Publikation Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - Grundgesetz Mehr Grundgesetz wagen

Das Grundgesetz wird 75 Jahre alt – das ist auch aus linker Sicht durchaus ein Grund zur Freude

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Autorin

Halina Wawzyniak,

Erschienen

Mai 2019

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Am 8. Mai 1949 wird das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat in Bonn angenommen. picture-alliance / dpa - Bildarchiv

Erarbeitet wurde das Grundgesetz (GG) vom Parlamentarischen Rat, einer verfassungsgebenden Versammlung. Nach dem Treffen der Sechs-Mächte-Konferenz in London im Jahr 1948 erhielten die drei westlichen Militärgouverneure in Deutschland den Auftrag, die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder zu ermächtigen, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Unter den 65 stimmberechtigen Abgeordneten waren vier Frauen. Im Parlamentarischen Rat waren CDU/CSU und SPD mit jeweils 27 Abgeordneten vertreten, die FDP mit fünf Abgeordneten und die kleineren Parteien (DP, KPD, Zentrum) mit je zwei Abgeordneten. Der Parlamentarische Rat verabschiedete das Grundgesetz am 8. Mai 1949.

Das Grundgesetz in seiner ursprünglich vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Form stellte eine Zäsur dar – eine deutliche Antwort auf die Barbarei des Nationalsozialismus und einen neuen Rahmen, innerhalb dessen eine zweite republikanisch-parlamentarische Demokratie in Deutschland entstehen sollte. Und das Grundgesetz galt als Gegenmodell zu einem antifaschistisch-sozialistischen Gesellschaftsentwurf, wie er in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) entwickelt wurde. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, warum das Grundgesetz für die Linke ein oft nicht besonders geliebter Schatz war und ist. Zu Unrecht.

Halina Wawzyniak war von 2009 bis 2017 Bundestagsabgeordnete der Fraktion Die Linke und dort unter anderem rechtspolitische Sprecherin. Sie ist Volljuristin und hat die Anwaltszulassung, derzeit arbeitet sie als Geschäftsführerin der Fraktion DIE LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie schreibt regelmäßig über juristische Themen auf ihrem Blog (blog.wawzyniak.de).

Trotz aller im Laufe der 75 Jahre am Grundgesetz vorgenommenen Veränderungen – der negativen, wie Notstandsgesetz, Remilitarisierung, weitgehende Abschaffung des Asylrechts und Schuldenbremse, aber auch der positiven, wie dem Auftrag, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern – bietet es eine gute Grundlage für eine demokratisch-sozialistische, eine nicht von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geprägten Gesellschaft.

Das Lob auf das Grundgesetz entbindet linke Politiker*innen jedoch nicht von der Aufgabe, es weiterzuentwickeln. Und insofern ist es durchaus legitim und sogar erforderlich, unter dem Leitmotiv «offen für eine neue soziale Idee» darüber nachzudenken, wie dies konkret aussehen kann. Ob dazu, angesichts der Entwicklung von Grundrechten durch das Bundesverfassungsgericht, wie zum Beispiel eines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, weitere Grundrechte zu schaffen sind oder der Kampf auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene für einen gesellschaftlichen Konsens einer progressiven Auslegung des Grundgesetzes entscheidender ist, kann und sollte debattiert werden. Sowohl historische Gründe, aber auch aktuelle Entwicklungen (Digitalisierung, Klimawandel, Globalisierung) sprechen dafür, dass es von zentraler Bedeutung ist, eher für eine progressive Anwendung und Auslegung des Grundgesetzes zu streiten, als für die Kodifizierung neuer Grundrechte zu kämpfen.

Demokratie lernen und leben

Das Grundgesetz ist nicht im luftleeren Raum entstanden. Die deutsche Gesellschaft war geprägt vom Nationalsozialismus. Die große Mehrheit der Deutschen hat das barbarische Naziregime mitgetragen und zum Holocaust geschwiegen. Kaum drei Jahre später sollten nun die vielen Täter*innen und ihre Opfer, die Menschen, die Widerstand geleistet hatten, und die, die sich nicht geäußert hatten, lernen, neben- und miteinander zu leben. Sie sollten eine Demokratie aufbauen und sie mit Leben füllen. Auf einmal hatten sie eine Verfassung, die demokratische Aktivität und damit das Gegenteil von dem einforderte, was zuvor gesellschaftliche Wirklichkeit gewesen war. Jetzt sollten sie sich einbringen, debattieren und die Gesellschaft im pluralen Meinungsstreit weiterentwickeln.

Männer und Frauen, von denen ein nicht unerheblicher Teil im Widerstand gewesen war oder mindestens den Faschismus abgelehnt hatte, hatten eine Verfassung geschrieben, an die sich die Mehrheit der Deutschen erst gewöhnen musste. Eine Verfassung, die ein notwendiger radikaler Bruch und deshalb eine große Herausforderung darstellte – in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik wohl eher eine Überforderung.

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass in den 1950er Jahren die Deutschen der Demokratie skeptisch gegenüberstanden. Die Akzeptanz der Demokratie nach 1949 gründete auf einer «‹Untertanenkultur›, einer autoritätsgläubigen, vor allem am Output interessierten Politischen Kultur».[1] Dass sich die Deutschen mit der Demokratie schwertaten, wird auch daraus ersichtlich, dass 1957 noch 15 Prozent bekundeten, für Hitler stimmen zu würden, und 16 Prozent keine klare Stellung bezogen. 1961 hatten noch 40 Prozent Bedenken, Juden in hohen Ämtern zu beschäftigen, und 32 Prozent hatten zumindest Probleme mit denjenigen, die während des Naziterrors in einer geheimen Widerstandsbewegung gearbeitet hatten.[2] Ein großes Problem stellten die Eliten dar. So sprachen sich von 1.750 Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten 1.025 für die Todesstrafe aus.[3] Bereits in dieser Zeit war es das Bundesverfassungsgericht, das durch drei zentrale Entscheidungen[4] zwischen 1958 und 1961 die Demokratie und damit das Grundgesetz verteidigte.

Diese Verfassung, also das Grundgesetz, mit Leben zu erfüllen und sich im pluralen demokratischen Meinungsstreit der Auslegung und Umsetzung des Grundgesetzes anzunehmen brauchte also seine Zeit. Im Kern dauerte es eine Generation. Erst dann konnte die vor allem von den Amerikaner*innen übernommene «Erziehung» abgestreift und aus eigener Überzeugung Demokratie gelebt werden.

«Die Würde des Menschen ist unantastbar»

Der zentrale Ausgangspunkt des Grundgesetzes ist der Artikel 1 Absatz 1: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Aus diesem Satz leitet sich alles ab und dieser Satz unterliegt der sogenannten Ewigkeitsgarantie: Selbst eine verfassungsändernde Mehrheit darf ihn nicht abschaffen.

Das Bundesverfassungsgericht sprach schon 1957 vom obersten Wert im Grundgesetz.[5] «Die Würde des Menschen ist unantastbar» stellt angesichts der Tatsache, dass dieser Satz noch vier Jahre vor Inkrafttreten des Grundgesetzes unter großem Einverständnis der Bevölkerung nichts wert war, quasi eine Revolution dar. Die Anerkennung der Würde des Menschen im Grundgesetz wird auch vom Bundesverfassungsgericht als zentraler Unterschied zum Faschismus gesehen: «Der Rechtsstaat des Grundgesetzes unterscheidet sich von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gerade dadurch, dass er seine vornehmste Pflicht in der Achtung der Würde des Menschen sieht (Art. 1 Abs. 1 GG) und dabei weder nach Abstammung, Rasse, Glauben, politischen Vorstellungen noch nach der Zugehörigkeit zu sonstigen Gruppen fragt.»[6]

Die konkrete Auslegung, was aus der Achtung der Menschenwürde folgt, war und ist umstritten. Erst mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 wurde der juristische Streit um die Frage, ob Artikel 1 ein subjektives Grundrecht ist, also ein Grundrecht, auf das sich jede*r berufen und es einklagen kann, entschieden: Artikel 1 ist ein subjektives Grundrecht.[7]

Das macht die Weiterentwicklung der Rechtsprechung deutlich, denn 1951 hieß es noch im Hinblick auf die Menschenwürde: «‹Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt› verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des ‹Schützens›, doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.»[8]

Im Jahr 1983 wurde (auch) aus der Menschenwürde das Grundrecht, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, hergeleitet.[9] Diese Entscheidungen liegen alle auf der Linie, die in der Wissenschaft und Rechtsprechung unumstritten ist und der zufolge es der menschlichen Würde widerspricht, Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen. In konsequenter Auslegung der Würde des Menschen gilt dann auch: «Dieses Recht auf Achtung seiner Würde kann keinem Straftäter abgesprochen werden, mag er sich in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen alles vergangen haben, was unsere Verfassung in ihrer Wertordnung unter ihren Schutz stellt.»[10]

Es zeigt sich schon hier: Das Grundgesetz zu leben und zu verteidigen ist keine leichte, aber eine notwendige Sache. Für die im Grundgesetz verankerte Würde zu streiten kann zu Shitstorms und Beschimpfungen führen. Es gibt leider mehr und mehr Menschen, die die Würde des Menschen infrage stellen. Hier als Linke gegenzuhalten wäre vielleicht das beste Geburtstagsgeschenk.

In einem engen Zusammenhang mit Artikel 1 steht der soziale Bundesstaat in Artikel 20 Abs. 1 GG. Er unterliegt ebenfalls der Ewigkeitsgarantie, auch er ist also mit einer verfassungsändernden Mehrheit nicht abzuschaffen. Wie auch bei Artikel 1 unterliegt die Auslegung dessen, was unter dem Sozialstaatsprinzip verstanden wird, einem Wandel. Im Jahr 1951 formulierte das Bundesverfassungsgericht noch: «Weder Art. 1 Abs. 1 noch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG begründet ein Grundrecht des Einzelnen auf gesetzliche Regelung von Ansprüchen auf angemessene Versorgung durch den Staat.»[11] In seiner grundlegenden Entscheidung aus dem Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht dann aber ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums anerkannt: «Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.»[12] Damit enthält das Grundgesetz also die einer Ewigkeitsgarantie unterliegende Verpflichtung des Staates, das sozio-kulturelle Existenzminimum abzusichern.

Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht überlassen es aber dem Gesetzgeber und damit dem politischen Wettbewerb, die Untersetzung vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht formulierte: «Es [das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums] ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.»[13]

Aufgabe linker Politik kann vor diesem Hintergrund sein, dieses Grundrecht zu popularisieren, auf die sich aus diesem Grundrecht ergebenden staatlichen Handlungsaufträge hinzuweisen und im politischen Meinungsstreit das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums weiter zu untersetzen. Beispielsweise dafür zu streiten, dass zu diesem nicht nur Leistungen zum Lebensunterhalt gehören, sondern auch Wohnraum, Zugang zu Bildung und Kultur, Mobilität und Versorgung mit Breitband. Aus dieser Perspektive heraus stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer expliziten Verankerung von sozialen Grundrechten im Grundgesetz in einem neuen Licht: Sie ist nicht zwingend nötig, weil es das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bereits gibt.

Eigentum?

Eine neue Renaissance erlebt gerade die Eigentumsdebatte. Auch hier ist das Grundgesetz mit Artikel 14 und 15 bemerkenswert offen, was sicherlich dem Zeitpunkt seiner Entstehung geschuldet ist. Während Artikel 14 auf der einen Seite eine Eigentumsgarantie (Gewährleistungsgarantie) enthält und auf der anderen Seite eine Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit zulässt, eröffnet der Artikel 15 für Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel sogar die Option, diese in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft zu überführen.

Da nach Artikel 14 Absatz 1 Satz 2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums durch das Gesetz bestimmt werden, ist nicht jeder Eingriff in das Eigentum eine Enteignung. Auch in der linken Debatte wird dies häufig durcheinandergeworfen. Eine Enteignung liegt nur dann vor, wenn diese – entsprechend Absatz 3 – durch das Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgt, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, und die Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit stattfindet, kurz gesagt: Soweit in einem Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes keine Entschädigung festgelegt ist, ist es keine Enteignung. Das Bundesverfassungsgericht drückt dies so aus: «Die Enteignung im verfassungsrechtlichen Sinn ist auf die vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Eigentumspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Aufgaben gerichtet.»[14]

Was aber für linke Politikansätze viel spannender sein dürfte, ist die Aussage: «Die Gewährleistung des Rechtsinstituts wird nicht angetastet, wenn für die Allgemeinheit lebensnotwendige Güter zur Sicherung überragender Gemeinwohlbelange und zur Abwehr von Gefahren nicht der Privatrechtsordnung, sondern einer öffentlich-rechtlichen Ordnung unterstellt werden.»[15] Der «Vorteil» der Enteignung gemäß Artikel 14 gegenüber der Vergesellschaftung/Sozialisierung gemäß Artikel 15 GG ist, dass diese nicht auf bestimmte Rechtsgüter beschränkt ist und nicht zwingend eine Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen von Gemeinwirtschaft enthält. Genau da aber könnte linke Politik in der öffentlichen Debatte ansetzen, denn hier wird die Schnappatmung wirtschaftsliberaler und konservativer Akteur*innen bei der Erwähnung des Artikels 15 GG erklärlich: Die Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft «zur Sicherung überragender Gemeinwohlbelange» ist deren Problem.

Allein schon, dass die Enteignungsfrage wieder eine breitere politische Öffentlichkeit erreicht, zeigt, dass in den vergangenen Jahrzehnten «Markt» und «Privateigentum» die drängendsten Probleme nicht lösen konnten. Daher kann der 70. Geburtstag des Grundgesetzes Anlass sein, nicht nur eine konkret umsetzbare Untersetzung von Gemeineigentum und anderen Formen der Gemeinwirtschaft zu entwerfen, sondern auch klar und deutlich zu sagen: Mehr Artikel 15 wagen! Es spricht im Übrigen auch nichts dagegen, den Gedanken des Gemeineigentums und der Gemeinwirtschaft bei der praktischen Anwendung des Artikels 14 Absatz 3 GG einzubeziehen.

Gerade der Wandel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der sozialen Frage unter Bezugnahme auf Artikel 1 und Artikel 20 GG zeigt die Notwendigkeit, um die Interpretation der Aussagen des Grundgesetzes zu kämpfen. Es ist bewusst interpretationsfähig gehalten. Es rahmt eine Arena, in der ein fortwährender Kampf um seine Auslegung, um Politik und Gesellschaft stattfinden kann und soll. Sich diesem Kampf zu stellen ist eine lohnende Herausforderung.

Brauchen wir eine Verfassung, die das Provisorium ersetzt?

Es waren sicherlich nicht die hier dargestellten Möglichkeiten, mit dem Grundgesetz demokratisch-sozialistische Politik zu machen, die 1990 zur Weigerung der alten Bundesrepublik führten, sich im Zuge einer «Vereinigung» der beiden deutschen Staaten der damit notwendig werdenden Debatte über eine Verfassung zu stellen. Denn das Grundgesetz verstand sich als Provisorium bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit. Durch die Form des «Beitritts» erübrigte sich die Verfassungsdebatte.

Dadurch wurde die Chance vertan, das Grundgesetz gemeinsam grundlegend zu überarbeiten und neu zu justieren. Die Möglichkeit, die Erfahrungen der Menschen aus der alten Bundesrepublik und aus der jungen Demokratie im Osten (Runde Tische) und ihrer bürgerrechtlichen Träger*innen aufzunehmen, blieb ungenutzt. Es ist eine Hypothese, erscheint aber durchaus denkbar, dass insbesondere das im Osten der Republik auftretende Problem, dass demokratische Errungenschaften offen infrage gestellt werden, während demokratieverachtende Positionen Zulauf erhalten, möglicherweise durch ein aktives Mitgestalten der Grundlagen des Zusammenlebens heute deutlich geringer wäre.

Machtpolitische Erwägungen in der alten Bundesrepublik waren bei der Entscheidung für den Weg des «Beitritts» von Bedeutung. Und auch das von der Mehrheit der DDR-Bürger*innen zum Ausdruck gebrachte Interesse, ganz schnell («Wir sind ein Volk») dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten. Erst allmählich wurde deutlich: Die ehemaligen DDR-Bürger*innen gerieten in die Rolle derjenigen, die neuen Regeln der Demokratie vermeintlich erst erlernen zu müssen, während die BRD-Bürger*innen für sich in Anspruch nahmen, die Regeln sozusagen qua Geburt zu kennen. Zudem war – vor allem – im neuen Westen der Republik der Glaube verbreitet, dass Marktwirtschaft, Privateigentum, wirtschaftliche Prosperität und Demokratie eine quasi natürliche Einheit bilden würden. Vergessen wurde der Weg dahin, die Erziehung zur Demokratie. Das Grundgesetz regelt das Zusammenleben der Bürger*innen, deren Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat und stellt Letzterem Aufgaben und setzt ihm Grenzen. Die Regeln zu beherrschen und darin selbstwirksam die eigenen Anliegen zu vertreten will gelernt sein. Angesichts sich verstärkt politisch formierender antidemokratischer, autoritärer Kräfte kann der wichtigste Wunsch zum 75. Geburtstag sein, dass die Investitionen in das «Einüben in das Grundgesetz» überall im Alltag wieder deutlich erhöht werden.

Das Grundgesetz war als Provisorium gedacht. Das Provisorium hat sich bewährt. Es ist nicht unantastbar, wie die fast unmittelbar nach dem Beitritt erfolgte De-facto-Abschaffung des Asylrechts 1993 zeigt. Gezählt werden 52 Verfassungsänderungen in den letzten 70 Jahren, mit denen 109 Artikel geändert wurden.[16]

Der 75. Jahrestag des Grundgesetzes könnte der Anfang einer Positionierung der Linken sein, die nicht immer wieder nach einer neuen Verfassung ruft, sondern die Spielräume für demokratisch-sozialistische Politik im bestehenden Grundgesetz in die politische und gesellschaftliche Debatte einbringt und für deren Umsetzung streitet.

Dieser Artikel wurde 2019 zum 70. Jahrestag des Grundgesetzes erstveröffentlicht. 

[1] Schmidt, Manfred G.: Einstellungen zur Demokratie, 31.5.2012, in: Deutsche Verhältnisse. Eine Sozialkunde. Dossier, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, unter: www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138703/einstellungen-zur-demokratie.

[2] Vgl. Flechtheim, Ossip K.: 1949–1964. Demontage der Demokratie in Westdeutschland?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/1964, S. 787–794, hier S. 788, unter: www.blaetter.de/sites/default/files/downloads/zurueck/zurueckgeblaettert_201410.pdf.

[3] Ebd.

[4] Lüth-Urteil (BVerfG 7, 198 von 1958), Stichtagsentscheidung (BVerfG 10, 59 von 1959) und Deutschland-Fernsehen-GmbH (BVerfG 12, 205 von 1961).

[5] Vgl. BVerfG 6, 32/41.

[6] BVerfG 64, 261/284.

[7] Vgl. BVerfGE 125, 175/222.

[8] BVerfG 1, 97/104.

[9] Vgl. BVerfG 65, 1, Ls. 1.

[10] BVerfG 64, 261/284.

[11] BVerfG 1, 97, Ls. 4.

[12] BVerfGE 125, 175, Ls. 1.

[13] BVerfGE 125, 175, Ls. 2.

[14] BVerfGE 70, 191, Rdnr. 30.

[15] BVerfGE 58, 300, Rdnr. 174.

[16] Vgl. Grundgesetz und Parlamentarischer Rat – Bundeszentrale für politische Bildung, unter: www.bpb.de/system/files/pdf_pdflib/pdflib-38974.pdf.