Publikation Krieg / Frieden - Autoritarismus Kriegsökonomie: Politische Ökonomie der Gewalt

Wie die Expansion des Kapitalismus Staat und Gesellschaft zerstört.

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Werner Ruf,

Erschienen

Mai 2019

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Sturm kommt auf
Sturm kommt auf CC BY-SA 2.0, marfis75 on flickr

«Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.» (Marx/Engels 1972)
 

Umriss einer Theorie

Dieses Zitat beschreibt in wortgewaltiger Weise die Überlegenheit der kapitalistischen Produktionsweise und die Kraft des Kapitals zur Transformation der Weltgesellschaft. Die theoretische Vertiefung dieser Sätze aus dem kommunistischen Manifest würde weitere Erklärungen basierend auf den Veränderungen der organischen Zusammensetzung des Kapitals und auf der Grundlage des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate verlangen. Dies kann hier nicht ausgeführt werden, es muss einem anderen Seminar über die marxistische politische Ökonomie vorbehalten bleiben. Marx und Engels beziehen sich auf die widersprüchlich erscheinende Tatsache, dass hochwertige, von Maschinen produzierte Güter billiger sind als handgefertigte Waren. Diese Analyse der Gesetzmäßigkeiten der politischen Ökonomie war die Grundlage der Imperialismustheorien von Lenin und von Rosa Luxemburgs in berühmtem Werk Die Akkumulation des Kapitals, Bücher, die  noch immer von höchster Aktualität sind.

Als Marx und Engels das Kommunistische Manifest schrieben, spielte sich in Europa ein harter Wirtschaftskampf ab: Die Manufakturen in Kontinentaleuropa waren unfähig, mit der hoch kapitalisierten britischen Industrie und den britischen Produkten zu konkurrieren. Dies galt vor allem für Textilien, die den europäischen Markt überfluteten. Um ihre entstehende Industrie zu schützen, bauten die Kontinentaleuropäer Zollmauern gegen die britischen Exporte auf: Hinter diesen Mauern hatten die europäischen Wirtschaften (und die der Vereinigten Staaten) die Chance, sich zu entwickeln und schließlich auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu werden. Es ist daher nicht überraschend, dass zu dieser Zeit gerade die Briten nachdrücklich für ein Freihandelssystem plädierten: Es war für sie von Vorteil – und schadete der europäischen und der US-Konkurrenz. Marx (1968) hat dies en detail im ersten Band des Kapital dargelegt. Der Kampf für Freihandel oder Marktwirtschaft  ist daher in erster Linie ein Kampf für wirtschaftliche – und in der Folge politische und militärische – Dominanz. Der Liberalismus ist also nicht schlicht eine ökonomische Theorie, er ist auch und vor allem eine Ideologie, die die Herrschaftsinteressen der wirtschaftlich starken Mächte untermauert und legitimiert.

Geradezu exemplarisch betrieb Großbritannien, die damals führende kapitalistische (und imperialistische) Macht, im 19. Jh. eine den Grundsätzen des Liberalismus folgende Politik nicht nur gegenüber Kontinentaleuropa, sondern auch gegenüber dem Osmanischen Reich: Dieses Reich, dessen Einkünfte wesentlich auf landwirtschaftlicher Produktion basierten, brauchte dringend Kapital, um seine Armee zu modernisieren, die das Reich nach innen und nach außen absichern sollte. Bereits 1838 hatte der Sultan einen ersten Vertrag mit Großbritannien geschlossen, die sog. Kapitulation, die den Briten Zollfreiheit, freie Investitionstätigkeit und freien Kapitalverkehr zusicherten. In der Folge überfluteten britische Waren das Reich, privates Kapital floss ab ins Ausland. Weitere Verträge folgten, die diese Prinzipien stärkten, 1875 war das Osmanische Reich zahlungsunfähig.

Es erscheint wie eine Ironie der Geschichte: Die Grundelemente dieser Kapitulationen, Freihandel,  Abschaffung der Zölle, freie Investitionstätigkeit und freier Kapitalfluss sind genau die Prinzipien des Washington Consensus und die Richtlinien der Außen- und Wirtschaftspolitik der Europäischen Union.

Der Sieg des Neoliberalismus

1. Das antikoloniale Intermezzo: Bandung, die «Dritte Welt» und die Bewegung der Blockfreien

Nach dem Zweiten Weltkrieg erstarkten in den Kolonien die antikolonialen und anti- imperialistischen Bewegungen, manche unterstützten ihre Forderungen durch bewaffneten Kampf. Der erste große politische Schritt im Kampf für die Unabhängigkeit war die Konferenz von Bandung (1955), wo sich die bereits unabhängigen Staaten unter der Führung Indiens (Nehru), Chinas (Tschou En Lai), Ägyptens (Nasser) und Indonesiens (Sukarno) trafen. Jenseits der politischen Unabhängigkeit für alle noch kolonisierten Länder forderte die Konferenz die Verwirklichung der Menschenrechte für alle Völker, das Verbot der Atomwaffen … Und die Teilnehmerstaaten definierten sich selbst als «Dritte Welt» oder als „Blockfreie Bewegung“,  erklärten sich für unabhängig von den Großmächten und ihren Verbündeten. Die Teilnahme an der Organisation stand allen nicht blockgebundenen Ländern offen, sie umfasste auf ihrem Höhepunkt 77 Länder. Prominente Führer der Organisation waren in späteren Jahren Jugoslawien (Tito), Cuba (Castro) und Algerien (Ben Bella, Boumedienne).

Manche dieser Staaten versuchten, ein sozialistisches Wirtschaftssystem aufzubauen. Theoretiker des anti-imperialistischen Kampfes wie Frantz Fanon und der 2018 verstorbene Samir Amin plädierten für die Abkopplung der Ökonomien der Dritten Welt vom Weltmarkt und die Bildung eines Austauschsystems zwischen ihnen, um damit die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Integration ihrer Länder in die Wirtschaftssysteme der ehemaligen kolonialen Herrscher zu beenden. Dieses wichtige Ziel wurde nie erreicht, da sich die historisch gewachsenen Bindungen an die (ehemaligen) imperialistischen Länder als zu stark erwiesen. Außerdem zwangen die Mechanismen des von Weltbank und Internationalem Währungsfonds beherrschten Weltfinanzsystems die  meisten der Dritte-Welt-Länder zum Verbleib in einem System ökonomischer und damit politischer Abhängigkeit.

Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und dem Ende des bipolaren Systems verschwand auch der Handlungsspielraum für eine alternative «Dritte Welt» bzw. die blockfreie Bewegung. Francis Fukuyama (1992) proklamierte das «Ende der Geschichte», das für ihn in der weltweiten Durchsetzung der Demokratie und der Markwirtschaft bestand. Fast zur gleichen Zeit wurden die von dem Chicagoer Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Milton Friedman (1980) propagierten neo-liberalen Prinzipien der «Freien Marktwirtschaft» medienwirksam verkündet und von Ronald Reagan und Margret Thatcher in politische Praxis umgesetzt. Mit dem Verschwinden der Sowjet-Union und des alternativen  sozialistischen Wirtschaftsmodells wurde der Neo-Liberalismus zum einzigen Modell der Weltwirtschaft.

2. Die Freihandelspolitik der Europäischen Union

Wie oben mit Blick auf die Anfänge des Imperialismus kurz gezeigt wurde, sind wirtschaftliche Maßnahmen nie frei von Interessen, und sie beschränken sich nie auf ökonomische Maßnahmen, sondern haben immer politische Implikationen. Die internationalen Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfond, die am Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurden, waren angelegt als Instrumente zur Strukturierung der Weltwirtschaft auf globaler Ebene und zur Schaffung einer wirtschaftlichen Ordnung im Interesse des Kapitals. Diese Institutionen, die wirtschaftlich und politisch beherrscht werden durch die USA, bestimmen bis heute das weltweite Finanz- und Wirtschaftssystem. Die Politik der EU gegenüber den sogenannten Dritt-Staaten basiert auf diesen Prinzipien, da Freihandelsbeziehungen mit diesen ökonomisch schwachen Staaten in ihrem Interesse liegen. Und die EU hat eine starke Ausgangsposition, um diese Prinzipien durchzusetzen.

In ihren Verhandlungen mit den Afrikanischen, Karibischen und Pazifischen Staat en – allesamt ehemalige Kolonien der imperialistischen europäischen Mächte – konnten die Kernstaaten der EU ihre dominanten Positionen durchsetzen trotz der formalen Unabhängigkeit ihrer früheren Kolonien. Wenn wir die Umsetzung der neo-liberalen Prinzipien betrachten, wie sie sich unmittelbar nach der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten in den Abkommen von Yaoundé (1963 und 1969) und Lomé (1975, 19169, 1984, 2000) niederschlugen, können wir die Folgen für die ehemaligen Staaten der Dritten Welt unschwer erkennen:

  • Die Abschaffung von Zöllen: Für den betroffenen Staat bedeutet dies einen wichtigen Einkommensverlust. Die fehlenden Einkommen würden dringend gebraucht für Infrastrukturausgaben in Bereichen wie Schulen, Krankenhäuser, Straßen und andere soziale Projekte, kurzum: Der Staat wird unfähig, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu sichern. So verliert er in den Augen der Bevölkerung seine Legitimität: Wozu taugt ein solcher Staat?
  • Der freie Fluss von Waren: Dieser betrifft nicht nur bestimmte Luxusgüter, nach denen der kompradorische  Teil der lokalen Bourgeoisie strebt, sondern auch die Güter des alltäglichen Bedarfs der Bevölkerung wie Baumaterial, Kleidung und Nahrungsmittel. Wie bereits oben theoretisch gezeigt wurde, können diese Güter billiger und besser in den hoch entwickelten und industrialisierten Ländern produziert werden. Die Auswirkungen in den abhängigen Ländern sind offenkundig: Versuche, eine gewisse Selbständigkeit beispielsweise in der Herstellung von Grundnahrungsmitteln zu erreichen, scheitern, weil die Produktion von Getreide, Fleisch und Milch in Europa billiger ist als in den Entwicklungsländern.
  • Freie Investitionstätigkeit: Die Investition ausländischen Kapitals richtet sich nach den Aussichten auf Profit. Attraktiv für ausländische Investitionen ist im Allgemeinen das niedrige Lohnniveau in den Ländern der früheren „Dritten Welt“. Daher beschränken sich solche Investitionen auf bestimmte Sektoren oder Produktionsphasen, die besonders arbeitsintensiv sind, wie z. b. Textil oder elektrotechnische Produkte. Diese spezialisierten Produkte entsprechen weder dem lokalen Bedarf noch tragen sie bei zur Herausbildung einer autonomen Nationalökonomie, sie sind ausschließlich bestimmt für auswärtige Märkte. Außerdem können die Niedriglöhne keine Kaufkraft generieren. Da die Produktion auf den Weltmarkt gerichtet ist, stehen für den Export produzierende Unternehmen permanent unter dem Druck mit ihren Preisen weltweit konkurrenzfähig zu bleiben. Dies hat zur Folge, dass Löhne stets auf niedrigstem Niveau bleiben müssen und dass Gewerkschaften – sofern sie existieren – unter strengster Kontrolle gehalten werden.
  • Freier Kapitaltransfer: Die Möglichkeit, jederzeit Kapital transferieren zu können ist eine wichtige Ergänzung der Investitionsfreiheit. Sie garantiert nicht nur den freien  Transfer von Profiten, sie sichert auch die extreme Mobilität des Kapitals, da ausländische Investoren jederzeit ihr Kapital von einem Land in ein anderes verschieben können, sobald Profite an einem anderen Ort höher erscheinen.
  • Steuerfreiheit: Sie trägt weiter dazu bei, Investitionen für ausländisches Kapital attraktiv zu machen. Dadurch kann aber der betroffene Staat keine Einkünfte erzielen, ganz im Gegenteil: Sehr oft müssen die Staaten Vorleistungen erbringen, indem sie für die Ansiedlung von Industrien Straßen bauen, Strom- und Wasseranschlüsse legen. Die nationale Bourgeoisie kommt i. d. Regel nicht in den Genuss solcher Vergünstigungen und kann daher gegenüber den ausländischen Investoren nicht konkurrenzfähig werden (zu Details für die nordafrikanische Region s. Baumgratz et al 2017).

Aber wie steht es um die Prinzipien der Freien Marktwirtschaft? In krassem Gegensatz zu den Glaubensbekenntnissen des Neoliberalismus ist die europäische Landwirtschaft hoch subventioniert. Diese Subventionen belaufen sich jährlich auf rd. 265 Milliarden Euro jährlich (Heinemann 2018). Dies verfälscht grundlegend das heilige Prinzip der freien Konkurrenz und verhindert den Aufbau einer effizienten nationalen Landwirtschaft. Außerdem unterliegen landwirtschaftliche Produkte aus den AKP-Staaten in flagrantem Widerspruch zu den Prinzipien der Marktfreiheit zahlreichen Einschränkungen. Dies zeigen anschaulich die Abkommen mit den nordafrikanischen Staaten, deren Integration ja „besonders fortgeschritten“ ist. Ihre landwirtschaftlichen Exporte unterliegen einem strengen Kalender: Bestimmte Produkte wie z. B. Olivenöl, Orangen oder Tomaten können nur in die EU eingeführt werden zu Zeiten, wenn Mitgliedsstaaten wie Spanien, Italien oder Griechenland diese Güter aufgrund der Klimaunterschiede zwischen dem Nord- und dem Südufer des Mittelmeeres nicht produzieren. Die Einfuhrbeschränkungen und die Subventionen für die europäische Landwirtschaft sorgen also dafür, künstlich zusätzliche Märkte für EU-Produkte in den früheren Dritte-Welt-Staaten zu schaffen. Wenn Interessen der dominanten Ökonomien betroffen sind, gelten die Prinzipien der Marktfreiheit nicht mehr.

Fassen wir zusammen: Die Garantien für freie Investitionen und den freien Transfer von Kapital dienen ausschließlich den Interessen ausländischer Investoren. Die Folge der Steuerfreiheit für diese Investoren wirkt sich unmittelbar auf die Staaten des Südens aus, die ja für Sicherheit und andere grundlegende Dienstleistungen auch gegenüber ihrer Bevölkerung zuständig sind, von den ausländischen Investitionen haben sie keine Vorteile. Betrachtet man dann die Gültigkeit der Prinzipien des Freien Handels, so ist festzustellen, dass diese außer Kraft gesetzt werden, wenn die Interessen europäischer Produzenten betroffen sind. Es gibt also keine „unsichtbare Hand des Marktes“, sondern die sehr sichtbare Faust des Kapitals, das den Erhalt der Unterentwicklung im Süden und die Erosion des dortigen Staates sichert.

3. Die Zerstörung des Staates

Aus der vorstehenden Analyse ergibt sich geradezu zwangsläufig, dass der Staat in der Peripherie unter extremem Druck steht. Hauptaufgabe eines jeden Staates ist die Herstellung von Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger, d. h. die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Schulen, Transportwesen usw. Wie aber kann dies gewährleistet werden, wenn das Staatseinkommen schrumpft, während die Bevölkerung wächst? In anderen Worten: Wozu taugt ein solcher Staat? Die Unfähigkeit des Staates, für die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu sorgen, wirkt sich unmittelbar auf seine Legitimität aus. Nicht nur vermag der Staat es nicht, die grundlegenden Dienstleistungen für seine Bevölkerung zu erbringen, die bestehende Struktur seiner Beziehungen zu den herrschenden Ökonomien und Staaten ist zugleich Ursache für Korruption und Repression. Letztere dient dazu, die herrschenden Familien und Gruppen an der Macht zu halten, die im Lande selbst den ausländischen Interessen dienen. Diese Erscheinungen sind gewissermaßen „natürlich“ und werden meist von außen gestützt. Diktatorische Herrschaft wird so geradezu funktional für den Erhalt ausbeuterischer Strukturen auf globale Ebene.

Ich möchte hier zurückverweisen auf die klassische politikwissenschaftliche Definition des Staates als Inhaber des legitimen Gewaltpotenzials. In den Staaten, von denen hier die Rede ist, wird  dieses Gewaltmonopol jedoch reduziert auf die Gewaltinstrumente, Polizei und Armee, deren Loyalität gegenüber der herrschenden kompradorbougeoisen Klassen durch die Gewährung von Privilegien erkauft werden muss. Aber: Kann solche Gewalt als legitim in Sinne der Akzeptanz durch die Bevölkerung angesehen werden? Wenn die Dominanz des Westens der tatsächliche Grund für die autoritäre Herrschaft ist, dann ist es geradezu verlogen, dort Demokratie einzufordern oder gar den Mangel an Demokratie als Grund für militärische Interventionen zu beschwören.

Endlos scheint die Debatte über die so genannten failed states oder Staatszerfall. Im Sprachgebrauch der Vereinten Nationen ist ein failed state ein Staat, der unfähig oder nicht willens ist, seine Bevölkerung zu schützen oder, in anderen Worten, ein Staat, der nicht (mehr) fähig ist, seine Grundfunktionen wahrzunehmen. Dies heißt, dass der Staat zwar in der Lage sein mag, repressiv gegen die Bevölkerung vorzugehen, aber die Grundbedürfnisse wie Trinkwasser, Wohnung, Nahrungsmittel nicht bereit stellen kann. Was dies bedeutet, hat Hans von Sponeck eindrucksvoll beschrieben, der als Sondergesandter des UN-Generalsekretärs in Irak verantwortlich für die Umsetzung der Sanktionen gegen dieses Land war. Aufgrund der dramatischen Folgen der Sanktionen für die irakische Bevölkerung trat von Sponeck unter Protest von diesem Amt zurück. Der Begriff failed state wird oft benutzt zur Beschreibung der Verhältnisse in Ländern wie Somalia, Afghanistan, Irak, Libyen etc., wo ausländische Militärinterventionen die dort vorhandene Staatlichkeit zerstört haben. In diesen Fällen sollte von Staatzerstörung gesprochen werden, der allerdings der Zustand des Staatzerfalls oft vorausgegangen ist. Diese Diagnose, dass Staaten es nicht vermögen, ihre Grundfunktionen wahrzunehmen, gilt mehr oder weniger für die Mehrheit der Staaten der früheren Dritten Welt.

Nur ein Beispiel hierfür ist Syrien. 2004 führte die Regierung eine Reihe von Reformen durch, mit denen marktwirtschaftliche Grundsätze verwirklicht werden sollten, die das bis dahin bestehende Staatsmonopol über Wirtschaft und Finanzen reduzieren sollte. 2004 wurden Privatbanken zugelassen, 2006 private Versicherungen. Zölle wurden teilweise abgeschafft, alle Sektoren der Wirtschaft wurden für private Investitionen geöffnet. Ziel der Gründung einer Börse in Damaskus (April 2006) war es, ausländische Investitionen zu fördern. Schließlich wurde 2009 ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union geschlossen (Rigault 2009). Das «Handelsblatt» kommentierte: «Die Liberalisierung des Marktes hat einige wenige Familien reich gemacht, scharfe Klassenunterschiede bildeten sich heraus, die es früher in Syrien nicht gab.» (zit. n. Rigault (2009)). Und Eberhard Kienle (2018) stellt fest:

«Indem Teile des Privatsektors unterstützt und näher mit dem Regime verbunden wurden, stabilisierte dies kurzfristig Letzteres, entfremdete ihm aber die weniger wohlhabenden Teile der Gesellschaft. Dies förderte einerseits die Vetternwirtschaft, andrerseits bewirkte es langfristig die Marginalisierung Vieler. Die zweite infitah (Öffnungspolitik W.R.) … zerstörte das soziale System des Landes und trug so zu den Protesten bei, die 2011 begannen.»

Zu dieser Transformation kam noch hinzu, dass Syrien knapp vier Millionen Flüchtlinge versorgen musste, die nach George W. Bushs Krieg gegen den Irak ins Land gekommen waren. Drei Jahre einer dramatischen Trockenheit schädigten nachhaltig die landwirtschaftliche Produktion und führten zu einem dramatischen Anstieg der Lebensmittelpreise. Die Tatsache, dass die Proteste in sunnitischen Gebieten begannen, öffnete alte Wunden und erinnerte an das fürchterliche Massaker, das Bachar al Assads Vater, Hafez, 1982 in der Stadt Hama durchgeführt hatte. So öffnete die Repression des Regimes gegen die Proteste in Dara’a den Weg zu einem sunnitisch-alawitischen Machtkampf.

4.Konfessionalismus (sectarianism) und die Politische Ökonomie der Gewalt

Das Vorhandensein oder die Zugehörigkeit zu ethnisch oder konfessionell definierten Gruppen ist inzwischen ein gängiges Erklärungsmuster von Konflikten. Beispielsweise ist die seit langem existierende Differenz zwischen Sunniten und Schiiten ein bequemes und scheinbar sich selbst erklärendes Paradigma geworden, das befördert wurde durch Samuel Huntingtons simplistisches und unhistorisches Konzept vom Kampf der Kulturen, in dem er behauptet, dass über Jahrhunderte «Konflikte zwischen Kulturen die längsten und gewaltförmigsten Konflikte produziert haben» (Huntington 1993: 25). Folgerichtig werden Kulturen – oder Religionen (die Unterschiede zwischen diese Konzepten bleiben in seiner Analyse unscharf) – zu entscheidenden politischen Akteuren. Es stellt sich die Frage: Warum wirkt dieses Konzept geradezu wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Wenn der Staat seine Funktionen nicht erfüllt, wenn, in einer Mangelökonomie, die Reproduktionskosten für das tägliche Überleben ins Unermessliche steigen, organisieren sich die Menschen, um ihr Überleben zu sichern. In einem Staat, in dem das Recht und seine Durchsetzung nicht mehr funktionieren, werden kriminelle Handlungen gewissermaßen normal: Sei es der Polizist, der kein Gehalt empfängt und die Bürger ausplündert, seien dies (meist ihren Sold nicht erhaltende) Soldaten, die Gewalt ausüben, um Geld oder Waren von unbewaffneten Bürgern abzupressen.

Auf einer höheren Ebene organisieren sich Menschen in Banden, um sich anzueignen, was nützlich erscheint. Um ihre kriminellen Akte zu rechtfertigen, werden sie versuchen sich zu rechtfertigen, indem sie auf übergeordnete «Werte» verweisen, die abgeleitet werden von Vorstellungen ethnischer Überlegenheit oder einer religiös fundierten Moral. Solche Konstrukte haben das Ziel, einerseits Gewaltakten eine gewisse Legitimität zu verleihen, andrerseits schaffen sie Regeln für den Ein- und Ausschluss von Menschen: Z. B. nennt der so genannte Islamische Staat alle Nicht-Sunniten ebenso wie Sunniten, die nicht ihrer fanatischen Auslegung der Religion folgen, Ungläubige. Dies „rechtfertigt“ dann die Einführung von Regeln für die Beschlagnahmung von Eigentum, den Ausschluss von öffentlichen Dienstleistungen, die Versklavung ganzer Menschengruppen, die Organisierung von Menschenhandel oder die Einrichtung von Straßenkontrollpunkten zur Abschöpfung von „Steuern“. Diese Mechanismen des Aus- und Einschlusses wurden angewandt gegenüber allen nicht-salafistischen Minderheiten, seien dies Schiiten, Christen, Yeziden oder Kurden. Die Einnahmen des IS (insgesamt mehr als vier Mio. $/Tag auf dem Höhepunkt seiner Macht) aus solchen Quellen überstiegen bei weitem die Zahlungen, die die Organisation aus den Golfstaaten, aus dem Export von Öl und anderen Formen des Handels erhielt. Die Zahlungen an Söldner jedweder Provenienz, die für Gruppen wie den IS, Ahrar esh-Sham, Djeisch al-Islam, Jabha Tahrir esh-Sham, Nusra-Front und viele andere Gewaltakteure stammten darüber hinaus von auswärtigen Mächten wie von privaten Organisationen (Ruf 2016: 93 – 100).

Die so genannte AQIM (al Qaeda im Islamischen Maghreb) wie die zeitweise mit ihr rivalisierende MUJAO (Bewegung für die Einheit und den Jihad in Westafrika) kontrollieren die wichtigste Drogenstraße der Welt, indem sie Kokain aus Kolumbien, das mit Flugzeugen und Schiffen nach Westafrika gebracht wird, durch die Sahel-Staaten und die Sahara nach Europa schleusen. Weitere wichtige Einkommensquellen sind der der Schmuggel von Zigaretten, Waffen und Menschen durch die Sahara und die Geiselnahme  (Techniker von Ölfeldern, Touristen, Journalisten, ja sogar Diplomaten). In den Orten und Regionen, die sie kontrollieren, setzen sie ihre Vorstellungen von einem rigiden Islam durch – doch nicht wegen der Religion, sondern mit dem Ziel, die Bevölkerung zu terrorisieren und von den «Sündern» Abgaben abzupressen. Dies sind die wirklichen Motive hinter den Grausamkeiten von jihadistischen Gruppen wie auch von schiitischen Banden in Irak und Syrien, von AQIM und anderen in Mali oder von Boko Haram, wenn sie christliche Dörfer, arabische Händler oder Minderheiten der Tuareg angreifen …

Die Desintegration, ja die Destruktion des Staates, oft genug vom Westen betrieben – nicht sein «Zerfall» – ist letztendlich die Folge der neoliberalen Ordnung und des Aufstiegs von nichtstaatlichen Gewaltakteuren. «Sectarianism», die Konfessionalisierung und Ethnisierung von Konflikten, ist die fast unvermeidbare Folge, da sie die letzte Form der Organisation des ökonomischen Überlebens für diese Gewaltakteure und ihre Mitglieder darstellt, indem diese imaginierte oder konstruierte «Andere» schaffen, seien diese nun religiös oder ethnisch definiert. Die «strukturelle Gewalt» (Galtung 1971), die das globale neoliberale System kennzeichnet, wird zur offenen Gewalt auf der untersten, sprich: ärmsten Ebene dieses Systems, in dem der Staat seiner wesentlichen Funktionen entkleidet wurde.

Zivile Konfliktlösung

Zu Beginn dieses Aufsatzes wurde ein Schwerpunkt gelegt auf die EU und ihre Außenhandels- und Investitionspolitik. Ohne Zweifel ist die EU nicht die einzige Kraft, die für die Erosion des Staates in der ehemaligen «Dritten Welt» verantwortlich ist und Elend und Verzweiflung produziert. Verantwortlich sind weitere Faktoren wie Klimawandel und Lang Grabbing. Der Klimawandel ist verantwortlich für das Verschwinden der Viehwirtschaft in der Sahel-Region, wo es seit rd. dreißig Jahren kaum mehr Regenfälle gibt. Er hat die Lebensgrundlage der Nomaden zerstört, die nun Schmuggel und Erpressung zu ihrer Einkommensquelle gemacht haben. Land Grabbing, das von internationalen Finanzakteuren vorangetrieben wird, hat Hunderttausende Bauern und Fischer aus dem Tal des Niger vertrieben und die Ernährungsgrundlage von Millionen Menschen zerstört.

Wenn wir von «Konfliktlösung» sprechen, muss es darum gehen, die tatsächlichen Gründe der Konflikte zu benennen. Ohne die ernsthafte Analyse dieser Gründe wird eine wirksame und dauerhafte Lösung der Konflikte Illusion bleiben, der Wiederaufbau einer Gesellschaft, in der zu leben sich lohnt, wird unmöglich sein. All die schönen Modelle der diskursiven De-Eskalation, der kommunikativen Methoden, das Arbeiten gegen Vorurteile auf ideologischer Ebene werden zum Scheitern verurteilt bleiben, solange die tatsächlichen Konfliktursachen nicht angegangen werden. Diese Ursachen liegen außerhalb der Reichweite der Konfliktparteien selbst, denn sie sind Teil der neoliberalen Weltordnung, einer Ordnung, die erhalten und mit großem Druck aufgezwungen wird durch die internationalen Finanzinstitutionen, Hedge Fonds, die Europäische Union, die Folgen des Klimawandels (Altvater 2005). Diese Gründe wurzeln im Kern des kapitalistischen Systems, des allumfassenden Systems struktureller Gewalt. Die offene Gewalt zeigt sich dann an den ärmsten Rändern des Systems, wo Gewalt, Konflikt, Kriminalität zum letzten Mittel werden, die materielle Grundlage menschlicher Existenz zu sichern. Wir müssen uns fragen, warum so viel Geld (und guter menschlicher Wille) in unterschiedlichste Formen der «Konfliktlösung», der transformative justice etc. etc. investiert, die tatsächlichen Konfliktursachen aber nicht angegangen werden. Sind diese Anstrengungen vielleicht doch nur kosmetische Operationen, die verhindern sollen, dass das Problem an seinen Wurzeln gepackt wird? Die Konsequenz kann nur sein, dieses System radikal zu verändern, um ein für alle Mal die tatsächlichen Konfliktursachen zu eliminieren – und damit all die an der Oberfläche ansetzenden Maßnahmen zur Konfliktlösung überflüssig zu machen.

Diese Feststellung bedeutet nicht, dass auf alle Anstrengungen zur lokalen Konfliktbewältigung, zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit verzichtet werden soll, dass wir aber die sozio-ökonomischen Gründe von Konflikten bei ihrem Namen nennen müssen. Um mehr zu erreichen als kosmetische Verbesserungen, muss Konfliktlösung auf zwei Ebenen bearbeitet werden:

  • In der Arbeit der Versöhnung von gewalttätigen Akteuren vor Ort muss diese Arbeit politisiert werden, indem sie das politische Bewusstsein dieser Akteure entwickelt.
  • Die Ursachen der neoliberalen Unordnung müssen an ihren Wurzeln angegangen werden. Dieser Kampf muss im Norden stattfinden, in den Zentren kapitalistischer Entscheidungsfindung. Er beginnt mit dem Stopp der Waffenexporte und endet mit der Überwindung des herrschenden – neoliberalen – Systems, um dessen verheerende Auswirkungen auf die Menschheit zu beenden. Ein solches Programm hat der im vergangenen Jahr verstorbene Samir Amin (2018) entwickelt.  

Werner Ruf ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Kassel und Mitglied Gesprächskreises Friedens- und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den er auf der Konferenz «Social and Transformative Justice in Conflict and Post-Conflict Settings - a comparative approach» im November 2018 im RLS-Büro Beirut gehalten hat.

Literatur

  • Altvater, Elmar (2005): Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen. Münster: Westfälisches Dampfboot.
  • Amin, Samir (1974): Zur Theorie von Akkumulation und Entwicklung in der gegenwärtigen Weltgesellschaft. In: Senghaas, Dieter (Hg.): Peripherer Kapitalismus. Analysen über Abhängigkeit. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S71 – 97.
  • Amin, Samir (2018): It is imperative to reconstruct the Internationale of workers and peoples (unpublished paper).
  • Baumgratz/Chaabane/Ruf/Telkämper (Eds., 2017): Development by Free Trade? The impact of the European Union’s Neoliberal Agenda on the North African countries. Brussels: Lang.
  • Fanon, Frantz (1969); Die Verdammten dieser Erde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
  • Friedman, Milton and Rose (1980): Free to Chose: New York: Harcourt. The central arguments can be seen in a ten-part TV series
  • Fukuyama, Francis (1992): The End of History and the Last Man, New York: Penguin.
  • Galtung, Johan(1971).: Gewalt, Frieden und Friedensforschung In: Senghaas, Dieter (Hg.): Kritische Friedensforschung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 55 – 104.
  • Heinemann, Friedrich (2018) : Milliarden Euro für nichts ? Hilfen für Europas Bauern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung online, 16.11.2018.
  • Kienle, Eberhard (2019): the New Struggle for Syria and the Nature of the Syrian State. In: Matar, Linda/Kadri, Ali (eds.): Syria: From National Independence to Proxy War. Singapore: Palgrave/Macmillan, pp 53 – 70.
  • Huntington, Samuel P. (1993): The Clash of civilizations. In: Foreign Affairs, Summer, pp. 22 – 49.
  • Marx, Karl (1968): Das Kapital Bd. 1. MEW Bd. 23.
  • Marx, Karl/Engels, Friedrich (1972): Manifest der Kommunistischen Partei. MEW Bd. 4, S. 466.
  • Rigault, Raoul (2009): "Planwirtschaft" ade. Syrien öffnet sich dem "Washington Consensus". Die Folgen: Mehr Konkurrenz, steigende Kriminalität und zunehmende Verarmung, in: Junge Welt, April 27.
  • Ruf, Werner (Ed. 2003): Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg. Opladen: Leske + Budrich.
  • Ruf, Werner (2016): Islamischer Staat & Co. Politik, Religion und globalisierter Terror. Köln: Papyrossa.
  • Ruf, Werner (2017): Neoliberalismus und Unfrieden – eine Kritik der Wirtschafts- und Handelspolitik der EU in: Sicherheit und Frieden Nr. 4, S. 191 -195.
  • Sponeck, Hans-Christian von (2005): Ein anderer Krieg. Das Sanktionsregime der UNO im Irak. Hamburger Edition. Hamburg.