Der «NSU-Prozess» ist nach 437 Verhandlungstagen Geschichte. Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte mussten sich wegen neun rassistisch motivierter Morde, einem Mord an einer Polizistin und weiterer schwerer Straftaten über fünf Jahre vor dem Münchener OLG verantworten. Für Zschäpe lautete der Urteilsspruch lebenslange Freiheitsstrafe. Die Strafen der Mitangeklagten liegen zwischen zehn und zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug. Rechtsgeschichte, wie etwa beim «Nürnberger Tribunal» (1945/46) oder beim vom Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten «Auschwitz-Prozess» (1963/65), wurde in München nicht geschrieben. Schon gar nicht war es der vollmundig angekündigte «Jahrhundertprozess».
Das lag nicht an den verhängten Strafen. Natürlich muss man das krasse Missverhältnis zwischen der relativ milden Strafe von zweieinhalb Jahren für ein jahrelanges Unterstützen einer terroristischen Vereinigung durch André Eminger und den harten Strafen gegen die G 20-Gegner in Hamburg skandalisieren. Doch diesen Widerspruch löst man nicht mit der Forderung nach einer Straferhöhung bei Eminger. Es kommt nicht primär auf die Höhe der Strafe an. Damit wird nur das in der Gesellschaft weit verbreitete Vergeltungsdenken bedient. Außerdem wird durch hohe Strafen kaum jemand abgeschreckt, wie auch im Gefängnis eine Besserung der Verurteilten nicht zu erwarten ist. Aber man verfängt sich leicht in der Logik des Strafrechts.
Der Münchener Prozess hat auf einer anderen Ebene die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Die Hauptkritik am «NSU-Prozess» findet ihren Ausgangspunkt bereits im Agieren der Bundesanwaltschaft im Vorfeld der Hauptverhandlung. Frühzeitig legte sie sich darauf fest, dass Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt ein symbiotisch verbundenes, ideologisch verblendetes und weitgehend isoliert handelndes Trio gewesen seien. Darauf gründete sich dann die Anklageschrift. Das Gericht folgte überwiegend dem Ansatz der Anklagebehörde, obwohl die Anwälte der Nebenkläger überzeugende Argumente dagegen ins Feld führten. Die Folgen dieses Ansatzes sind fatal. Er führte zunächst zu eingeschränkten strafrechtlichen Ermittlungen. Denn keineswegs hat die Bundesanwaltschaft bei den strafrechtlichen Untersuchungen jeden Stein umgedreht, wie sie glauben macht. Zudem wird, indem Beate Zschäpe und die vier Helfershelfer der Öffentlichkeit als übriggebliebener «NSU» präsentiert werden, geleugnet, dass es ein bundesweites neonazistisches Netzwerk gegeben hat, welches das Trio zumindest finanziell und logistisch unterstützt und ihm einen ideologischen Rückhalt geboten hat. Das soziologische Umfeld der Täter und der Taten, ihre gesellschaftlichen Ursachen werden so nur ungenügend ausgeleuchtet. Gleichzeitig wird damit indirekt einem Schlussstrich unter die NSU-Aufklärung das Wort geredet.
Ein zweiter, schwerwiegender Kritikpunkt am Prozess ist die ungenügende Thematisierung des Agierens der staatlichen Institutionen während und nach der Mordserie, dass, so der Publizist Ralph Giordano, fast bis zur Komplizenschaft reichte. Dabei ist ein Versagen bei der Justiz, der Polizei und beim Verfassungsschutz zu verzeichnen. So stellt sich beispielsweise die Frage, warum es der Generalbundesanwalt nach dem Rohrbombenfund in der Jenaer Garage 1998 ablehnte, ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung gegen Mundlos, Böhnhardt und andere einzuleiten. Kaum vorstellbar, dass dies bei einem anderen politischen Hintergrund auch so gewesen wäre. Weitestgehend ausgeklammert wurde in München der institutionelle Rassismus in der Polizei, der dazu führte, dass jahrelang in die falsche Richtung («Döner-Morde») ermittelt wurde. Oder die Verstrickungen der Geheimdienste: Mehr als 30 Spitzel, die verharmlosend Vertrauenspersonen genannt werden, waren um das Trio gruppiert. Verhindert oder aufgeklärt wurde dadurch nicht eine Tat. Warum? Auch vor Gericht haben die Schlapphüte nichts zur Aufklärung beigetragen. Gibt es strukturelle Gründe für das Versagen der Staatsapparate?
Der strafjuristische Zugriff bewirkt einen Ausblendungsmechanismus, der wiederum für die Politik einen hohen Gebrauchswert besitzt. Genau das ist auch für den "NSU-Prozess" an vielen Stellen zu konstatieren.
Hätte sich das Gericht dieser Themen angenommen, hätte es vielleicht Rechtsgeschichte schreiben können. Bei einem realistischen Blick auf die Strafjustiz wird jedoch schnell klar, dass damit kaum zu rechnen war. Denn Strafjustiz bedeutet immer die Individualisierung gesellschaftlicher Probleme. Der Bestrafungsapparat begründet seine Anklagen und Urteile individualistisch. Persönliche Verantwortung ist hier der Schlüsselbegriff. Der soziale, ökonomische und politische Kontext der jeweiligen kriminellen Handlung wird in der Regel ausgeblendet oder nur formal abgehandelt. Die Strafjustiz bringt gesellschaftliche Problemlagen (hier den gewaltbereiten Rechtsradikalismus) auf das strafrechtliche Zurechnungsmodell der individuellen Schuld und reduziert sie damit zwangsläufig auf persönliche Normabweichung. Damit wird jedoch tendenziell den Gesellschaftsproblemen ihre Entstehungsgeschichte (diese wird auf die Momentaufnahme der kriminellen Tat eingegrenzt) und ihr Bedingungszusammenhang genommen. Die Strafjustiz betreibt, so der französische Soziologe Geoffrey de Lagasnerie, einen Ritus der Entpolitisierung, der Enthistorisierung und Entsozialisierung. Der strafjuristische Zugriff bewirkt einen Ausblendungsmechanismus, der wiederum für die Politik einen hohen Gebrauchswert besitzt. Genau das ist auch für den «NSU-Prozess» an vielen Stellen zu konstatieren. Er ermöglicht die Verantwortung der Staatsapparate herunterzuspielen und die gesellschaftlichen Ursachen der rechten Gewalt auszublenden.
Nur in Einzelfällen wird diese strukturelle Vorgabe übrigens durchbrochen. Das «Nürnberger Tribunal» ist ein solches Beispiel. Gegenstand der Verhandlung war hier aber das größte geschichtsbekannte Verbrechen mit Millionen von Opfern. Von diesem Prozess ging ein Signal für die Zukunft aus: Der Kriminalität der Mächtigen eines Staates sollte künftig mit einem Völkerstrafrecht begegnet werden. Erstmals wurden die drei völkerrechtlichen Straftatbestände Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angewandt. Auch der «Auschwitz-Prozess» brach aus dem vorgegebenen Schema zum Teil aus. Zu verdanken war das nur dem Engagement eines Mannes: Fritz Bauer.
Wenn die Aufklärung des Phänomens NSU, seiner gesellschaftlichen Ursachen und begünstigenden Bedingungen durch die Strafjustiz nur begrenzt ist, muss der Schwerpunkt noch viel stärker auf zivilgesellschaftliche Initiativen, wissenschaftliche, journalistische und publizistische Projekte oder politische Instrumentarien (Parlamentarische Untersuchungsausschüsse) gelegt werden. Bezeichnenderweise war der Auslöser für die Einsetzung des Brandenburger NSU-Untersuchungsausschusses (UA) vor reichlichen zwei Jahren der «NSU-Prozess» in München. Dort hatte zum einen ein als Zeuge geladener Verfassungsschützer aus Brandenburg bei seiner Vernehmung eine jämmerliche Figur abgegeben. Er konnte sich wie so viele seiner Kollegen kaum an etwas erinnern. «Gedächtnisschredder» nannte das ein Anwalt der Nebenkläger. Zudem wollte das Brandenburger Innenministerium die Akte, die der Zeuge mit sich führte, zunächst nicht an das Gericht herausgeben. Das Staatswohl sei sonst gefährdet, lautete die Begründung, die später nicht zu halten war. Zum anderen wurde in München diskutiert, inwieweit mit Informationen, die der Brandenburger Verfassungsschutz 1998 über seinen Spitzel Carsten S. («Piatto») zu den untergetauchten drei Neonazis aus Thüringen erhalten hatte, richtig umgegangen worden ist. Carsten S. hatte nämlich seinem V-Mann-Führer, eben jenem jämmerlichen Zeugen, mehrfach berichtet, dass drei in Sachsen untergetauchte thüringische Skinheads, zwei Männer und eine Frau, auf der Suche nach Waffen und Pässen seien. Sie würden Banküberfälle planen, um sich dann nach Südafrika abzusetzen. Es war sonnenklar, dass es sich bei den Dreien um Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt handelte. Hätte die im September 2000 einsetzende Mordserie des NSU verhindert werden können bei einem anderen Umgang mit den brisanten Meldungen? So lautete die zugespitzte Frage, die in der Öffentlichkeit diskutiert wurde.
Während die Polizei versuchte, die Straftaten aufzuklären, wollte der Geheimdienst seine Quelle für Informationen aus der rechten Szene schützen.
Doch der Brandenburger UA beschäftigte sich zunächst mit einem anderen Phänomen, nämlich der «Nationalen Bewegung» (NaBe). Jene Organisation bekannte sich zu einer Reihe von Straftaten, meist Propagandadelikte, im Raum Potsdam Ende des Jahres 2000, Anfang 2001. Die der NaBe zugeschriebenen Delikte kulminierten in einem Brandanschlag auf die jüdische Trauerhalle in Potsdam. Daraufhin zog der Generalbundesanwalt das Verfahren an sich. Der UA wandte sich dem Komplex deshalb zu, weil der Brandenburger Generalstaatsanwalt Erado Rautenberg als sachverständiger Zeuge in einer der ersten Sitzungen des UA den Verdacht äußerte, dass die NaBe ein Produkt des Geheimdienstes sei. Quasi ein «Celler Loch». Dem musste der UA natürlich nachgehen. Eine Bestätigung der Vermutung fand der Ausschuss nicht. Dafür spiegelten sich wie in einem Brennglas in dem überschaubaren Komplex NaBe viele jener Probleme wieder, die auch im Kontext des NSU diskutiert werden. Es ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sie nicht auf ein Versagen Einzelner zurückzuführen sind. Hier eine kleine Auswahl: Das aus der Verfassung abgeleitete Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten und Polizei wurde nicht ernst genommen. Das hatte Konsequenzen. Bei Besprechungen der Ermittlungskommission NaBe der Polizei war immer ein Referatsleiter des Verfassungsschutzes anwesend. Der erfuhr von einer im Februar 2001 bevorstehenden Razzia bei bekannten Rechtsradikalen, was er umgehend dem Chef des Brandenburger Verfassungsschutzes meldete. Nun prallten die unterschiedlichen Interessen beider Behörden aufeinander. Während die Polizei versuchte, die Straftaten aufzuklären, wollte der Geheimdienst seine Quelle K. für Informationen aus der rechten Szene schützen. Also unterrichtete er seinen Spitzel über das Datum der geplanten Razzia, wohl wissend, dass dieser den bei ihm als Untermieter wohnenden Gesinnungsgenossen informieren muss. Der Skandal kam erst zwei Jahre später durch die Presse ans Licht. Die parlamentarische Kontrolle versagte. Sie war nur ein Papiertiger. Paradigmatisch ist der strafrechtliche Umgang mit diesem Geheimnisverrat: Lediglich der V-Mann K. wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Bei den Beamten des Verfassungsschutzes griff eine, wie es DIE LINKE im Ausschuss charakterisierte, «organisierte Verantwortungslosigkeit». Auch ergaben die Untersuchungen weiteren Aufschluss über das Zwielichtige der Arbeit mit V-Personen, unabhängig ob beim Verfassungsschutz oder der Polizei. Beispielsweise ermittelte die Polizei gegen eine herausgehobene Person der Blood and Honour Szene wegen des Vertriebs indizierter rechter Musik, um ihn gleichzeitig (!) als faktischen Informanten darüber zu beraten, welche Texte gerade noch straflos wären….
Gegenwärtig beschäftigt sich der UA mit dem Komplex Carsten S. alias «Piatto». Die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen. Aber drei Anmerkungen seien gestattet. Erstens. Die Informationen «Piattos» über das Trio sind zwar an die Behörden in Thüringen und Sachsen weitergegeben worden, aber nicht in einer strafprozessual verwertbaren Form. Die Quelle «Piatto» sollte geschützt werden, obwohl es auch andere Meinungen in der Behörde gab, die die vom Trio geplanten Aktionen als möglicherweise terroristisch einstuften. Zweitens. Es ergaben sich viele konkrete Anhaltspunkte dafür, dass das NSU-Netzwerk, insbesondere über die Blood and Honour Sektionen Brandenburgs und Sachsens, weit nach Brandenburg reichte. Daraus können weitere Ermittlungsansätze abgeleitet werden. Drittens. Aufschlussreich ist die Arbeit des Verfassungsschutzes mit ihrem, formal übrigens gar nicht verpflichteten, «Mitarbeiters» während seiner Haft von 1994-99. Sie ist geprägt von permanenten Rechtsbrüchen. Beispielsweise beteiligte sich der Geheimdienst an der Produktion und dem Vertrieb rechter Propagandamaterialien oder duldete deren Herstellung im Gefängnis, sorgte dafür, dass «Piatto» keiner Postkontrolle unterworfen wurde, und beteiligte sich an Manipulationen, die eine vorzeitige Entlassung aus der Haft ermöglichten. Überspitzt charakterisierte dies DIE LINKE im Ausschuss als «Gefangenenbefreiung».
Deutlich wird, der «NSU-Prozess» darf nur das Ende vom Anfang der Aufklärung sein. Einer Aufklärung, die in wirklich strukturelle Veränderungen (bspw. die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Exekutive oder eine parlamentarische Kontrolle, die diesen Namen verdient) münden muss. Das ist umso wichtiger in einer Zeit, in der der Rechtspopulismus einen ungeahnten Aufschwung nimmt und die «Biedermänner» mit den «Brandstiftern» wieder Hand in Hand gehen.
Dr. Volkmar Schöneburg ist Obmann der Linksfraktion im Brandenburger NSU-Untersuchungsausschuss und Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung.