleranzforderungen zeigt sich jedoch das zu den Friedensforderungen passende Menschenbild recht offen: Es basiert auf einem harten autoritären Kern. Denn es geht nicht z.B. um Respekt und Anerkennung von Personen als Menschen mit Rechten und in lebendiger Gänze, sondern um Toleranz; lat.: tolerare - ertragen. Toleranz kann nur demjenigen gewährt werden, der eben nicht gleichgestellt ist, sie ist eine großzügige Geste des Privilegierten aus dem Bewusstsein seiner Überlegenheit heraus: Demgegenüber, der sich der als solchen nicht (an)erkannten Gewalt der Verhältnisse unterwirft, indem er z.B. seine Arbeitskraft verkauft oder auf dem Kontinent bleibt, wo er oder sie zufällig geboren wurde. Ausbleibende moralische Empörung über Ausländergesetze, Abschiebung, über die Toten auf dem Mittelmeer, über Militär und Krieg als legitimes Mittel von Außenpolitik sind nicht als Heuchelei oder Doppelmoral zu verstehen. Sie sind die konsequente Nicht-Reaktion derjenigen, denen unbewusst-bewusst klar ist, daß sich die vermeintliche Gewaltfreiheit der Zivilgesellschaft selber nur gewaltsam aufrechterhalten lässt.
Demokraten und Zivilgesellschafter bleiben so lange gewaltfrei, wie die gewaltträchtige Grundlage ihrer Ordnung - Privateigentum an Produktionsmitteln - unangetastet, unerwähnt bleibt. Demokratische und zivilgesellschaftliche Gewaltfreiheit sind daher weniger als Verzicht auf Gewalt ernst zu nehmen denn als die Drohung, Gewaltfreiheit mit aller Gewalt herzustellen. Im Hinblick auf positiven Frieden greifen sie nicht zu kurz, sondern sind sie verkehrt: Gewalt erscheint als das Andere der demokratischen Gesellschaft, weil ihr Ausschluss aus der Gesellschaft Gewalt in einen vermeintlichen Naturzustand rückprojiziert, auf einen "Krieg aller gegen alle" ausgelagert wird, der von der bürgerlichen Rechtsform zu bändigen sei, obwohl doch erst durch diese der marktliberale Kampf "aller gegen alle" möglich wird. In der kapitalistischen Gesellschaft aber erscheint Gewaltverzicht nur deshalb vernünftig und moralisch zwingend, weil die bürgerliche Rechtsform die Vernunft und Moral der Marktwirtschaft und des freien und gleichen Warenverkehrs ist.
Der Gewaltverzicht kann daher dem Individuum abverlangt werden, ohne dass er Wesensmerkmal der Gesellschaft zu sein braucht, im Gegenteil; die Gewaltlosigkeit richtet sich genau an den Kategorien kapitalistischer Vergesellschaftung aus, in der Gewalt an anderer Stelle notwendig und alltäglich bleibt. So garantiert das Gewaltmonopol des Staates nicht das Ende von Gewalt, sondern bestimmt lediglich deren Grenzen. Das Gewaltmonopol erlaubt und gebietet dysfunktionales und destruktives Verhalten im Sinne von Warenverkehr und -produktion (betrachte die ökologischen Auswirkungen verwertungsorientierter Ökonomie) und ihrer notwendigen Rechtsformen. Diese Ideologie, die der Rechtfertigung der bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse und der damit einhergehenden Gewalt zugrunde liegt, bildet den Kern der kulturellen Gewalt. Eine Ideologiekritik, die auf letztere zielt, drängt immer auch zur tatsächlichen Aufhebung derjenigen Verhältnisse, die die Ideologie hervorbringen (vgl. Herkommer 1999: 43).
[1] Die fünf Filter (nach Chomsky/Herman 1988: 29ff): 1. Konzentration, Privateigentum, Profitorientierung als Strukturprinzipien in der Nachrichtenindustrie; 2. Rücksicht auf Anzeigenkunden; 3. Affinität zu institutionellen, bürokratischen, regierungsamtlichen Quellen; 4. Angst vor "Flak" (professionelle und korporierte Diffamierungskampagnen); 5. unreflektierte und uneingestandene ideologische Vorannahmen (z.B. Antikommunismus)
[2] Der in diesem Zusammenhang gern zitierte Satz "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken" (Marx/Engels 1969: 46) ist daher auch kritisch zu hinterfragen. Marx entwickelt in seinem späteren Werk, insbesondere im ›Fetischkapitel‹ des Kapitals eine differenziertere Ideologiekritik, die allen Individuen ein bestimmtes Bewusstsein zuschreibt. Mit diesem frühen Zitat aus der ›Deutschen Ideologie‹ unterstellt er noch eine Trennung von Herrschern und Beherrschten, die so letztlich nicht aufrecht zu erhalten ist.
[3] Ausbeutung hier als analytische Kategorie gemeint und nicht als moralische: Der Mehrwert aus kollektiv geleisteter Arbeit wird getrennt von denen, die ihn durch ihre Arbeit erst produzieren.
[4] Eigentumslosigkeit heißt nicht, dass nicht die Mehrheit der Bevölkerung ein Auto und eine bisweilen unheimliche Fülle an Gegenständen besitzen könnte oder ich gar abstreite, dass es (vor allem in den reichen kapitalistischen Staaten) sogar so ist. Entscheidend ist die Eigentumslosigkeit an den für die Reproduktion des gesellschaftlichen Reichtums notwendigen Mitteln: Grund und Boden, Fabriken, Maschinen, Infrastruktur-Netze, Ideen und Erfindungen etc.
[5] Marx zeigt im Kapital (MEW 23, 22. Kapitel), wie auch diese Annahmen wiederum der bürgerlichen Verkehrsform selbst entspringen (vgl. Nuss 2006).
[6] Der Konsens richtet sich konjunkturell derzeit eher gegen rechte Gewalt, eigentlich aber gegen "jegliche", was sich im alle Differenzierungen diesbezüglich einebnenden Begriff der "extremistischen Gewalt" enthüllt. Gegen den Strich gelesen ist letzterer schon wieder beinahe ehrlich: Extremistische Gewalt wird abgelehnt, nicht jedoch das Gegenteil, für das es bezeichnenderweise aber kein Label gibt: ›konformistisch‹ vielleicht - oder eben: Staatsgewalt, die die stille Gewalt der Strukturen und Sachzwänge letztendlich erst zwingend macht.
[7] Da dieses Regime auch insbesondere bei den Bevölkerungsmehrheiten der Lieferstaaten, die bei der Verteilung des Ölreichtums zur kurz kommen, für Unzufriedenheit sorgt, handelt es sich bei Öllieferstaaten in der Regel um recht autoritäre Gebilde. Hier liegt durchaus ein störendes Missverhältnis zu den Vorstellungen der Ölabnehmer. Auch Regierungen, die mit dem Verweis auf verletzte Menschenrechte Angriffskriege vom Zaun brechen, fordern keine Demokratisierungsschritte, die das fein eingependelte Ölmarktregime aus der Ordnung bringen könnten.
Literatur
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Agnoli, Johannes: Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, Gesammelte Schriften. Freiburg i.Br : Ça ira-Verl, 1990
Blum, William: Killing hope. U.S. military and CIA interventions since World War II. Monroe, Me. : Common Courage Press, 1995
Eagleton, Terry ; Tippner, A. (Übers.): Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart Weimar : Verlag J. B. Metzler, 1993
Euskirchen, Markus: Der Frieden ums Öl. Warum mit einem Krieg um Öl keine guten Geschäfte zu machen sind. In: Jungle World, Dossier vom 26.2.2003 (2003)
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Galtung, Johan: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen : Leske+Budrich, 1998
Heinrich, Michael: Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition. Hamburg : VSA-Verl, 1991
Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, Reihe Theorie.org. Stuttgart : Schmetterling-Verl, 2004
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Krippendorff, Ekkehart: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, Edition Suhrkamp Neue Folge. Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1985
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Narr, Wolf-Dieter: Physische Gewaltsamkeit, ihre Eigentümlichkeit und das Monopol des Staates. In: Leviathan (1980), Nr. 4, S. 541–573
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