Publikation Gesellschaftliche Alternativen - Sozialismus Ziemlich in der Bredouille

Der Kapitalismus ist gekennzeichnet von Krise und Unsicherheit – aber ist er deshalb auch ohne Zukunft? Rainer Rilling über Gestaltungsoptionen von Zukünften.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Rainer Rilling,

Erschienen

September 2018

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Kapitalismus? Er scheint doch ziemlich in der Bredouille zu stecken. Da ist die Rede von Verwerfung, Erschütterung, Krise, Unsicherheit, Chaos, und die, die sich heutzutage zur Linken rechnen, halten ihn zumeist für eine Sache ohne Zukunft, die sich deshalb dank einer großen Veränderung beseitigen ließe und müsse. Gründe dafür gibt es genug, Streit über das wer, wie, wann und zu welchem Ende ebenso.

Welche Rolle spielt überhaupt «Zukunft» im Kapitalismus? Über seine Vergangenheit wissen wir immer mehr, seine Gegenwart kritisiert die Linke ausführlich und zuweilen erfolgreich, aber was ist mit seiner Zukunft? Mag sein, dass dereinst damit Schluss ist – oder doch nicht? Ist er tatsächlich nicht (mehr) «zukunftsfähig» – oder jedenfalls immer weniger? Stehen nicht die tiefe Krise dafür, die vor knapp einem Jahrzehnt einsetzte, die rapide soziale Erosion, der unsägliche Ressourcenverschleiß, die politische Verunsicherung, Verrohung und Gewalt?

Zukunft neu

Erinnern wir uns kurz an die Anfänge des Kapitalismus. Mit der bürgerlichen Moderne sind damals neue Zeitverhältnisse entstanden, welche die bis dahin gültige Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umwälzten. Sie änderte die alte Welt und dabei auch ihre Zeit. Aus dem unentrinnbar und schicksalhaft vorbestimmten, religiösen Adventus (das, was naht) wurde das Futurum (das was wird, future). Der Zukunftsbegriff drehte sich vom Passiven ins Aktive. Zukunft kommt nicht, sie wird gemacht – das war das neue Zeitverständnis. Aus «der Zukunft» wurden erstmals «die Zukünfte». Und offenbar begannen die Akteure der neuen Gesellschaft, sich rastlos solche Zukünfte (und ihre unendlich vielen Varianten, Abkömmlinge und Konkurrenten) vorzustellen und sie bei ihren Entscheidungen und Handlungen zu berücksichtigen.

Vor gut einem Jahrzehnt erinnerte die progressive britische Zukunftsforscherin Barbara Adams an diese Grundideen der Vertreter der neuen bürgerlich-kapitalistischen Ordnung: «Es ist unsere Sache, die Zukunft zu machen, zu gestalten und auszubeuten.» Das «Zukunftskapital» trat auf. Die auf Gewinn sich ausrichtende Operation mit und auf Zukunft wurde zum Kern der inneren ökonomischen Durchsetzungs-, Bewegungs- und Expansionslogik eines Kapitalismus, der Kapital akkumuliert, Arbeitszeit zum Maß der Ware Arbeitskraft und deren Disziplinierung macht, Zeit verdichtet, mit Krediten operiert, die Modi der Beschleunigung etabliert und vieles mehr. Zukunftszeit wurde Vermehrungszeit. Mehr noch: Es entstanden kapitalistische Zukunftsgesellschaften. Wie keine andere haben sie den Zugriff auf Zukünfte in ihre eigene ökonomische Operationsweise, ihre Handlungsmuster, Kultur, Reflexion und Politik eingebaut. Sie entfalten Zukünfte und schließen sie zugleich aus. Fortschrittsideen und Zukunftsvertrauen etablierten sich, aber auch das Misstrauen und die Furcht vor Zukünften, die jetzt eben von Menschen gemachte Strafe oder Pein, Unglück oder Unfall, Risiken oder Katastrophen bringen könnten. Die nunmehr kapitalistische Form der Zukunft war also widersprüchlich und janusköpfig.

Unter den vielen Antworten darauf waren die zentralen Ideen der Aufsprengung des Kontinuums der Geschichte und der anderen «neuen Zeit, die mit uns geht», eines postkapitalistischen Sozialismus, der über Jahrzehnte eine konkurrierende Zukunftsfähigkeit etablierte. Auch wenn es also keineswegs nur bei einem Vorschein einer alternativen Zukunft blieb, scheint seit Jahrzehnten die Zeitsouveränität (die Zukünfte eingeschlossen) des Kapitalismus wieder restauriert und dominant. Wie das?

Die Pointe der Zukunftspolitik

Was geschieht, wenn es im Heute des Alltagslebens geradezu immer und überall zu unendlich vielen Zukünften Imaginationen oder Einsichten gibt, Menschen Wege oder Szenarien konstruieren, berechnen, modellieren oder erzählen, fiktive Belletristik oder gleich Science-Fiction lesen und schreiben, Bilder, Visionen oder Utopien entwerfen (oder sie aktiv verwerfen), sich Betrug und Täuschungen ausdenken, Erwartungen, Kritiken, Absichten, Hoffnungen oder Befürchtungen formulieren, planen, träumen, wünschen, spielen, symbolisieren, erfahren oder verkörpern, was sie als Zukunft ansehen?

Durch solche Praxen, ihre Benennung und Deutung werden Zukünfte gefasst und damit vergegenwärtigt. Der Soziologe Niklas Luhmann unterschied handlich «die gegenwärtige Zukunft, die noch nicht aktuell» ist (also das, was heute, im Jetzt und der Gegenwart als Zukunft gilt und als solche imaginiert, vorgestellt und benannt wird) von «künftigen Gegenwarten» (also das, was morgen oder übermorgen tatsächlich gegenwärtig ist). Er hielt ebenso dezidiert fest: «Die Zukunft ist und bleibt unbekannt, denn mit jeder eintretenden Gegenwart schiebt sie sich hinaus, erneuert sich als Zukunft.» Deshalb ist ein Zusammenfall der imaginierten «gegenwärtigen Zukunft» mit der dereinst dann existierenden «künftigen Gegenwart» eine unbestimmte Möglichkeit. Daher die Rede von der «offenen» Zukunft und der ständig neuen basalen Ungewissheit und Unsicherheit, die mit ihr verknüpft sei. Wir können Zukünfte nicht vorauskennen, aber kommen nicht umhin, ständig neue Imaginationen und Vorstellungen zu generieren, Gewissheiten zu erdenken und Narrative neuer, alternativer Zukünfte zu konstruieren, die sich zu ideellen und materiellen Objekten und Interaktionen verdichten. Es sind diese Präsenzen im Gegenwärtigen von etwas, was nicht geschehen ist oder womöglich niemals geschehen wird, die solche vorgestellten, erhofften und imaginierten Zukünfte als Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit gleichsam in die Gegenwart hineinziehen und zum Objekt und Motiv von aktuellen Entscheidungen, Handlungen oder Handlungsunterlassungen transformieren. Das ist die eigentliche politische Kunst auch für die Linke im Kampf um die Machtverteilung bei der Verknüpfung von aktueller und zukünftiger Gegenwart, der «Beziehung zwischen unserem Endziel und dem alltäglichen Kampfe» (so Rosa Luxemburg 1898).

Es gilt, die Differenz zwischen den dereinst dann eingetretenen «künftigen Gegenwarten» und den «gegenwärtigen Zukünften» möglichst gering zu halten, denn jede »gegenwärtige Zukunft« wird zwischen einem Hier und Jetzt und einem Dann und Dort aufgehoben und eine neue wird generiert, deren Qualität unbestimmt ist, die aber vergangene Zukünfte aufnehmen kann. Es geht also erstens darum, wer welchen «Zeitabdruck» einer gegenwärtigen Zukunft in den zukünftigen Gegenwarten hinterlässt. Und es gilt zweitens, in der Gegenwart Entscheidungen über zukunftsbezogene Vorstellungen, Imaginationen, Erzählungen und Handlungen zu fällen, mit denen (unter Einsatz welcher Methoden auch immer) Erwartungen geweckt und Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Sicherheit, Akzeptanz, Zustimmung und letztlich Sicherheit für ein Eintreten eben dieser besonderen zukünftigen Gegenwart generiert werden können – obwohl doch diese unbestimmt und nicht abzusehen ist. Das ist die Pointe der Zukunftspolitik. Zu ihr gehören übrigens auch die Dauerversprechungen des üblichen einschläfernden und notorisch optimistischen Zukunftstalks des etablierten Politikbetriebs. Dafür ist der über 80malige monotone Einsatz des Wortes «Zukunft» im letzten Koalitionsvertrag vom März 2018 ein aktuelles Beispiel. Derlei ständige Hoffnungs- und Wellnessversprechen galten schon im Jahre 1625 einem Francis Bacon als «eines der besten Gegenmittel gegen das Gift der Unzufriedenheit». Angesichts solcher öden, verschlissenen und einschläfernden Nutzungen des Begriffs «Zukunft» bleibt ein anderes Verständnis festzuhalten, wie ein Blick auf das Feld der zukunftspolitischen Strategien der entscheidenden Akteure zeigt: um gegenwärtige Zukünfte, ihren «Zeitabdruck» und Zukunft als einen kritischen, transformativen und politischen Begriff wird gekämpft, immer.

«Wir machen und nehmen Zukünfte»

Der Ausgangspunkt solcher Kämpfe ist einfach. Gegenwartszukünfte zu machen bedeutet auch, sie anderen zu nehmen, wie Barbara Adam formuliert: «Wir machen und nehmen Zukünfte» – zum Beispiel die der Ausgebeuteten, extrem Armen, Obdachlosen, Undokumentierten, Gefängnisinsassen, elendiglich Geflüchteten. Hier präfiguriert, gestaltet und erodiert jedes wirkungsstarke und hegemoniale Zukunft-Machen den Zukunftsmodus der Nachfolgenden. Krisen, Armut, Not und Austerität pressen deren Zeit zusammen auf das Nötigste: Das Überleben in den Nöten der Gegenwart. Insoweit lässt sie keine Zeit für die Attraktivität der Zukunft, ein besseres Leben und die Erzählungen dazu. Austerität ist ein ununterbrochener Angriff auf die Zukunft der Armen. Die Verkoppelung von Zeitnot und Zukunftsarmut garantiert vielleicht am effektivsten, dass keine anderen, linken Zeiten kommen. Wer jetzt und zuvor Ohnmacht erfährt, sieht oft auch Zukunft als unabwendbar festgeschriebenes Schicksal. Wer dagegen Macht hat, setzt auf ihre Gestaltung. Und diese hat ihr Zentrum in der kapitalistischen Wirtschaft, die es vermocht hat, ihre Erzeugung eines borniert-einsinnigen und vor allem privaten Zukunftsraums end- und rastloser Kapitalakkumulation und ihrer Maximen global zu verallgemeinern, sie als hochgradig autoritative und zentrale Notwendigkeit zu inszenieren und zugleich Alternativen zu verhindern oder zu assimilieren.

Vermehrungszeit

In der Absicht, zu einem späteren Zeitpunkt (also in der Zukunft) mehr Geld zu erhalten, werden Anlagen und die Erfindung Kredit verfügbar gemacht, um in der Gegenwart Investitionen zu ermöglichen und in den Marktkonkurrenzen zu bestehen. Zwischen der Entstehung und der Realisation von Wert existiert eine krediterheischende Zeitlücke; und das fixe Kapital (Transport, Energie, Gebäude, Arbeitsmittel etc.) hat eine zeitliche Bindung, die weit in die Zukunft reicht. Mit der Aussicht auf Profite in der Zukunft wird jetzt kalkuliert, erzählt, geglaubt, investiert, kommodifiziert, finanzialisiert und kolonisiert. Vermögen werden aufgehäuft, um Unsicherheit abzubauen und zukünftig allgemeine Ansprüche realisieren zu können, Termingeschäfte werden auf Zukunftsmärkten gehandelt, Kredite werden aufgenommen und «später» als Schulden abgezahlt – oder auch nicht. Dieser Zwang zu globalisierten Wetten auf die Zukunft, in der die Gläubiger/Schuldnerbeziehung sich längst zu einem sozialen Schlüsselkonflikt ausgeweitet hat, ist in der aktuellen Zeit des Finanzmarktkapitalismus ständiger Motor einer Verwandlung eigener Risiken in die Gefährdungen von allen anderen geworden. Wo liegen die gegenwärtigen Schwerpunkte der Zukunftspolitik? Als erstes herausragendes Massiv der gegenwärtigen Zukunftspolitik, das sich zu einem globalen machtstrategischen Projekt und hegemonialen Dispositiv verdichtet hat, kann der Aufbau eines komplexen Arrangements aus Energiewende, Industrie 4.0, Big Data, digitaler Gesellschaft, smarten Räumen und digitaler Dominanz gelten, in dem sich Investitionen und Innovationen zum disruptiven Umbau der informationell-industriellen Gestalt des gegenwärtigen Kapitalismus verknüpfen – in Erwartungen zukünftiger Gewinne, versteht sich. Begleitet wird dies alles durch einen pausenlosen rosigen Zauber an Bildern, Wörtern und Daten, die Vorauswissen vorspiegeln und Sicherheit, Wohlstand, Macht und Glück versprechen – recht gleichgültig, ob es sich bei diesen Erzählungen um Wirtschaftsprognosen, Börsennachrichten, Ratgeber, Biografien großartiger Milliardäre, Expertenrunden oder die neuesten Big-Data-Statistiken handelt.

Befestigungen: Politik

Jenseits davon befindet sich im individuellen Alltag ebenso wie im Agieren mächtiger Staatsapparate und gesellschaftlicher Institutionen ein ganzes Bündel sozialer Praxen, die nachhaltig starke Engagements auf Zukunft hin verkörpern. Dem gebräuchlichen Modus der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gilt Zukunft als «Verlängerung» einer uns vertrauten Gegenwart und einer geronnenen Vergangenheit. Hier wird Zukunft dadurch «gemacht», dass eine vergangene Verteilung von Ereignissen und Beziehungen gefasst, ermittelt, bewertet und auf die Strukturierung von Zukunft «angewandt» wird. Gesellschaftspolitisch lag dieser äußerst folgenreiche Gedanke dem klassischen Verfahren der Versicherung zugrunde, das seit dem 17. Jahrhundert entwickelt wurde. Hier wird das Vorkommen bestimmter Schadensereignisse (Unfälle, Krankheiten, Alter, Feuer etc.) in einer Population im Laufe einer bestimmten Zeit ermittelt und es wird die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens in der Zukunft bestimmt. Sie werden so in handhabbare Risiken verwandelt, deren Auftreten in der Zukunft auf bestimmte Weise vorhersagbar ist und im Heute wirksame Vorsorgeregelungen plausibel macht. Einen bestandsfähigen Unterschied zu machen zwischen Ereignissen, die es nicht oder nur sehr unwahrscheinlich geben wird, und solchen, die es recht wahrscheinlich geben würde, schien also ein praktikables Verfahren zu sein, um Momente einer Zukunftskontrolle aufzubauen und eine plausible Bresche in die Unsicherheit des Zukünftigen zu schlagen. Gesundheit und soziale Sicherheit sind die klassischen Felder des kapitalistischen Versicherungs- und Sozialstaats und der mittlerweile riesigen privaten Versicherungskonzerne, auf denen historisch diese Politiken der Zukunftskontrolle aufgebaut wurden. Möglich, wahrscheinlich und plausibel sind die Schlüsselbegriffe, mit denen bei Versuchen, auf Zukünfte Einfluss zu nehmen, operiert wird.

Nicht nur die Politik der Vorsorge gilt als Verfahren zur vorgreifenden Beeinflussung von Sachverhalten und Entwicklungen, bevor sie unumkehrbar werden (Krankheits- und Altersvorsorge, Umweltschutz, Familien- oder Bildungsförderung). Zur selben Gruppe handlungsstarker Bearbeitung von Gegenwartszukünften gehören die Doktrinen der Prävention oder Präemption (Vorbeugen, Verhüten), die vor allem auf dem expandierenden Feld der Sicherheits- und Militärpolitik das Eintreten einer Zukunft gleich ganz verhindern sollen. Und schließlich Vorbereitung (preparedness) und Resilienz (Anpassung), die auf die negativen Folgen einer Zukunft einstellen sollen, deren Eintreten nicht verhindert werden konnte. Vorsorgen, Vorbeugen, Verhindern, Vorbereiten und Anpassung sind große individuelle und soziokulturelle zeitpolitische Handlungsmuster und zugleich öffentliche und private Branchen kapitalistischer Zukunftsbefähigung, die gewinn- und machtbringende Breschen in die Unsicherheiten der jeweiligen Zukünfte schlagen sollen.

Fragt man nach den aktuellen Trägern und Akteursmächten dieser Zukunftspfade, dann wird deutlich, dass sich hier seit über vier Jahrzehnten als dystopische politische Zielgröße dieser doppelten Konstruktion von Angst und Zuversicht ein zulasten der tradierten Sozialstaatspolitiken konstant expandierender Sicherheits- und Präventivstaat als ein zweites globales machtstrategischen Projekt und hegemonialen Dispositiv profiliert. Die strategischen Zukunftsorientierungen der Politik werden immer ausgreifender um die Achse der «Sicherheit» organisiert. Geradezu explosionsartig an Bedeutung gewinnen in diesem Kontext die Methoden des Vorhersagens (prediction) oder der Vorausschau (foresight, Prognosen). Sie zielen auf Selbstoptimierung oder den Aufbau von übergreifenden Rating- oder Scoring-Systemen, die eine Steuerung der Gesellschaft ermöglichen sollen und unter anderem auf statistischen Algorithmen beruhen. Derlei mittlerweile supercomputergestützte, quantitativ validierte und sozial weitreichende Beurteilungs- und Bewertungspraxen sollen zukünftige Verhaltensmuster durchsetzen – gleichgültig, ob es dabei um Zugänge zu Versicherungsleistungen, Kreditwürdigkeit, Beurteilung durch Bewährungsausschüsse von Gefängnissen, um die Zulassung zu Bildung und Wissenschaftseinrichtungen, um Universitätszulassungen, um Mieter- oder Kundenprofile, um den Kauf von Immobilien, das zu erwartende Verhalten von Spitzenpolitiker*innen oder konkurrienden Elitengruppen, um Verbrechensbekämpfung oder um das weite Feld der softwaregestützten «vorhersagenden Polizeiarbeit» (predictive policing) geht.

Poesie: Zukunft anders

Nicht die Reichweite, aber die Prägekraft und Stabilität der großen kulturellen Leitbilder der kapitalistischen Zukunftsversprechen sind im Laufe des letzten halben Jahrhunderts deutlich erodiert. Im letzten Jahrzehnt haben ökonomische Krisenerfahrung, der rapide Zusammenbruch der sozialdemokratisch-liberalen Ordnungsmuster und der Aufstieg gewaltförmiger Politik von rechts diese Destabilisierung beschleunigt. Nationalistisch-völkische und faschistische Narrative werden reaktualisiert. Die Zeit seit den 1980er Jahren hat von Tschernobyl bis Trump ein halbes Dutzend Großereignisse gebracht, die desaströse und katastrophale Effekte hatten und in kurzer Zeit als bedeutende historische Einschnitte klassifiziert wurden. In den damals verbreiteten Zukünften waren sie nicht vorgekommen oder tauchten bestenfalls als äußerst entfernte Möglichkeiten oder «schwarze Schwäne» auf, ohne Plausibilität und Überzeugungskraft. Die Finanzkrise 2008ff. entwertete und zerstörte millionenfach die imaginierten künftigen Gegenwarten der Zeit. Die neuen überwiegenden kulturellen Zukunftspfade, die aus diesen Erfahrungen und Möglichkeiten entstanden sind, operieren daher gehäuft mit Mega-Trendbrüchen und Disruptionen in der Wirtschaft oder mit kulturellen Dystopien und politisch regressiven Retrokulturen von rechts. Die Grundmuster und -maxime des «Zukunft machen, gestalten und ausbeuten» jedoch aber bleiben wie etwa:

  • Unternehmen investieren, weil sie mit Renditen rechnen: In einer «Vision 2020+» imaginierte etwa der Vorstandsvorsitzende des 95 Milliarden Euro schweren Siemens-Konzerns Joe Kaeser die rosafarbene Zukunftserzählung einer neuen digitalen Welt, in der Siemens als «ein internationaler digitaler Industriegigant des 21. Jahrhunderts» mit seinen «Traumrenditen» es «mit den Googles dieser Welt aufnehmen» werde (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.8.2018). Oder da präsentiert nach den Versicherungskonzernen Allianz oder Zurich zur selben Zeit nun auch Munich Re die Erzählung von der «Sorge vor den Auswirkungen des Klimawandels», die den Konzern zu einer neuen Strategie in der Zukunft treibe: «Künftig will der Münchner Konzern die eigene Klimastrategie an das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens knüpfen.»(FAZ vom 5.8.2018) Und der Marktführer für Agrarversicherung, die Vereinigte Hagelversicherung aus Gießen, der bislang gerade einmal 500 Hektar Agrarfläche gegen Trockenheit gedeckt hat, rechnet nach dem diesjährigen «zweiten Jahrhundertsommer» für die Zukunft mit einer großen Nachfrage nach Versicherung gegen Dürreschäden. (FAZ vom 7.8.2018)
  • Einkommensstarke Konsumenten zeigen mehr denn je eine hohe «Anschaffungsneigung», da sie sich für ihre Zukunft eine finanzierbare Befriedigung ihrer Wünsche durch attraktive Waren mit hohen Symbolwerten und ständiger Erneuerung ausrechnen.
  • Dass die Banken hierzulande an Unternehmen und Selbstständige im ersten Quartal 2018 «das beste Ergebnis seit fast 20 Jahren erzielt» haben (DB Research), setzt natürlich voraus, dass sie unverändert eine verzinste Rückzahlung ihrer Kredite in der Zukunft erwarten und die Kreditnehmer imstande sind, in einer zukünftigen Gegenwart diese Zahlungen entrichten können – und das Geldsystem stabil bleibt.

Natürlich ließen sich diese Stichworte mühelos verlängern – doch sie alle sind durchzogen von den Konflikten, Kämpfen und Interessen, deren Konstellationen ihre aktuelle Gegenwart und vergangene Geschichte haben. Wer den Kapitalismus, kritisieren, reformieren oder radikal transformieren will, muss sich offenbar damit auseinandersetzen, dass dieser erstmals und immer noch eine Zukunftsgesellschaft ist. Zur ersten großen kapitalistischen Methode der Erschließung der Zukünfte, dem Operieren mit wahrscheinlichen und plausiblen Zukünften ist dabei längst eine zweite Methode getreten: Sich durch vielfältiges Handeln auf multiple mögliche Zukünfte einzustellen. Das aber öffnet auch und immer neu Räume für Möglichkeiten, eben nicht nur im Kapitalismus, sondern auch über ihn hinaus.

«Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.» (Marx) Das meint auch eine gegenwärtige Poesie des Sozialismus, in dem die zahllosen Zukünfte des Kapitalismus vergangen sind und allein eine «bewegliche Gesellschaft» bleibt, «die fähig wäre, sich zu besinnen und sich aus sich selbst zu reißen», damit «das schier Unlösbare wieder seine einfache Lösung fände». (Volker Braun)
 

Rainer Rilling ist Senior Fellow und Mitglied des Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie außerplanmäßiger Professor am Fachbereich Soziologe der Universität Marburg

Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin