Publikation Digitaler Wandel Die Plattform-Ökonomie ist kein originärer Wachstumssektor

Nick Srnicek zu Plattform-Kapitalismus, Grundeinkommen und Industrie 4.0

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Autor*innen

Nick Srnicek, Philipp Frey,

Erschienen

November 2018

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Philipp Frey: Im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung treten vermehrt wirtschaftliche Akteure in Erscheinung, die als Plattform-Unternehmen bezeichnet werden. Was ist das Besondere an diesen neuen Wirtschaftsakteuren wie Google oder Uber?

Nick Srnicek: Plattformen verfolgen ein anderes Geschäftsmodell, als wir es aus dem traditionellen Fordismus oder sogar aus dem Postfordismus kennen. Grundsätzlich fungieren Plattformen als Vermittler zwischen verschiedenen Personengruppen. Facebook führt beispielsweise hauptsächlich Nutzer*innen und Werbetreibende aber auch Unternehmen und App-Entwickler zusammen. Uber wiederum vereint Fahrer*innen auf der einen Seite der Plattform mit Fahrgästen auf der anderen Seite der Plattform. Das Geschäft der Firmen, die Plattformen betreiben, besteht also nicht notwendigerweise darin, Waren oder Güter zu produzieren, sondern darin, den Kontakt zwischen verschiedenen Personengruppen herzustellen.

Drücken diese Plattformen aus Deiner Sicht dem globalen Kapitalismus als Ganzen ihren Stempel auf oder handelt es sich vielmehr nur um einen weiteren ökonomischen Sektor?

Ich würde nicht sagen, dass die Plattformen den zeitgenössischen Kapitalismus als Ganzen prägen, aber ihre Bedeutung wächst zunehmend. Selbstverständlich koexistieren bestehende kapitalistische Strukturen und diese Plattformen. Es lassen sich allerdings zwei Tendenzen erkennen: Zum Einen dominieren die Plattformen zunehmend strategisch wichtige Positionen innerhalb des Wirtschaftsgeschehens. Zum Anderen durchdringen Plattform-Unternehmen zunehmend auch klassischere Wirtschaftszweige. Uber ist hierfür ein gutes Beispiel: Vor 15 Jahren galt das Taxigeschäft nicht gerade als trendy und hipp – und auf einmal transformiert Uber dieses Geschäft. Plattform-Unternehmen engagieren sich neben dem Taxigeschäft auch zunehmend in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen, in Zweigen der Wirtschaft also, die nicht klassischerweise als Technologiesektoren gelten.

Deswegen halte ich es für wichtig, zu verstehen, was es mit dem Plattform-Modell auf sich hat und welche Anreizstrukturen und Dynamiken dort vorherrschen, wenn wir etwas über die Zukunft des globalen Kapitalismus im Allgemeinen lernen möchten.

Nick Srnicek, geboren 1982, ist Dozent für Internationale Politische Ökonomie an der University of London. Er hat Psychologie und Philosophie studiert und ist Autor mehrere Bücher zur Politischen Ökonomie der Digitalisierung und zu den Antworten der Linken darauf. Zuletzt erschien von ihm «PlattformKapitalismus» in der «Hamburger Edition» des Verlags des Instituts für Sozialforschung.
Mit ihm sprach Philipp Frey, der am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse forscht. Er gehört zu den Initiatoren des neugegründeten «Zentrums emanzipatorische Technikforschung». Eine gekürzte Version des Interviews erschien in OXI - Wirtschaft anders denken.

Plattform-Unternehmen erreichen zum Teil extrem hohe Marktkapitalisierungen – für wie «nachhaltig» hältst Du die Entwicklung des Plattform-Kapitalismus? Handelt es sich dabei vielleicht primär um die nächste große Spekulationsblase?

Ich meine, dass die hohe Marktkapitalisierung dieser Unternehmen primär den Wert ihrer Daten und ihrer großen Nutzerbasis wiederspiegelt. Diese Nutzerbasis ist deswegen so wichtig, da sie durch den sogenannten Netzwerkeffekt – den Umstand, dass die Nützlichkeit von Plattformen mit der Anzahl ihrer Nutzer steigt – die Attraktivität der Plattformen erhöht. Insofern handelt es sich dabei aus meiner Sicht nicht um reine Spekulation. Dennoch bleibt die Frage, welche Bedeutung die Plattformen für die weitere Entwicklung des Kapitalismus spielen können. Zu der Frage gibt es zwei polarisierte Standpunkte: aus Sicht des einen Standpunkts eignen sich die Plattformen die Daten, die im Zuge unserer Onlineaktivitäten anfallen, an und ziehen daraus einen Mehrwert. So gesehen würde auch der Mehrwert in der kapitalistischen Ökonomie im Ganzen wachsen. Ich glaube nicht, dass das tatsächlich passiert. Statt Mehrwert zu extrahieren scheinen mir diese Plattform-Unternehmen eher eine Art Rente von anderen Unternehmen einzuziehen. Ich tendiere entsprechend dazu, die Plattform-Ökonomie nicht als originären Wachstumssektor zu verstehen, der den Kapitalismus verjüngen könnte, auch wenn es hier wichtige Nuancen gibt und ich nicht denke, dass die Frage bereits final entschieden ist.

Eine ganze Reihe kritischer Stimmen verweisen auf die Rolle, welche Daten in der aktuellen Phase des digitalen Kapitalismus spielen, es werden neue Begriffe wie Datenextraktivismus oder Überwachungskapitalismus ins Spiel gebracht. Welche Rolle spielen Daten für den Plattform-Kapitalismus?

Die Metapher der Daten als dem neuen Öl hat zwar seine Schwächen, aber sie illustriert doch, dass Daten von zentraler Bedeutung für die führenden Firmen und Wirtschaftssektoren der globalen Wirtschaft sind. Der Begriff des Datenextraktivismus scheint diese besondere Bedeutung gut zu fassen – ich bin allerdings etwas skeptischer was den Begriff des Überwachungskapitalismus anbelangt. Nicht, weil der Begriff falsch wäre, sondern weil er mir einen Aspekt der gegenwärtigen Entwicklung überzubetonen scheint: Ganz zweifellos überwachen Firmen wie Facebook und Google ihre Nutzer – aber das gilt nicht im selben Maße für Amazon, Uber oder sogar Monsanto und deren Plattformen. IBM hat beispielsweise einen Dienstleister für Wettervorhersagen aufgekauft, was IBM Zugriff auf Daten zum Klimawandel und das Wetter im Allgemeinen gilt. Dabei handelt es sich jedoch offensichtlich nicht um personenbezogene Informationen. Dieses Beispiel illustriert aus meiner Sicht, dass die zunehmende Überwachung zwar ein wichtiges Moment der gegenwärtigen Entwicklung ist, sich diese aber nicht darin erschöpft.

In Deinem Buch differenzierst du verschiedene Geschäftsmodelle von Plattform-Unternehmen. Was hat es damit auf sich?

Als ich anfing mich mit den Plattformen zu befassen, frustrierte mich, dass der Begriff der Plattformen stark verallgemeinernd verwendet wurde wobei es mir einigermaßen offensichtlich schien, dass es massive Unterschiede gibt zwischen dem, was etwa Google macht und dem was beispielsweise Uber macht. Ich wollte mich also aus marxistischer Perspektive mit den Unterschieden zwischen diesen verschiedenen Plattformgeschäftsmodellen befassen – und zwar entlang der Frage wie diese Firmen Umsatz und Profit generieren. Wenn man sich den Plattformen aus dieser Perspektive nähert, dann stellt man fest, dass Facebook und Google fast ihren gesamten Umsatz durch Werbung machen. Sie sind also fast vollständig auf das Werbegeschäft angewiesen, was ihr Agieren als kapitalistische Firmen bestimmt. Uber hingegen macht seine Umsätze nicht mit Werbung sondern dadurch, dass die Plattform des Unternehmens wie eine Art schlanke Sharing-Plattform als Intermediär für Taxifahrer*innen und Kund*innen fungiert – wofür Uber über fast keine eigenen Vermögenswerte verfügen und auch keine Sozialversicherungen etc. bezahlen musste. Ich glaube nicht, dass dieses spezielle Modell auf Dauer funktioniert und wir können bereits beobachten, wie Uber sich in neue Geschäftsfelder bewegt.

Du hältst Uber‘s Geschäftsmodell also nicht für aussichtsreich?

Vor einiger Zeit hieß es ja noch, Uber sei das weltgrößte Taxiunternehmen und würde kein Taxi besitzen. Damals stimmte das vielleicht noch, aber wir können jetzt eine Umkehr beobachten: Uber kaufte letztes Jahr um die 24.000 Wagen und investiert derzeit stark in selbstfahrende Autos, was darauf hindeutet, dass die Firma bereit ist, nun auch Anlagevermögen zu bilden. Ähnliche Entwicklungen gibt es bei AirBnB, das jetzt firmeneigene Appartements anbietet und sich damit auch in Richtung des klassischeren Hotellerie Gewerbes bewegt. Das scheint mir bereits anzuzeigen, dass sie selbst anerkennen, dass das Geschäftsmodell einer schlanken Sharing-Plattform nicht auf Dauer profitabel ist. Man darf auch nicht vergessen, dass Uber 2016 drei Milliarden Dollar und 2017 viereinhalb Milliarden Dollar Verlust einfuhr – und diese Verluste scheinen weiter anzuwachsen dieses Jahr. Mit Uber soll uns also eine Firma, die innerhalb von drei Jahren zehn Milliarden Dollar verloren und eben keine Profite generiert hat, als Leuchtturm kapitalistischen Innovation präsentiert werden.

In der in Deutschland dominanten «Industrie 4.0»-Debatte nehmen Technologiekonzerne wie Siemens oder SAP eine zentrale Rolle ein. Wie würdest Du ihr Engagement interpretieren?

Ich meine, man kann eine zunehmende Teilung zwischen Plattform- und traditionelleren, nicht-Plattform-Unternehmen beobachten. So sieht man beispielsweise im Falle von Facebook und Google, dass traditionellere Medienfirmen zunehmend von den Plattformen anhängig werden um ihre Informationen an die Kund*innen zu bringen. Auch im Zuge der zunehmenden Expansion von Plattformen in andere Wirtschaftssektoren, insbesondere in die industrielle Produktion, sehen wir diese Teilung: Siemens und General Electric (GE) versuchen cloud-basierte Plattformen für hochautomatisierte industrielle Produktion zu etablieren mit dem Ziel, dass nicht jede einzelne Firma eine eigene IT-Infrastruktur für ihre automatisierte Fabrik aufbaut, sondern Firmen die cloud-basierte Steuerung ihrer Fabrik als Service von GE oder Siemens einkaufen. Damit entsteht eine interessante Polarisierung zwischen denjenigen Firmen die in ihrer Produktion etwa von Siemens oder GE abhängig sind und den traditionelleren Produzenten, die über eine eigene Infrastruktur verfügen. Siemens und GE scheinen erkannt zu haben, dass sie, wenn sie hohe Umsätze und starken Einfluss in der aus der industriellen Fertigung erzielen wollen, sich als Anbieter solcher Plattformen etablieren müssen. Ich halte das für eine bedenkliche Entwicklung, da Plattformen aufgrund ihrer grundlegenden Eigenschaft, sich Netzwerkeffekte zu Nutze zu machen, zur Monopolbildung tendieren. Ich glaube wir werden eine massive Auseinandersetzung zwischen GE und Siemens darum sehen, wer sich als Plattform-Anbieter für die Industrie durchsetzt und am Ende dieser Entwicklung könnten in einem Jahrzehnt in der industriellen Fertigung die selben Probleme stehen, die wir heutzutage bei Facebook und Google und den klassischen Medienfirmen beobachten können.

Welche Herausforderungen stellt der Plattform-Kapitalismus aus Deiner Sicht an linke Politik?

Ich denke wir werden uns mehr Kenntnisse über die Technologien, die derzeit entwickelt und implementiert werden, aneignen müssen. Ich würde sagen, dass die Linke seit einigen Jahrzehnten technologische Entwicklung instinktiv primär kritisiert hat. Und das nicht ohne guten Grund: Technologie wie wir sie heute kennen wird von kapitalistischen Unternehmen entwickelt und betrieben und nicht im Interesse der einfachen Bevölkerung oder der Arbeiter*innen – allerdings war es das traditionelle Versprechen der Linken seit Marx, dass die Technologie dazu eingesetzt werden könnte, uns vom Mangel und der (Lohn-)Arbeit zu befreien. Ich finde, wir sollten uns daran erinnern und uns wieder trauen, darüber nachzudenken, was mit diesen Technologien angestellt werden könnte, wenn sie von Arbeiter*innen statt Kapitalist*innen produziert, organisiert und kontrolliert werden würden. Um dieses allgemeine Projekt angehen zu können brauchen wir aus meiner Sicht wie gesagt technologische Kenntnisse – wir sollten aber auch Koalitionen mit Arbeiter*innen aus der Technologiebranche aufbauen. Viele Tech-Arbeiter*innen steigen in die Technologiebranche ein, weil sie die Welt zu einem besseren Ort machen möchten. Oft geht das mit einiger Naivität einher – man sollte diesen Antrieb als Linke dennoch nicht einfach verwerfen. Stattdessen sollte man insbesondere angesichts der zunehmenden Bedeutung des Technologiesektors und seiner Firmen daran anknüpfen. Denken wir beispielsweise an die Bedeutung der Streiks in der Automobilindustrie, die in den 1950er und 1960er Jahren geführt wurden. Aus meiner Sicht könnte man heute die Tech-Arbeiter*innen als zentrale Akteure im Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft verstehen.

Meinst Du das in einem quantitativen oder qualitativen Sinne? Schließlich machten die Industriearbeiter*innen einen viel größeren Anteil der Bevölkerung aus, als die Angestellten im Technologiesektor heute…

Beverly Silver hat sich mit der Frage befasst, wie Arbeiter*innen Macht aufbauen können. Eine Quelle ist dabei die Verhandlungsmacht auf Betriebsebene, die die Arbeiter*innen aufgrund ihrer spezifischen Position im Kapitalismus inne haben. Und diese Verhandlungsmacht kann relativ unabhängig sein von ihrer Zahl. Die Beschäftigten in Schlüsselbetrieben der Automobilindustrie waren dafür ein gutes Beispiel, aber ähnliches gilt heute auch für Hafenarbeiter, weil ein Streik dieser Arbeiter*innen an der amerikanischen Westküste beispielsweise die gesamte Wirtschaft der USA in Mitleidenschaft ziehen würde. Zwar gibt es nicht so viele Hafenarbeiter*innen, aber sie verfügen über einige Verhandlungsmacht. Ähnlich verhält es sich aus meiner Sicht mit den Beschäftigten in der Technologiebranche, da sie einen zentralen Ort im Wirtschaftsgeschehen inne haben und ich denke, die Linke sollte versuchen, sie von ihrer eigenen Handlungsmacht zu überzeugen und für linke Ziele zu mobilisieren.

Wie siehst Du die deutsche Ökonomie im globalen Marktgeschehen verortet und wie nimmst Du die Debatten in Deutschland wahr?

Die deutsche Wirtschaft hat insbesondere was die verarbeitende Industrie anbelangt eine strategisch wichtige Position inne, insofern können in Deutschland Weichen für die weitere Entwicklung der zukünftigen Produktionsinfrastruktur gestellt werden. Auch gibt es in Deutschland etwa innerhalb der Gewerkschaften interessante Debatten zu der Frage der Arbeitszeitverkürzungen. Nicht zuletzt kommen aus Deutschland parteiübergreifend einige Anregungen, wie man mit den Plattform-Monopolisten umgehen könnte. Allerdings affirmieren die meisten dieser Anregungen die kapitalistische Konkurrenz. Die Vorschläge, Plattformen stärker zu besteuern und zu regulieren zielen letztlich darauf ab, die Macht der digitalen Giganten zu begrenzen, um mehr Wettbewerb und Auswahl für die Konsument*innen zu ermöglichen. Im Grunde ist der Vorwurf also, dass Monopolisten nicht kapitalistisch genug seien. Die sozialistische Linke sollte sich dieser Limitation bewusst sein. Das Problem sind aus meiner Sicht nicht in erster Linie die Monopole, sondern die Ziele dieser Monopole. Das Problem ist, dass sie betrieben werden, um möglichst viel Profit zu machen – wenn sie im Interesse der Lohnabhängigen betrieben würden, dann wären sie anders zu bewerten.

Siehst Du in Europa politische Ansätze, die den Monopolisten des digitalen Kapitalismus gefährlich werden könnten?

Ich bin derzeit etwas pessimistisch gestimmt. Es gibt erste Ideen, speziell im genossenschaftlichen Sektor. Digitale Genossenschaften können eine interessante, wenn auch limitierte Alternative zu den Plattform-Unternehmen darstellen. Neben dem genossenschaftlichen Sektor gibt es auch Vorschläge, Plattformen in öffentliche Trägerschaft zu überführen, allerdings sind diese Vorschläge aus meiner Sicht noch nicht ausreichend ausgearbeitet für eine zeitnahe Implementation.

Inwiefern kann oder sollte der Referenzrahmen progressiver Politik bei der Regulation und vielleicht auch Transformation der Plattformen national bleiben?

Aus meiner Sicht gibt es brauchbare nationale Antworten auf die Herausforderungen des Plattform-Kapitalismus. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass ein Land die Einführung von Kommunikationsschnittstellen für Soziale Netzwerke vorschreibt und dann seine eigene, öffentliche Version von Facebook aufbaut. Auch wenn man sich aber nationale Antworten vorstellen kann, bleiben sie aber doch ein Stück weit unbefriedigend: einer der Vorteile der Plattformen ist es ja gerade, dass sie global sind, nationale Grenzen überschreiten und eine globale Zukunft jenseits des klassischen Nationalstaats verheißen. Angesichts dieser Versprechungen wieder zum Nationalstaat zurückzukehren ist aus meiner Sicht unbefriedigend. Auch ist der Handlungsspielraum von Nationalstaaten etwa bei der Besteuerung limitiert. Zwar gibt es Überlegungen, auf die große Mobilität der Gewinnanrechnung globaler Unternehmen damit zu reagieren, Steuern auf Umsatz oder sogar auf Basis der Nutzerzahlen in einem Land statt auf Gewinn zu erheben, aber es ist noch nicht klar, ob diese Ansätze der gegenwärtigen Herausforderung angemessen sein werden.

Was ich faszinierend fände wäre eine internationale linke Antwort auf die Plattformen, etwa wenn eine Reihe von Ländern gemeinsam ein Soziales Netzwerk entwickeln würden, das nicht nur einem einzelnen Nationalstaat und seiner Überwachung unterstehen würde und nicht mehr mit der Idee des Nationalstaates gebunden wäre. Vielleicht könnte man eine solche Plattform auf Blockchain-Technologie basieren, sodass die Plattform auch ohne einen zentralisierten Eigentümer nutzbar und in gewisser Weise dem staatlichen Zugriff entzogen wäre. Hier ließe sich aus meiner Sicht anknüpfen, um darüber nachzudenken wie eine globalisierte Plattform-Infrastruktur aussehen könnte, die die Vorteile der digitalen Monopole nutzbar macht und nicht auf den Nationalstaat als Referenzpunkt zurückfällt.

Das Buch «Die Zukunft erfinden», das Du zusammen mit Alex Williams 2015 veröffentlicht hast, kann wohl bereits als Standardwerk der zeitgenössischen Postarbeitsdebatte gelten – wie hat sich diese Debatte seit dem Erscheinen des Buches insbesondere in Großbritannien entwickelt?

Allem voran sind die Forderungen, die wir in dem Buch diskutiert haben, zum Diskussionsgegenstand im Mainstream geworden. Insbesondere gibt es jetzt im Bereich der Think Tanks eine Diskussion, in der durchdacht wird, was es bedeuten würde die Arbeitswoche zu verkürzen, wie man die Kontrolle über Technologie demokratisieren könnte und wie man die Technik im Interesse der Mehrheit, nicht der Wenigen, nutzen könnte. Außerdem würde ich sagen, dass das Ziel, mehr freie Zeit zu ermöglichen, die wir frei gestalten können – was nicht notwendigerweise heißt, Arbeit allgemein abzuschaffen – weiteren Zuspruch erfährt. Von den Anarchisten über die libertär-sozialistische Linke bis zu sozialdemokratischen Parteilinken scheint sich hier ein Konsens zu formieren.

In Eurem Buch fordert Ihr ja auch ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE). Ist die Forderung nach einem BGE hinter die Arbeitszeitdebatten zurückgetreten?

Tatsächlich bekam das BGE in den Medien aber auch in der politischen Debatte bis vor kurzem mehr Aufmerksamkeit. Ich meine allerdings, dass ein BGE schwerer durchzusetzen sein wird und dabei nicht unbedingt radikaler als Arbeitszeitverkürzungen wäre. Bei dem BGE gibt es natürlich einerseits die Finanzierungproblematik, für die es allerdings auch schon eine Reihe von plausiblen Vorschlägen gibt. Andererseits kann die Forderung nach einer Verkürzung der Arbeitswoche auch auf eine längere Vorgeschichte zurückblicken, an die man sich jetzt zunehmend erinnert. Eines der ersten Ziele der Arbeiter*innen-Bewegung war es, von einer 60 bis 70 Stundenwoche auf die 40 Stundenwoche zu gehen. Erst mit der Großen Depression bewegte sich die Arbeiter*innen-Bewegung von Arbeitszeitverkürzungen weg. Wegen dieser Vorgeschichte kann man auch recht traditionell gesinnte Gewerkschafter*innen gut mit einer solchen Forderung ansprechen und breite Bündnisse aufbauen. Nicht zuletzt stellt die Verkürzung der Arbeitswoche hin zu einem verlängerten Wochenende als Normalfall eine Antwort auf die Arbeitsverdichtungen und die damit verbundenen Momente der Überforderung im Arbeitsalltag dar.

Viele BGE-Befürworter würden argumentieren, dass das BGE eine radikalere Veränderung bedeuten würde, insofern dadurch der Zwang zur Lohnarbeit aufgehoben würde. Dagegen könnte man meinen, dass eine weitere Verkürzung der Arbeitswoche um ein paar Stunden eher eine graduelle Änderung darstelle. Warum meinst Du wäre die Einführung eines BGE nicht unbedingt radikaler als die Einführung einer Vier-Tage-Woche?

Ich meine, dass es bei der Verkürzung der Arbeitswoche derzeit nicht einfach nur um die Verkürzung des Arbeitstages um einige Zeit geht. Stattdessen geht es darum, dass die Vier-Tage-Woche an die Stelle der etablierten Fünf-Tage-Woche tritt. Den fundamentalen Unterschied zwischen der Einführung eines BGE und einer solchen Verkürzung der Arbeitswoche sehe ich darin, dass die Rücknahme eines dreitätigen Wochenendes fast unmöglich wäre. Keine Partei könnte sich erlauben, das Wochenende wieder um einen Tag zu verkürzen. Das BGE kann dagegen unter anderem durch Inflation oder die Einführung von Bedürftigkeitsprüfungen Stück für Stück erodiert werden. Sowohl das BGE als auch die Verkürzung der Arbeitszeit tragen dazu bei, die Macht der Lohnabhängigen zu stärken: die Verkürzung der Arbeitswoche verknappt das Angebot an Arbeitskraft und zwingt Unternehmen dazu, neue Mitarbeiter*innen einzustellen, weil sie nicht einfach mehr Arbeit aus der selben Person rausholen können, was die Arbeitslosigkeit verringert und den Lohnabhängigen eine bessere Verhandlungsposition bietet, was auch zu höheren Löhnen führt. Das BGE versetzt die Lohnabhängigen ebenfalls in eine bessere Verhandlungsposition, allerdings auf prekärerer Basis wegen der Inflation, die bei steigenden Preisen und einer Stagnation der BGE-Höhe diese Verhandlungsposition zu schwächen droht. Aus strategischen Gründen scheint mir also angezeigt, statt des Umbaus des Sozialstaates, den die Einführung eines BGEs voraussetzen würde, die Verkürzung der Arbeitswoche anzustreben, die eine fast so große Auswirkung haben würde und dabei schwieriger zurückzunehmen wäre.

Eine der Kritiken, die gegen das Buch vorgebracht wurden, war, dass es sich nicht ausführlich genug mit ökologischen Fragestellungen befasst – wie würdest Du Dich gegenüber linken Kritiken von Industrialismus und Promethianismus positionieren, wie sie etwa im Rahmen der Degrowth-Debatte artikuliert werden?

Die ökologische Kritik ist einer der Kritiken an dem Buch, denen ich völlig zustimme. Alex und ich wollten ursprünglich ein ganzes Kapitel des Buches dem Klimawandel widmen, mussten aber feststellen, dass das den Rahmen des Buches gesprengt hätte. Ich nehme diese Kritik also völlig an: man kann die Zukunft nicht erfinden, wenn es keine Zukunft gibt. Das ist eine fundamentale Voraussetzung davon, die Zukunft erfinden zu können.

Abgesehen davon leuchtet mir aber einige Aspekte der Degrowth-Debatte nicht ein. Zum Einen weil oft unklar ist, was genau mit Wachstum gemeint ist. Natürlich ist das BIP ein schreckliches Maß für Wachstum, zu dem wir alternative Bewertungsmasstäbe entwickeln müssen. Ich meine aber, dass es eine Entwicklung hin zu einer gewissen Dematerialisierung von Wachstum gibt und nicht mehr so viele Ressourcen verbraucht werden müssen. Außerdem könnten wir in einer wirklich sozialistischen, grünen Wirtschaft vollständig auf Erneuerbare umsteigen, was beispielsweise die Bedeutung unseres Energieverbrauchs reduzieren würde. Man müsste zwar immer noch Lösungen für die Verschmutzung und die massive Müllproduktion die mit der Nutzung elektronischer Technologie einhergeht finden, aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns Lösungen für Probleme wie den Klimawandel überlegen können – das echte Problem ist doch die politische Herausforderung, diese auch implementieren zu können. Ich denke wir sollten an solchen Lösungen arbeiten, statt Verzicht zu predigen oder Entwicklungsländern zu sagen, dass sie leider zu spät dran sind und nicht mehr wachsen dürfen.

Auch gibt es das Argument, dass der Planet die Anhebung des Lebensstandards aller Menschen auf einen westlichen Standard nicht ertragen könne. Für den Moment stimmt das, aber auch hier ist Technologie von Bedeutung. Das klassische malthusianische Argument war ja, dass ab einer bestimmten Populationsgröße nicht genug Nahrung produziert werden könne. Offensichtlich haben wir unsere landwirtschaftliche Produktivität soweit steigern können, dass wir sieben Milliarden Menschen ernähren können. Das Selbe wäre auch für den Rest unseres Lebensstandards möglich – natürlich nicht über Nacht, aber das ist das Versprechen von Technologie: dass wir den Lebensstandard heben können ohne der Umwelt dabei zu schaden. Statt Degrowth sollten wir vielleicht darüber nachdenken, wie wir das Wachstum sozial und demokratisch planen können.

In der Forschung wird zunehmend der Einfluss der sozialen Folgen der Automatisierung auf den Aufstieg des Rechtspopulismus diskutiert – so sollen Beschäftigtengruppen, die besonders von Automatisierung betroffen waren, überproportional Trump gewählt haben. (Wie) siehst Du den Zusammenhang zwischen zunehmender Automatisierung und dem Aufstieg des Rechtspopulismus?

Ich denke, dass Automatisierung hier eine wichtige, wenn auch nicht die wichtigste, Rolle spielt. Die Jobs in der verarbeitenden Industrie in den USA sind ja nicht nur wegen Automatisierung und Produktivitätssteigerungen verschwunden, sondern auch wegen der Verlagerung der Produktion etwa nach China. Es geht also um Globalisierung, Automatisierung und darum, dass für Ökonomen und Politiker Verteilungsfragen in den letzten 20 bis 30 Jahren kein Thema waren und dass weite Teile der Bevölkerung «abgehängt wurden», wie man das so nennt. Sie haben von diesen Entwicklungen nicht profitiert: Stattdessen mussten sie mit ansehen, wie die Jobs, die ihnen Respekt, Würde und ein ordentliches Gehalt sicherten, verschwanden. Wenn ich meine Studenten frage, ob sie meinen, dass sie ein besseres Leben haben werden, als ihre Eltern, verneinen das die meisten. Es geht also um den Kollaps der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. All diese Entwicklungen haben das Bedürfnis nach Alternativen zum Status Quo – der, wie immer mehr Leute realisieren, nicht mehr funktioniert –  geschürt und sind meiner Meinung nach der Grund für die Niederlage von Hillary Clinton in den USA und der Remain-Kampagne in Großbritannien, die einfach nur mehr von dem Selben versprachen. Unabhängig davon, ob man jetzt den Brexit oder was Trump von sich gibt richtig findet, sollten wir zur Kenntnis geben, dass es eine große Zahl von Leuten gibt, die nicht wollen, dass es so weiter geht wie bisher und die ihre Hoffnung auf Alternativen wie Trump oder den Brexit richteten. Automatisierung ist aus meiner Sicht ein Faktor neben der Globalisierung und dem Neoliberalismus, der zu der Herausbildung dieser fundamental Unzufriedenen geführt hat.

Zum Abschluss ein Ausblick: woran arbeitest Du derzeit?

Wenn man sich die Debatten zur Automatisierung anschaut, dann fällt auf, dass über Care- oder Reproduktionsarbeit (z.B. Sorgearbeit für Kinder, für ältere Menschen, das Kochen und Putzen zu Hause, die Pflegearbeit) kaum gesprochen wird. In meinem nächsten Buchprojekt, das ich zusammen mit meiner Partnerin Helen Hester schreibe, befassen wir uns mit der Frage, wie man die Postarbeitsdebatten und diejenigen zur gesellschaftlichen Reproduktion zusammenbringen könnte. Oft läuft das je derzeit so: die Postwork-Leute reden nicht über soziale Reproduktionsarbeit und werden darauf von feministischen Kritiker*innen hingewiesen, aber oft bleibt es dann bei dieser Kritik und es wird behauptet, dieser Bereich der Arbeit sei nunmal nicht automatisierbar und müsse so bleiben, wie er ist. Im Rahmen unserer Forschung haben wir aber festgestellt, dass in den 1910er und 1920er Jahren in Russland, den frühen Tagen der Sozialdemokratie in Deutschland oder den radikalen Schriften in den USA zur Jahrhundertwende, die arbeitssparende Reorganisation der sozialen Reproduktion in feministischen Kreisen aber auch außerhalb dieser durchaus ein Thema war. Das Ziel, die Arbeit zu überwinden, wurde nicht nur auf die Lohnarbeit sondern auf alle Bereiche des Lebens bezogen. An diesen Theoriestrang wollen wir erinnern und ihn für das 21. Jahrhundert updaten. Wenn wir wirklich eine Postarbeitsgesellschaft aufbauen wollen, dann müssen wir uns aus unserer Sicht auch mit der Frage befassen, wie wir verhindern, dass am Ende nicht einfach Männer von der Lohnarbeit befreit werden und Frauen weiter zu Hause festhängen und die ganze Care-Arbeit leisten müssen.

Es gibt allerdings weitverbreitete Vorbehalte gegenüber der Automatisierung von Care-Arbeit – wie begegnet Ihr diesen Bedenken?

Ich glaube, die Kritiken sind oft ganz richtig, insofern sie sich auf die Automatisierung von Pflegearbeit unter kapitalistischen Bedingungen beziehen. Wenn man sich etwa die Industrialisierung der Landwirtschaft anschaut und wie dort die Tiere behandelt werden, dann gewinnt man ein Gefühl dafür, was eine Industrialisierung im Pflegebereich bedeuten könnte. Davor zu warnen ist absolut richtig, aber: wir sollten Automatisierung nicht von vornherein ablehnen. Zum Teil schon deswegen, weil Beschäftigte im Care-Sektor in den Gesprächen die ich führe zu den stärksten Befürwortern der Automatisierung von manchen ihrer Tätigkeiten sind. Ich denke wir sollten viel weniger darüber nachdenken, ganze Berufe zu automatisieren, und eher darüber über die Automatisierung bestimmter Tätigkeiten sprechen. Optimistisch gesprochen: In einer sozialistischen Wirtschaft sollten wir auf Arbeiter*innen zu gehen und sie danach fragen, wie wir ihnen dabei helfen könnten, ihre Arbeit besser zu machen. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Als ich mit Menschen in der Altenpflege sprach wurde mir rasch klar, dass die Aufgabe, Medikamente zu sortieren und auszugeben leicht automatisierbar wäre. Ich denke daraus das lässt sich auch auf andere Jobs im Bereich der Care-Arbeit übertragen: fragt die Arbeiter*innen und Patient*innen, was man automatisieren könnte, ohne Menschen zu entmenschlichen und um ihnen stattdessen zusätzlich Wahlfreiheit zu bieten, was für Pflege sie möchten. Auch sprechen wir oft davon, dass Maschinen entmenschlichend seien und reden nicht darüber, dass es für viele auch entwürdigend und peinlich sein kann, von anderen gewaschen werden zu müssen und die tatsächlich technologische Hilfe vorziehen würden. Ebenfalls wird oft in diesen Kritiken davon ausgegangen, dass Menschen besonders gut darin seien, für andere zu sorgen. Wenn man sich aber die Statistiken zu Missbrauchsfällen im Care-Bereich anschaut, ist man geschockt. Ständig misshandeln Menschen die Leute, um die sich kümmern. Das Thema ist also komplex und es nicht so einfach, dass man einfach fordern könnte, Alles zu automatisieren oder jegliche Automatisierung abzulehnen. Stattdessen geht es hier darum, eine nuancierte Haltung zu entwickeln.