Innerhalb kurzer Zeit sind Essenskurier*innen zu einem prägenden Aspekt des Stadtbilds urbaner Zentren weltweit geworden. Diese meist jungen Menschen, die mit großen Rucksäcken in auffälligen Farben Essen von Restaurants zu Kund*innen nach Hause bringen, tauchten in Deutschland erstmals 2014 auf und erscheinen seitdem in stetig mehr Städten. Doch obwohl ihre Präsenz augenscheinlich ist, stehen gegenwärtig nicht einmal verlässliche Zahlen über die konkrete Anzahl der Arbeitenden zur Verfügung. Fest steht, dass es deutschlandweit mehrere Tausend der auch Rider genannten Kurier*innen gibt. Doch genaue Angaben werden von den recht verschlossen agierenden Plattformen nicht kommuniziert. Trotz dessen und obwohl es zahlreiche weit prekärere aber weniger sichtbare Tätigkeiten gibt, ist diese Art der Arbeit mit großer Regelmäßigkeit Gegenstand medialer Berichterstattung. Dabei wird sie oft als radikale Innovation gehandelt, die symptomatisch für die (Einfach-)Arbeit der Zukunft steht bei der die Arbeitenden umfassend von Algorithmen gesteuert und kontrolliert werden.
Doch was als radikal neue Form der Arbeit daher kommt, ist im Licht der historischen Entwicklung oftmals mehr eine Wiederkehr früherer Arbeitsverhältnisse. Denn die Nutzung der Arbeitskraft durch die Unternehmen nur bei tatsächlichem Bedarf, der Stücklohn und die Tatsache, dass die Arbeitenden ihre eigenen Arbeitsmittel zur Verfügung stellen müssen, sind keineswegs neu und vielmehr so alt wie der Kapitalismus selbst. Konkret gleicht die digitalisierte Kurierarbeit wie auch viele andere Arten der Plattformarbeit dem proto-industriellen Verlagssystem der frühen Industrialisierung, das bereits im 19. Jahrhundert mit dem Begriff der «prekären Arbeit» gekennzeichnet wurde. Bei dieser Arbeitsform war der Verleger als Vermittler verantwortlich und teilte den Arbeitenden, die ihre eigenen Werkzeuge und Heimstätten für die Arbeit nutzten, die Aufgaben und zu bearbeitenden Rohstoffe zu. Ebenso teilen auch die Plattformen den Ridern die Lieferaufträge zu, die dann mit dem eigenen Fahrzeug abgeholt und zum Zielort gebracht werden müssen. Somit ist die vermeintlich neue Form der Plattformarbeit geprägt von der Gleichzeitigkeit des Neuen und des Alten, von Industrie 1.0 und 4.0. Sie ist ein «Zurück in die Zukunft» und damit eine Wiederkehr des Alten und Vergangenen in der Gegenwart und im Kommenden.
Heiner Heiland forscht an der TU Darmstadt zu plattformvermittelter Arbeit und hat für verschiedene Plattformen Essen ausgefahren.
Online-Umfrage für Kurier*innen: Im Rahmen eines Forschungsprojekts zum Thema führt der Arbeitsbereich Organisationssoziologie der Technischen Universität Darmstadt eine Online-Umfrage durch an der Kurier*innen unter folgendem Link teilnehmen können: https://www.unipark.de/uc/kurier/
Damit ist die Plattformarbeit zugleich aber auch eine weitere Etappe des Niedergangs des Normalarbeitsverhältnisses. Denn während in der ersten Phase des Kapitalismus zahlreiche Varianten selbstständiger Arbeit, mittels derer die Arbeitenden vollumfänglich den Risiken des Marktes unterworfen waren, der Normalfall waren, entwickelte sich im Zuge zunehmender Industrialisierung und intensiven Arbeitskämpfen die abhängige Lohnarbeit zur zentralen Form der Kopplung zwischen Arbeitenden und Unternehmen. Im Anschluss daran kam es zu weiteren Schritten der Dekommodifizierung, so dass die Arbeitskraft zwar weiterhin als Ware gehandelt wurde, doch dieser Austausch von Arbeitskraft gegen Geld zunehmend engeren Regulierungen unterlag und die strukturell schwächeren Arbeitnehmer*innen in ihrer weiterhin abhängigen Position gestärkt wurden. Höhepunkt dieses Prozesses war das Normalarbeitsverhältnis, das den Arbeitenden die Möglichkeit bot in Vollzeit, unbefristet, nicht selbstständig, sozialversicherungspflichtig und gegen ein geregeltes Entgelt einer Arbeit nachzugehen. Dabei gilt aber auch für diese Hochphase, dass die Normalität des Normalarbeitsverhältnisses eine beschränkte war und in erster Linie auf deutsche, weiße Männer in den Kernindustrien bezogen war. Trotz allem stellte das Normalarbeitsverhältnis den normativen Zielhorizont dar, was sich auch in zahlreichen die Arbeit regulierenden Institutionen (wie beispielsweise die Gesetzgebung) bis heute wider spiegelt. Doch wie mittlerweile klarer zu Tage tritt, ist die Vorherrschaft des Normalarbeitsverhältnisses als ein Zwischenspiel zu verstehen, das keineswegs unumkehrbar ist. So wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche der Institutionen, die den Verkauf der Arbeitskraft dekommodifizierten, geschliffen und abgebaut und neue (bzw. alte) prekäre Beschäftigungsformen etabliert. Die plattformvermittelte Kurierarbeit ist mit ihren prekären Beschäftigungsformen, der geringen Entlohnung und dem begrenzten Umfang als ein Teil ebenjener Entwicklung zu verstehen.
Augenscheinlich ist digitale Plattformarbeit der Form nach der analogen Verlagsarbeit zwar ähnlich, doch keineswegs identisch. Die Frage ist demnach, welchen Unterschied die digitale Art der Vermittlung der Arbeit macht, die das einzig tatsächlich Innovative dieser Tätigkeit darstellt und auf neue zur Verfügung stehende Technologien zurück geht. Wie im Folgenden dargelegt wird sind es ebenjene Technologien, die zugleich zu einer Begrenzung wie auch einer Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Rider führen.
Plattformvermittelte Kurierarbeit wird digital koordiniert und auch kontrolliert. Die dem zugrunde liegenden Technologien sind Teil des Geschäftsmodells, da die Vermittlung zwischen Restaurants, Ridern und Kund*innen ohne GPS-basierte und internetgestützte Handys nur schwerlich möglich wäre. Denn die Plattformen stehen neuen Herausforderungen gegenüber, die mit der Koordination und Kontrolle von im städtischen Raum verteilt Arbeitenden einher geht. In der Folge testen und entwickeln sie neue Formen der Steuerung des Arbeitsprozesses. Darin liegt auch die Relevanz dieser Art der Arbeit, die weit über ihren zahlenmäßigen Umfang hinaus geht, da die Plattformen exemplarische Lösungen finden müssen, für Fragen, die sich auch in anderen Feldern stellen (ein Blick nach Großbritannien oder die USA zeigt bereits, auf welche weiteren Sektoren das Organisationskonzept der Plattform anwendbar ist).
Medial meist im Fokus liegt die algorithmische Kontrolle und Steuerung der Kurierarbeit. Denn die Zuteilung der Aufträge ist automatisiert und basiert auf Algorithmen, über die die Arbeitenden nur begrenzt in Kenntnis gesetzt werden, so dass sich für die Rider schnell das Gefühl einstellt, von der anonymen App und deren zugrunde liegenden Algorithmen gesteuert zu werden. Doch schärft man den Blick, zeigt sich, dass die Algorithmen tatsächlich in erster Linie der Koordination dienen. Das ändert nichts an ihrer steuernden Wirkung, aber ergänzend und für die Kontrolle der Plattformen über die Arbeitenden sind demnach andere Faktoren relevanter. Zentral sind hierbei vor allem Informationsasymmetrien, die vonseiten der Plattformen etabliert werden. Die Arbeitenden werden beispielsweise mittels GPS fortlaufend geortet und sind dazu angehalten, ständig Informationen über den aktuellen Stand des Arbeitsprozesses mitzuteilen. Sie erhalten mitunter relevante Informationen wie die Adresse der Kund*innen erst nachdem sie die Bestellung tatsächlich in den Händen halten und dies den Plattformen mitgeteilt haben.
Der Kampf um Transparenz, in dem die Unternehmen ihre Macht einsetzen, um von den Arbeitenden Prozessupdates zu erhalten, aber selber nur sukzessive Informationen mitteilen, ist ebenso wenig neu, sondern bereits aus den Frühzeiten des Kapitalismus bekannt wie beispielsweise die Arbeiten von Edward P. Thompson deutlich zeigen. Neu ist jedoch die digitale Kommunikation. Und deren Wirkkraft ist nachhaltig. Denn die Kommunikation zwischen Plattform und Ridern wird fast ausschließlich digital geführt. Dabei obliegt den Plattformen die Hoheit über die Kommunikationskanäle, so dass sie mit Hilfe entsprechender Programmierung die Rider weitestgehend zu konformem Verhalten zwingen können. Wenn die Arbeitenden in der App zum Beispiel nicht swipen, dass sie gerade im Restaurant sind und das Essen entgegen genommen haben, erhalten sie auch nicht die Adresse, so dass sie mit ihrer Arbeit nicht weiter fortfahren können. Die Kommunikation ist damit nicht mehr wie bei einem persönlichen Gespräch auf Augenhöhe, sondern von oben bezüglich ihres Inhalts und der Art und Weise vordefiniert, so dass Abweichungen davon schwer möglich sind. Der Maxime «code is law» (Lawrence Lessig) folgend, verlangt Software unausweichliche Konformität. Auch etwaige Probleme während einer Lieferung lassen sich nur durch die von den Plattformen angebotenen Kanäle klären.
Unabhängig von diesen spezifischen digitalen Aspekten ist hingegen die Vereinzelung der Arbeitenden ebenso wenig neu, sondern Folge des altbekannten Arbeitsarrangements analog zur Verlagsarbeit. Damit einher und für die Unternehmen einst wie heute von Vorteil geht eine geringe Wahrscheinlichkeit kollektiver Proteste. So traten Heimarbeitende in Deutschland erst 1844 mit Protesten hervor, und erst 1911 wurden gesetzliche Arbeitsschutzmaßnahmen verabschiedet, die 1951, über 100 Jahre nach den ersten kollektiven Aktionen, im Heimarbeitsgesetz mündeten – zu einer Zeit, als diese Art der Arbeit vorerst weitestgehend marginalisiert war.
Während auch die Plattformarbeit vereinzelt stattfindet sind insbesondere die Rider in Deutschland sowie in Europa allgemein zuletzt besonders aktiv mit Protesten und Streiks hervor getreten. Diese mit der Analogie zur Verlagsarbeit widersprüchliche Tatsache erklärt sich durch die digitale Arbeitssteuerung und Kommunikation. So ist zwar keine Technik neutral und immer auch mit ihrer Entstehung bereits in Machtbeziehung eingebettet, doch zugleich weist sie auch immer eine gewisse Ambivalenz und Offenheit auf. Zum Beispiel gibt es immer wieder Kontrolllücken und Bugs in der App, die die Rider schnell entdecken und für sich zu nutzen wissen.
Darüber hinaus bieten die Techniken digitaler Kommunikation den Ridern auch die Möglichkeit, sich fernab der plattformseitig eingerichteten Kanäle auszutauschen und auch zu organisieren. Chatgruppen, die unabhängig von den Plattformen organisiert werden, sind sehr üblich und bezüglich zentraler Information über die Arbeit oft auch schneller als die von den Plattformen zur Verfügung gestellten Kanäle. Dabei dienen diese Gruppen nicht nur für arbeitsbezogene Diskussionen sondern ebenso für allgemeinen und alltäglichen Austausch. Damit bilden sie die Grundlage für die Bildung von Gemeinschaften trotz der vereinzelten Arbeit. Zudem sind sie Orte, an denen die Rider frei etwaigen Unmut äußern können und damit zugleich die Basis für die Organisierung und kollektive Interessenvertretung. Jede der zuletzt zu beobachtenden Protestaktionen oder gar Betriebsratswahlen in diesem Feld fußen in unterschiedlichem Ausmaß auf dem Austausch in Chatgruppen bzw. ergänzend auf der Koordination analoger Treffen auf diesem Weg.
Zudem geht mit der digitalen Koordination und Kontrolle der Arbeit mittels einer einheitlichen App einher, dass die Arbeitenden verschiedener Standorte in mitunter gar verschiedenen Ländern einheitliche oder zumindest sehr ähnliche Arbeitserfahrungen teilen. Da die Apps von den Plattformen allgemein programmiert werden und nur in Ausnahmefällen an lokale Spezifika angepasst werden, können Rider aus Madrid und Helsinki sich über gemeinsame Probleme und Beschwerden austauschen. Da dies infolge digitaler Medien auch problemlos möglich ist, verwundert es auch nicht, dass Vernetzungen zwischen Aktiven verschiedener Städte und Länder stattfinden und die zu beobachtenden Proteste einen transnationalen Charakter aufweisen.