Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - International / Transnational - Migration / Flucht - Amerikas - USA / Kanada - Mexiko / Mittelamerika / Kuba Mittelamerika auf der Flucht

Eine soziale Bewegung gegen Migrationskontrolle?

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Kathrin Zeiske,

Erschienen

November 2018

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Mexiko, November 2018: Karawane von Flüchtenden aus Mittelamerika
Die Karawane von Migrant*innen aus Mittelamerika auf dem Weg in die USA (nördlich von Mexiko-Stadt, November 2018) Quelle: desinformemonos.org

Mitte Oktober 2018 machte sich eine erste Flüchtlingskarawane aus Honduras auf den Weg nach Norden. Mittlerweile durchqueren 17 000 Personen aus Mittelamerika Mexiko, um in die USA zu gelangen. Es sind spontane dynamische Zusammenschlüsse von Menschen, die eins gemeinsam haben: Den Entschluss, für sich und ihre Kinder, ein Leben jenseits von Gewalt und Armut zu suchen. Unterstützt werden sie dabei von Jenen, die seit jeher den Weg der klandestin Richtung Norden Reisenden begleiten. Instrumentalisiert werden die Karawanen unterdessen von politischen Akteuren. Auch wenn sie die regionale Migrationskontrolle zunächst auf die Probe stellen, könnten sie vor Jahresende zur Schaffung eines neuen Bollwerks gegen Geflüchtete beitragen.

Von Kathrin Zeiske, Mexiko Stadt und Ciudad Juárez
 

Ein paar Tausend Männer, Frauen und Kinder haben sich Mitte Oktober von Honduras aus auf den Weg in die USA gemacht. Sie haben das Nachbarland Guatemala durchquert, die mexika­nische Hauptstadt erreicht und befinden sich jetzt, Mitte November, in Guadalajara, um die weitere Route in einer Groß- oder verschiedener Kleingruppen zu entscheiden. Je nachdem, welchen Ort an der Grenze zu den USA die Migrant*innen anstreben, haben sie noch rund 1000 bis 3000 Kilometer Wegstrecke vor sich. Während die Grenzstädte an der Golfküste am Schnellsten zu erreichen sind, ist diese Route aufgrund der Präsenz von «Golfkartell» und «Zetas» die Gefährlichste für Migrant*innen. In der texanischen Grenzstadt El Paso, auf der Mitte des Kontinents, befinden sich die konservativsten Asylrichter der USA. In Tijuana, das am Weitesten entfernt ist, haben die Migrant*innen die besten Unterstützungsstrukturen und das liberale Kalifornien auf der anderen Seite. Deshalb wird ein Großteil der Karawane wohl dort hinziehen.

Der Erfolg der ersten Karawane machte in Presse und sozialen Medien von sich reden. Weitere Karawanen aus Honduras und El Salvador folgen ihrem Beispiel. Eine Bewegung ist ins Rollen gekommen. Zahlenmäßig dürften die Karawanen die alltäglich individuelle klandestine Migration und Flucht aus Mittelamerika Richtung Norden nicht übertreffen. Der Unterschied: nun sind die Menschen öffentlich sichtbar und organisiert auf Reisen und hoffen damit, sich sämtliche Lebensgefahren sowie die rund 10 000 Dollar zu ersparen, die es braucht, um Mexiko und die Grenze zu den USA mittels professioneller Fluchthelfer zu überwinden.

Regionales Aufschrecken oder die Suche nach Aufwieglern

US-Präsident Donald Trump hatte zunächst erfolglos gedroht, Honduras den Geldhahn abzudrehen, wenn die Karawane nicht gestoppt würde. Der honduranische Präsident Juan Orlando Hernández schickte bezahlte Anhänger seiner Nationalen Partei (PN) hinterher, um diese anschließend erfolgreich zurückbeordern zu können. Gleichzeitig startete die PN eine Verleumdungskampagne gegen die linke Oppositionspartei LIBRE. Diese stachele die Honduraner*innen auf, ihr unter der Regierung Juan Orlando Hernández prosperierendes Land zu verlassen. Im Fadenkreuz stand dabei vor allem der honduranische Aktivist, Journalist und Politiker Bartolo Fuentes, der am ursprünglichen Aufruf zum geschlossenen Aufbruch nach Norden in der honduranischen Industriemetropole San Pedro Sula beteiligt war. Der Zeitpunkt war gut gewählt: Vom 2. bis 4. November fand in Mexiko das Soziale Migrationsforum statt; gleichzeitig bereitet sich das Land auf einen Regierungswechsel vor, der vor allen Dingen linke Aktivist*innen und marginalisierte Bevölkerungsschichten mit Hoffnung erfüllt.

Doch dieser Aufruf, dem zunächst ein paar hundert Menschen folgten, entwickelte sich vom Schneeball zur Lawine angesichts der verzweifelten Situation, in der sich unzählige Familien im Land befinden: Ein Leben in Misere, Gewalt und totaler Resignation. In Honduras ist der Wunsch nach Auswanderung als Ausweg aus der Not allgegenwärtig und wird als solcher selten in Frage gestellt. Lediglich das Wann, ob morgen oder doch in ein paar Monaten, und das Wie sind variabel. Welche Familienangehörigen in den USA können helfen? Welche Schulkinder sollen zunächst bei den Großeltern bleiben? Welche Kleinkinder werden mitgenommen? Was kann verkauft werden? Wer kann etwas leihen, um die Reise und den Schleuser zu bezahlen? Welcher Verwandter hat schon einen Reiseplan, dem man sich anschließen kann? All das sind Fragen, die gestellt werden. Oftmals ist dann aber eine direkte Morddrohung oder ein Rekrutierungsversuch der Jugendbanden, die in den Armenvierteln Mittelamerikas ein Parallelregime etabliert haben, der entscheidende Auslöser für den Aufbruch.

Aufspaltung der Karawanen in Mexiko

Die Karawane wuchs mit einer Wucht an, die niemand erwartet hatte und niemand mehr kontrollieren konnte. Tausende erreichten in ersten Wellen die mexikanische Grenze. Für US-Präsident Trump und die von ihm ausgerufene «Zero Tolerance»-Einwanderungspolitik zahlte sich zunächst die vorgelagerte Migrationskontrolle in Mexiko aus. Dessen Präsident Enrique Peña Nieto schickte Migrations- und Bundespolizei, um die Einreise der Karawane zu verhindern. Auf der Grenzbrücke ging die Polizei gewaltsam gegen rund 4000 Einwanderungswillige vor. 1700 Personen wurden unter falschen Versprechungen auf Asyl von der Karawane getrennt und inhaftiert.

Die restliche Karawane erreichte den mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, nachdem sie eine nächtliche Attacke der Bundespolizei über sich ergehen lassen musste, und nahm Kurs auf Mexiko Stadt. Währenddessen sorgte eine zweite Karawane für Schlagzeilen, als eine Vorhut junger Männer versuchte, gewaltsam eine Grenzbrücke zu Mexiko zu stürmen. Einer wurde von der mexikanischen Polizei erschossen. Die Gruppe wurde später auf einer Vollversammlung von begleitenden Organisationen und Aktivist*innen gebeten, die Karawane zu verlassen, um das geschlossene aber friedliche Vorgehen der sich vor allem aus Kleinfamilien zusammensetzenden Karawanen nicht zu gefährden.

Mexiko als vertikale Grenze

Mexiko hat sich auf Druck der USA hin in den letzten vier Dekaden zu einem Bollwerk gegen Migration in den Norden entwickelt. Die US-amerikanische Regierung hat seit den 1990er Jahren Gelder an Mexiko gezahlt, um ein engmaschiges Kontrollnetz gegen Migration auszubauen. Rund zwei Drittel aller Festnahmen und Abschiebungen nach Mittelamerika werden in Mexiko weitab vor der US-amerikanischen Grenze gemacht. An der Südgrenze Mexikos befindet sich das größte Abschiebegefängnis Lateinamerikas. Ab 2001 wurde die Militarisierung Südmexikos unter dem «Plan Sur» vorangetrieben und unter der aktuellen  Regierung mit dem «Programa Frontera Sur» weiterverfolgt. Reisende ohne Papiere nutzen Güterzüge, um Kontrollen von Militär und Polizeieinheiten auf den Landstraßen zu umgehen.

Selbstorganisation von Migranten und Geflüchteten mithilfe von Herbergen und Suppenküchen in Mexiko

In den letzten Jahren haben sich immer wieder Menschen aus Mittelamerika in Karawanen zusammengetan, um sich auf dem Weg durch Mexiko gegenseitig Schutz zu geben. Die meisten sind von Herbergen an der guatemaltekisch-mexikanischen Grenze losgezogen, den südlichsten Punkten eines Netzwerkes solidarischer, zivilgesellschaftlicher und in ihrer großen Mehrheit kirchennahen Herbergen und Suppenküchen. Diese bieten den Menschen nicht nur einen Ort, an dem sie sich ausruhen und neue Kräfte sammeln können und sicher sind vor Überfällen, Entführungen und Abschiebungen. Sie nehmen ihnen auch ihre Vereinzelung und lassen sich als Teil einer Fluchtbewegung vor unerträglichen Lebensbedingungen begreifen. Ein ermächtigendes Element ist auch die Wissensaneignung um Asyl- und Menschenrechte sowie eine Ansprache auf Augenhöhe und die Wahrnehmung der Geflüchteten als Subjekte ihres Handelns; als Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand genommen haben, um ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können. In den Herbergen gibt es keine Diskriminierung aufgrund von Religionszugehörigkeit (große Teile der marginalisierten mittelamerikanischen Bevölkerung gehören evangelikalen Sekten an, während viele Herbergsväter katholische Ordensbrüder oder Gemeindepfarrer sind und sich an der Theologie der Befreiung orientieren) oder ehemaliger Bandenzugehörigkeit. Wer die Regeln eines respektvollen Zusammenlebens einhält, ist willkommen.

Doch auch die Karawanen selbst werden zu Orten politischer Mobilisierung und Bildung. Entscheidungen über den weiteren Weg werden in Vollversammlungen diskutiert und basisdemokratisch entschieden. Die Infrastruktur wird von logistischen Arbeitsgruppen mit Repräsentanten organisiert. Natürlich kommt es aufgrund der allgemeinen Anspannung und Ungewissheit auch immer wieder zu offenen Konflikten.

Kettenrasseln an der US-amerikanischen Grenze

Während die ersten Migrant*innen Tijuana erreicht haben, droht US-Präsident Trump weiterhin, dass es keinen Einlass geben wird. Zunächst streute er das Gerücht von «Personen aus dem Nahen Osten», die sich unter die Karawane gemischt hätten, um 5200 Soldaten an die schon seit dem Frühling durch die Nationalgarde militarisierte Grenze zu Mexiko zu schicken. Auch der Midterm-Wahlkampf wurde von einem xenophoben Diskurs bestimmt. Währenddessen bereitet sich die Bürgermiliz «Minutemen» in Texas mit der Aufstockung ihrer bewaffneten Gruppen durch weitere Freiwillige vor. Die Grenzbrücken nach Mexiko werden derzeit von schwer bewaffneten Angehörigen der US-Border Patrol gesichert. Asylsuchende werden schon jetzt nicht mehr ins Land gelassen und zeitweise wird der Grenzverkehr in Vorbereitung kommender Szenarien vollkommen gestoppt. Trump kündigte an, dass auf «Steineschmeißende» scharf geschossen würde.

Militarisierung der US-amerikanischen Grenzpolitik

Trumps «Zero Tolerance»-Einwanderungspolitik machte im Sommer weltweit Schlagzeilen mit der Trennung von Babies, Kindern und Jugendlichen von ihren Familien durch die US-Border Patrol. Laut Amnesty International soll mindestens 8000 Familien dieses Schicksal widerfahren sein. Nichtregierungsorganisationen prangern an, dass diese Praxis weitergeführt wird. Unweit der texanischen Grenzstadt El Paso werden weiterhin 1200 Minderjährige aus Mittelamerika in einer Zeltstadt gefangen gehalten. Eine Trennung von Familien wurde allerdings schon unter Obama durch die Migrationspolizei ICE in US-amerikanischen Städten vollzogen, die Menschen ohne Papiere zuhause und bei der Arbeit aufspürt.

Mexiko soll sicheres Drittland werden

Im Vorfeld des am 1. Dezember 2018 stattfindenden Regierungswechsels in Mexiko gibt es dort im Moment kein massives Vorgehen mehr gegen die Karawanen. Nichtregierungsorganisationen gehen davon aus, dass Trump den Amtsantritt des künftigen mexikanischen Präsident Andrés Manuel López Obrador abwartet, um diesen zur Unterzeichnung von Abkommen zu verpflichten, die Mexiko zum sicheren Drittland erklären. Damit wird es an Mexiko liegen, die Fluchtbewegung aus dem Süden aufzufangen. Auch auf der mexikanischen Seite der Grenze zu den USA bereiten sich nun zivilgesellschaftliche Organisationen wie Regierungsinstitutionen auf das Eintreffen der Karawanen vor. Während Erstere um die Schaffung von Versorgungsstrukturen, solidarischer Netzwerke und legaler Beratung der Asylsuchenden bemüht sind, beschäftigen sich Letztere mit der Frage, wie vermieden werden kann, dass Drogenkartelle die Not der Menschen ausnutzen, um sie anzuwerben. Im Süden Mexikos konnte das Kartell der «Zetas» trotz Medienöffentlichkeit rund einhundert Menschen aus der Karawane heraus entführen, unter ihnen viele Minderjährige.

Drogenkartelle als paramilitärische Migrationskontrolle

Waren die Migranten zu Anfang des Jahrtausends leichte Beute für korrupte Beamte und Angehörige mittelamerikanischer Jugendbanden, die ihre Landsleute nach Mexiko verfolgten, so kam im Zeichen des sogenannten Drogenkrieges ab 2006 ein neues Phänomen auf. Aus einer abdrünnigen Polizeieliteeinheit bildete sich das «Kartell der Zetas». Sie finanzierten ihren Aufstieg über massenhafte Entführung und Folterung von Migrant*innen und die Erpressung von Lösegeldern über Western Union von ihren Verwandten in den USA. In den Jahren 2010 und 2011 ereigneten sich vor diesem Hintergrund die Massaker von San Fernando, Tamaulipas. Von den 1300  in den letzten elf Jahren gefundenen klandestinen Massengräbern in Mexiko dürften unzählige mit Migrant*innen gefüllt sein. Die «Zetas» schafften, was keine Migrationspolizei je schaffte: Einen zeitweiligen Einbruch der Zahlen der Transmigration durch Mexiko.