Hintergrund Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - Staat / Demokratie - International / Transnational - Globale Solidarität Das emanzipatorische Nachleben des Blockfreien-Internationalismus

Was können wir vom Geist von Bandung für die Gegenwart bewahren?

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Autor

Paul Stubbs,

Erschienen

Februar 2020

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Kwame Nkrumah und Josip Broz Tito auf dem Weg zur Gründungskonferenz der Blockfreien Bewegung, Belgrad, 1961. CC BY-SA 3.0, Foto: Historical Archive of Belgrade

Obwohl die Blockfreien-Bewegung (BfB) bis heute weiter fortbesteht – ihr 18. Gipfeltreffen fand am 25. und 26. Oktober 2019 in Baku in Aserbaidschan statt –, kann man wohl sagen, dass sie mit dem Ende des Kalten Krieges nach 1989 an Relevanz verloren hat.[1] Zudem zerfiel infolge der Jugoslawienkriege von 1991 bis 1999 eins der wichtigsten Gründungsmitglieder, das sozialistische Jugoslawien, in mehrere  konfliktbeladene souveräne Nationalstaaten. In weiten Teilen des postjugoslawischen Raums versuchte man, die BfB bewusst zu vergessen, zumindest auf Ebene der offiziellen Politik; zum Teil wurde sie auch von regionalen «Beobachtern» gekapert, um einer identitären nationalistischen Politik einen internationalistischen Anstrich zu geben. Auf der anderen Seite macht sich in wissenschaftlichen und aktivistischen Kreisen seit einigen Jahren wieder ein verstärktes Interesse an der BfB bemerkbar, da sie für eine andere Form von Globalisierung steht als das derzeitige neoliberale Programm.[2] Einen Blick auf die BfB zur Zeit des Kalten Krieges zu werfen, ist mehr als nur historisch aufschlussreich. Vielmehr eröffnet die Neubetrachtung der BfB und ihres «Nachlebens»[3] einen produktiven Zugang zu ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungswelten, die in dreierlei Hinsicht wichtig sind. In ihrer vergangenen Manifestation forderten sie die damalige hegemoniale Weltordnung heraus; bewirkten eine Verschiebung der «Zentrum-Peripherie»-Beziehungen; und förderten vor allem eine Form von Selbstbestimmung, die sich jenseits der von den USA beziehungsweise der Sowjetunion angeführten Machtblöcke ausprägen konnte.

Paul Stubbs ist Senior Research Fellow am Institute of Economics in Zagreb, Kroatien. Übersetzung von Utku Mogultay und Lisa Jeschke für Gegensatz Translation Collective.

Der vorliegende Aufsatz behandelt Aspekte der BfB, die für einen heutigen linken und progressiven Internationalismus von Bedeutung sind. Der Aufsatz ist ein versuchsweiser Akt des Dokumentierens, Neuformulierens und Erinnerns; eine zeithistorische Übersetzung, die keine geradlinige «Geschichtsstunde» bietet, sondern einen bescheidenen Vorschlag vorbringt in Richtung einer aktualisierten internationalistischen Ethik und Politik auf Grundlage emanzipatorischer Solidarität – es geht also um eine «Verhandlungstechnik und Überlebensstrategie»,[4] die «die Dinge anderweitig zugänglich [macht]».[5] Am aufschlussreichsten ist dabei wohl, wie viele Aspekte der Blockfreien-Geschichte derzeit in scheinbar neuen linken Theorie- und Politikdebatten wiederaufleben, etwa in Diskursen zu Postkolonialismus, Antirassismus, Intersektionalität oder globaler sozialer Gerechtigkeit, um nur einige Beispiele zu nennen. Natürlich birgt es Risiken, derart zwischen den Jahrzehnten und ihrem jeweiligen Kontext zu springen, darunter etwa die Verklärung der BfB und die Verharmlosung ihres Instrumentalismus, ihrer Widersprüche und blinden Flecken. Bei mir als Vertreter einer historischen Soziologie des sozialistischen Jugoslawiens und als Aktivist der postjugoslawischen Neuen Linken kommt dazu das Risiko, die Rolle Jugoslawiens – im Zuge der anhaltenden Faszination mit seiner ambivalenten Position und «randständigen Hegemonie»[6] – überzubewerten und damit die Perspektiven afrikanischer, asiatischer und südamerikanischer Staaten auszublenden, die fester im antikolonialen Kampf verankert sind.[7] 

Dekolonialismus und Antirassismus

Die Blockfreien-Bewegung war von Anfang an sowohl Resultat als auch Katalysator des Kampfs um die Befreiung vom Kolonialismus. Hervorzuheben wären hier zunächst die schnellen Fortschritte, die bei der Konferenz asiatischer und afrikanischer Staaten im indonesischen Bandung im April 1955 erzielt wurden, gefolgt vom Treffen zwischen Tito, Nasser und Nehru auf der Insel Brijuni im Juli 1956 und dem ersten Blockfreien-Gipfel in Belgrad vom 1. bis 5. September 1961. Eine breiter angelegte historische Perspektive auf die dekolonialen Bestrebungen in Zusammenhang mit der BfB müsste auch den im Februar 1927 in Brüssel abgehaltenen Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus sowie die schon ab 1919 von W. E. B. Du Bois organisierten panafrikanischen Kongresse mitberücksichtigen.[8]

Mit dem Aufstieg des Stalinismus, so könnte man argumentieren, löste sich das enge Band zwischen antikolonialem, antiimperialistischem und antikapitalistischem Kampf, woraufhin die Blockfreien zunehmend für ein unveräußerliches «Selbstbestimmungsrecht» eintraten und forderten, den neuen souveränen Staaten eine freie Entwicklung zu ermöglichen. Die BfB setzte sich für die Unabhängigkeit jedes noch so kleinen Kolonialstaats ein, leistete teilweise Unterstützung beim Kampf gegen die Kolonialherrschaft und warnte vor der Gefahr eines institutionalisierten und internalisierten Neokolonialismus. Gleichzeitig rief Jugoslawien zu «Entideologisierung» und zur Vermeidung jeglichen Hinweises auf «Radikalismus und Extremismus» auf. Dies deckte sich letztendlich mit Indiens Haltung, dass die im Entwurf des bei der Belgrader Konferenz ausgearbeiteten Kommuniqués enthaltene Forderung nach «Beseitigung des Kolonialismus» «zu stark» formuliert sei – trotz Titos Hadern mit dem, was er als Nehrus Restloyalität gegenüber den Briten betrachtete.[9]

Die Gründung des sozialistischen Jugoslawien lässt sich zwar als Ergebnis des «antikolonialen Kampfs»[10] beschreiben, doch Jugoslawiens Unterstützung des Globalen Südens war mindestens genauso eine Folge der affektiven Bindungen zwischen früheren Partisanenkämpfern und guerillageführten Befreiungsbewegungen sowie einer theoretischen Haltung, die den Zusammenhang zwischen politischer Unabhängigkeit und Antiimperialismus betonte.[11] Kirn hat fraglos recht damit, die Verbindung antikolonialer und blockfreier Emanzipationsstrategien als «Öffnung neuer Horizonte und Entwicklung einer revolutionären politischen Subjektposition im globalen Maßstab» darzustellen.[12] Dieser Aspekt des blockfreien Internationalismus hat auch ein bedeutendes Nachleben gefunden, nämlich in Form des neuerwachten Interesses an den Querverbindungen zwischen europäischen und außereuropäischen sozialistischen und postsozialistischen Peripherien und postkolonialen Staaten.[13]

Entscheidend für den heutigen linken Internationalismus ist, dass der Fokus der BfB auf Nord-Süd-Beziehungen mit einer anhaltenden scharfen Kritik an Rassismus und Apartheid (vor allem der in Südafrika) verbunden war. Beim 8. Blockfreien-Gipfel im simbabwischen Harare im September 1986 bekräftigte Samora Machel, dass die BfB die Apartheid als «eine institutionelle Verletzung sämtlicher Menschenrechte» verurteilte, und forderte mehr Unterstützung für den African National Congress und andere demokratische Kräfte «bei der Umsetzung antirassistischer Politik».[14] Die rassifizierte Politik des sozialistischen Jugoslawiens gegenüber der Blockfreien-Bewegung ist weiterhin ein umstrittenes Thema. Catherine Baker verortet den jugoslawischen Antikolonialismus innerhalb eines zutiefst widersprüchlichen geopolitischen und rassifizierten Koordinatensystems: zugleich inner- und außerhalb Europas; betroffen und nicht betroffen vom Kolonialismus; weiß, jedoch «nicht ganz»; mit Blick auf andere BfB-Staaten teils weiterentwickelt, teils mit vergleichbarem Entwicklungsrückstand.[15]

Globale sozioökonomische Gerechtigkeit

Im Vorgriff auf heutige Debatten befasste sich die BfB auch mit globaler sozioökonomischer Gerechtigkeit, vor allem in Reaktion auf die wachsende neoliberale Globalisierung der 1970er Jahre. Auch in dieser Hinsicht bemühte man sich, ein Gleichgewicht zwischen «radikalen» und «moderaten» Stimmen herzustellen. [16] Beim dritten Blockfreien-Gipfel im sambischen Lusaka im September 1970 befand man, dass «die Armut in Entwicklungsländern und ihre ökonomische Abhängigkeit von reicheren Ländern ein strukturelles Defizit der aktuellen Weltwirtschaftsordnung darstellen». Zudem schafften «das Fortbestehen eines ungerechten Weltwirtschaftssystems, das ein Erbe des Kolonialismus ist und mit dem heutigen Neokolonialismus fortgesetzt wird, kaum überwindbare Hürden bei der Befreiung vom Joch der Armut und den Fesseln ökonomischer Abhängigkeit». An die UN wurde appelliert, «internationale Mechanismen in Gang zu setzen, um eine schnelle Transformation der aktuellen Weltwirtschaftsordnung herbeizuführen, insbesondere in den Bereichen Handel, Finanzen und Technologie, damit wirtschaftliche Dominanz der wirtschaftlichen Zusammenarbeit weichen und wirtschaftliche Stärke der Weltgemeinschaft zugutekommen möge».[17]

Jugoslawien war damals führender Vertreter einer eher moderaten Position, weshalb Leo Mates argumentierte, dass «der Graben zwischen und Nord und Süd […] kein Konflikt zwischen antagonistischen gesellschaftlichen Kräften ist, sondern ein Disput zwischen Ländergruppen, die unterschiedliche kurzfristige, aber gemeinsame langfristige Interessen haben».[18] Dieses Argument zielte offenbar auf eine Ausweitung des jugoslawischen Industrialisierungswunders ab, auf Modernisierung der Landwirtschaft, exportgestütztes Wachstum und die Fokussierung auf Güter, deren Marktpreisrelationen für Exportländer grundsätzlich vorteilhafter sind. Das Mittel der Wahl war ein zweigleisiges Entwicklungsmodell, das fairere Handelsbeziehungen für einen Großteil der «Entwicklungsländer» vorsah sowie Hilfsleistungen für die am «schwächsten entwickelten» Länder. In einem Themenpapier, das im Vorfeld des Gipfels von Algiers im Jahr 1973 verfasst wurde, heißt es: «Als sozialistisches, blockfreies Entwicklungsland vertritt Jugoslawien […] den Standpunkt, dass die Hauptverantwortung für die sozioökonomische Entwicklung bei den Entwicklungsländern selbst liegt und an ihre eigenen Bemühungen zur Erreichung der Entwicklungsziele geknüpft ist».[19]

Als die Ölpreiskrise Anfang der 1970er Jahre die Einigkeit der Blockfreien auf die Probe stellte,[20] plädierte Tito für die Einrichtung eines Fonds, in den die ölreichen Staaten einzahlen würden, um den 25 am schwächsten entwickelten Ländern zu helfen. Er behielt dabei auch Jugoslawiens Situation im Auge und forderte stärkere Maßnahmen zur Schuldenabschreibung sowie spezielle Anreize, um jugoslawische Firmen zu Geschäften mit schwach entwickelten Staaten zu bewegen. Mit dem Aufruf zur «Liberalisierung der Marktbeziehungen», der Schwerpunktsetzung auf regionalen Handel und der Priorisierung von Infrastrukturprojekten mit «größerem Potenzial für kurzfristige Akkumulation» verknüpfte das sozialistische Jugoslawien seine Vision einer neuen internationalen Wirtschaftsordnung mit der heimischen Wirtschaftspolitik. Trotz des jugoslawischen Instrumentalismus gelang es der BfB insgesamt, die globale Debatte – zu einem gewissen Grad – vom Ölpreis hin zur Bepreisung sämtlicher Rohstoffe zu öffnen und einen Diskursraum zu schaffen, in dem Fragen der globalen Finanzmärkte, der Geldpolitik, der Rolle multinationaler Konzerne und des Zugangs zu wissenschaftlichen und technischen Innovationen diskutiert werden konnten.  

Eine institutionelle Kopplung von «sozialistischer» und «neoklassischer» Globalisierung[21] folgte mit den G-77, der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD), der UN-Wirtschaftskommission für Europa (von 1960 bis 1982 unter der Leitung jugoslawischer Diplomaten)[22] und nicht zuletzt dem, was als Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO) bekannt geworden ist.[23] TIn diesem Rahmen folgte man einem evolutionistischen und staatszentrierten Modell der Entwicklung,[24] das die in heutigen Debatten verhandelten Widersprüche in Bezug auf «nachhaltige Entwicklung» bereits erkennen ließ, wobei man nicht auf Themen wie Klimawandel oder planetarische Grenzen zu sprechen kam. Ohne übermäßig auf Selbstverwaltung oder das jugoslawische Sozialstaatsmodell zu drängen,[25] brachte diese Vision sozioökonomischer Gerechtigkeit, die bestimmte Formen von Regulierung, Rechten und Umverteilung[26] artikulierte, die Konturen eines Raumgefüges zum Vorschein, das zwar nicht wirklich global war, aber über bloßen Regionalismus hinausging.[27]

Für eine friedliche Welt ohne Atomwaffen

Einen Tag vor Eröffnung der Belgrader Konferenz zündete die Sowjetunion eine Atomwaffe am nördlichen Polarkreis – der Beginn eines weiteren Testprogramms. Für die Blockfreien war das eine deutliche Mahnung, entgegen der Aufteilung der Welt in zwei Machtblöcke als «moralische Instanz»,[28] die für «allgemeine und vollständige Abrüstung» eintritt, aufzutreten.[29] Der Auftrag der BfB, die atomare Vormachtstellung der Supermächte sowie Militarismus und Wettrüsten zu beenden, war eng verbunden mit den Prinzipien der Selbstbestimmung, der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten und vor allem auch der Streichung von Waffenausgaben zugunsten der Überwindung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Nöte.[30] Allerdings verkaufte das sozialistische Jugoslawien zugleich eigenproduzierte Waffen an andere blockfreie Staaten und fungierte als Zwischenhändler bei Waffenverkäufen.[31]

Zu den seit Bandung entwickelten Gründungsprinzipien der BfB gehörte das Ziel der friedlichen Lösung sämtlicher bewaffneter Konflikte in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen. In Hinblick auf atomare Nichtverbreitung und das Gebot friedlicher Konfliktlösung verfolgte die BfB dabei schon immer eine Mischung aus Prinzipientreue und Pragmatismus.[32] Manchmal bot man bei bewaffneten Konflikten Unterstützung an; allzu oft war man unfähig, einen Frieden auszuhandeln, wenn in oder zwischen Blockfreien-Staaten Konflikte entbrannten; und man agierte inkonsequent, wenn die Sowjetunion, die USA, China oder gar der Blockfreien-Staat Kuba andere Länder militärisch bedrohten.[33] Die prinzipielle Ablehnung von atomarer Verbreitung und bewaffnetem Konflikt ist aber auch in der heutigen Welt so bedeutend wie zu Zeiten des Kalten Krieges, genauso wie der Blockfreien-Bewegung ihre anhaltende Beschäftigung mit der Lage Palästinas hoch anzurechnen ist.

Reform der Vereinten Nationen

Heutzutage wird gerne vorgebracht, dass eine progressive Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sowie die Friedensförderung in einer vernetzten Welt auf ein zweckgemäßes System der Global Governance angewiesen sind und dass die Vereinten Nationen in ihrer jetzigen Form diesem Anspruch nicht gerecht werden.[34] Als Tito 1970 am Rande des vierten Blockfreien-Gipfels in Lusaka gegenüber Haile Selassie anmerkte, dass «die halbe UN hier ist», war seine Feststellung etwas voreilig.[35] Am Gipfel von Algiers drei Jahre später nahmen 76 blockfreie Staaten teil, wobei die Gesamtzahl der UN-Mitgliedstaaten 135 betrug. Die BfB war zu keiner Zeit eine «UN-Zweigstelle»;[36] vielmehr arbeiteten die Blockfreien, wie Amílcar Cabral bereits 1964 betonte, für die «Befreiung» der UN; Ziel war, ihre Strukturen radikal zu reformieren und erneuern, damit sich «ein Riese mit gefesselten Händen» zu einer Organisation wandeln könne, die solch «ehrenhaften Anliegen wie Freiheit, Brüderlichkeit, Fortschritt und dem Wohle der Menschheit» dient.[37] In der 1970 in Lusaka verabschiedeten Resolution wurde dieser Punkt deutlich hervorgehoben: «Die Konferenz ist überzeugt, dass es besonders wichtig ist, die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen zu stärken, damit sie auf wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Feldern eine wirksame Rolle spielen kann […]. Die anwesenden Länder drängen auf weitere Bemühungen, um eine gleichwertige geografische Vertretung in den unterschiedlichen UN-Organen und UN-Sonderorganisationen zu sichern.»[38]

Der Fokus der BfB lag darauf, die UN universeller und ihre Organe repräsentativer zu gestalten, obgleich zur selben Zeit internationale Finanzinstitutionen zunehmend – und zunehmend intransparent – an Macht gewannen. In Hinblick auf die Rolle der Vetomächte im Sicherheitsrat setzte sich die BfB dafür ein, die Zahl der nichtständigen Mitglieder zu erhöhen. Ebenso forderte man eine höhere Mitgliederzahl für den Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) und mehr Machtbefugnisse für Generalversammlung und ECOSOC gegenüber dem Sicherheitsrat. Durch ihre Lobbyarbeit, ihr geschlossenes Votieren und das Koordinieren ihres Handelns im Vorfeld von UN-Generalversammlungen prägten die Blockfreien-Staaten eine Reihe von Entwicklungen: Die Gründung der Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) im Jahr 1964; die prominente Stellung des Selbstbestimmungsrechts im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966; und sogar die Wiederaufnahme der Volksrepublik China in die UN im Jahr 1971.[39] Auch das Engagement von staatsorientierten jugoslawischen Feministinnen wie Vida Tomšič im Rahmen der UN-Dekade der Frau (1975–1985) zeigt, wie wichtig es ist, progressive Forderungen in Bezug auf Frauenrechte, Arbeitsmärkte und soziale Sicherheit miteinander zu verknüpfen.[40]

Blockfreiheit von unten: Kulturelle Austauschprozesse

Schließlich gilt es auch die Bedeutung einer «Blockfreiheit von unten» zu würdigen, die manifest wurde in «Austauschprozessen im Bereich Wissenschaft, Kunst und Kultur, Architektur und Industriegestaltung» mit «zumindest gradueller Autonomie gegenüber dem politischen Metanarrativ», genauso wie in Jahrzehnten des Studierendenaustausches.[41] Die 2019 erstmals in Ljubljana gezeigte Ausstellung Southern Constellations legte den Fokus auf die historische und aktuelle Bedeutung künstlerischer Austauschprozesse, die die Hegemonie westlicher Kunst und den Kulturimperialismus infrage stellen und zu kulturellem Pluralismus und Hybridität aufrufen.[42] Das Nachzeichnen der blockfreien Kulturnetzwerke ist ein wichtiger Akt der Dokumentation und Erinnerung in einer Zeit, in der der postjugoslawische Raum vor dem Hintergrund einer umfassenden «Europäisierung» oft nur als «Peripherie» wahrgenommen wird. Das, was man als «das Nachleben der weltweiten blockfreien Verflechtungen Jugoslawiens»[43] beschrieben hat und was heute noch in Solidarität und Unterstützung auf der sogenannten «Balkanroute» durchscheint, fordert weiterhin eine von Grenzen und Ausschlussmechanismen beherrschte Welt heraus und erlaubt uns zugleich, unsere Auseinandersetzung mit «anderen Hoffnungs- und Handlungshorizonten» fortzusetzen, in denen «eine andere Welt möglich ist».[44]

Multilateralismus, wohin des Weges?

Die Beschäftigung mit der Blockfreien-Bewegung während des Kalten Krieges ist hilfreich, um das dominante Narrativ zu durchbrechen, dass eine bipolare Weltordnung durch ein multipolares System ersetzt worden wäre. Die Idee, dass ein hierarchisch organisiertes Bündnis neutraler Nationalstaaten eine Art Oppositionsmonopol gegen hegemoniale Bedrohungen des Selbstbestimmungsrechts hat, mag mittlerweile überholt erscheinen, doch die Lehren aus der Blockfreien-Geschichte können weiterhin emanzipatorische Vorstellungswelten evozieren. Vor allem mit Blick auf die Blockfreien-Hochphase wird deutlich,  wie wichtig es ist, den Widerstand gegen die globale Unordnung im Rahmen eines «lose geknüpften, weltweiten Netzwerks internationalistischer und antiimperialistischer Bewegungen» aufzubauen.[45] Die BfB gemahnt uns heute jedenfalls an die Dringlichkeit einer multilateralen internationalen Ordnung, die auf gemeinsam beschlossenen Regeln basiert, und an die Notwendigkeit, «Staub aufzuwirbeln», wann immer Ideal und Wirklichkeit auf unerträgliche Weise auseinanderklaffen.[46] In der heutigen Welt multipler Supermächte sind die Neuformulierung «politisierter Neutralität» und internationalistischer Solidaritäten, die sowohl die Hegemonie nördlicher und westlicher Staaten als auch die imperialen Ambitionen Chinas und Russlands infrage stellen, zudem nicht auf Fehlannahmen zur «Überlegenheit» eurozentrischer Konzepte, Traditionen und Praktiken bauen, zweifellos wichtiger als je zuvor.[47]


[1] Ich danke Catherine Baker, Loren Balhorn, Bojan Bilić, Chiara Bonfiglioli, Agustín Cosovschi, David Henig, Rada Iveković und Vladimir Unkovski-Korica für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer Entwurfsfassung dieses Artikels. Für die vorliegende Fassung trage natürlich ich allein die Verantwortung.

[2] Stubbs, Paul (2019): Socialist Yugoslavia and the Antinomies of the Non-Aligned Movement, in: LeftEast, 17. Juni 2019; Bockman, Johanna (2016): A Variety of Globalizations, in: The Sociologist, 4. Januar 2016.

[3] Ross, Kristin (2002): May ’68 and its Afterlives. Chicago: Chicago University Press.

[4] Iveković, Rada (2005): Transborder Translating, in: Eurozine, 14. Januar 2005, S. 2.

[5] Iveković, Rada (2002): Über permanente Übersetzung (Wir werden übersetzt), übers. v. Hito Steyerl, in: Transversal, Juni 2002.

[6] Stubbs (2019).

[7] Ich danke Agustín Cosovschi für diesen Hinweis.

[8] Dinkel, Jürgen (2019): The Non-Aligned Movement: Genesis, Organization and Politics (1927–1992). Leiden: Brill..

[9] Archiv Jugoslawiens, Belgrad: KPR I-4-a/5.

[10] Kirn, Gal (2019): Partisan Ruptures: Self-Management, Market Reform and the Spectre of Socialist Yugoslavia. London: Pluto, S. 34.

[11] Kardelj, Edvard (1979): The Historical Roots of Non-Alignment. Belgrad: STP.

[12] Kirn (2019), S. 87.

[13] Mark, James/Kalinovsky, Artemy M./Marung, Steffi (Hrsg.) (2020): Alternative Globalizations: Eastern Europe and the Postcolonial World. Indiana: University Press.

[14] Machel, Samora (1987): Apartheid Must Be Eradicated, in: The Black Scholar, 18 (2), S. 25–33.

[15] Baker, Catherine (2018): Race and the Yugoslav Region: Postsocialist, Post-Conflict, Postcolonial? Manchester: Manchester University Press.

[16] Willetts, Peter (1981): The Non-Aligned in Havana. London: Frances Pinter.

[17] Non-Aligned Movement (1971): Resolutions of the Third Conference of Non-Aligned States, Lusaka. Johannesburg: The South African Institute of International Affairs.

[18] Mates, Leo (1972): Nonalignment. Theory and Current Politics. Belgrad: Institut für internationale Politik und Wirtschaft.

[19] Archiv Jugoslawiens, Belgrad: KPR I-4-a/12, Dokument über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der SFRJ und den Entwicklungsländern, 22. März 1973.

[20] Bernard, Sara (2019): Oil Shocks, Migration and European Integration: A (Trans)National Perspective on the Yugoslav Crises of the 1980s, in: National Identities, 21 (5), S. 463–484.

[21] JBockman, Johanna (2011): Markets in the Name of Socialism: The Left-Wing Origins of Neoliberalism. Stanford: Stanford University Press.

[22] Spaskovska, Ljubica (ersch. 2020): Constructing the «City of International Solidarity»: Non-Aligned Internationalism, the United Nations and Visions of Development, Modernism and Solidarity, 1955–1975, in: Nationalities Papers.

[24] Ramšak, Jure (ersch. 2020): Yugoslavia and Economic Cooperation with Developing Countries: An Attempt to Change North-South Dynamics, in: Nationalities Papers.

[25] Stubbs, Paul (2018): Reflections on Marxism and Welfare: East and West, in: LeftEast, 7. November 2018.

[26] Deacon, Bob/Hulse, Michelle/Stubbs, Paul Stubbs (1997): Global Social Policy: International Organizations and the Future of Welfare. London: Sage.

[27] Stubbs, Paul/Kaasch, Alexandra (2014): Global and Regional Social Policy Transformations: Contextualizing the Contribution of Bob Deacon, in: Kaasch, A./Stubbs, P.  (Hrsg.): Transformations in Global and Regional Social Policies. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 1–16; Yeates, Nicola (2014): The Socialization of Regionalism and the Regionalization of Social Policy: Contexts, Imperatives and Challenges”, in: ebd., S. 17–43.

[28] Jansen, G. H. (1966): Nonalignment and the Afro-Asian States. New York: Praeger.

[29] Tito, Josip Broz (1963): Selected Speeches and Articles, 1941–1961. Zagreb: Naprijed, S. 334.

[30] Singham, A. W./Hune, Shirley (1986): Non-Alignment in an Age of Alignments. London: Zed, S. 346.

[32] Potter, William/Mukhatzhanova, Gaukhar (2012): Nuclear Politics and the Non-Aligned Movement: Principles v. Pragmatism. London: IISS.

[33] Jakovina, Tvrtko (2011): Tito’s Yugoslavia as the Pivotal State of the Non-Aligned, in: Institut za noviju istoriju Srbije (Hrsg.): Tito – viđenja i tumačenja: zbornik radova. Belgrad: INS, S. 389–404.

[34] O’Brien, Robert et al (2000): Contesting Global Governance: Multilateral Economic Institutions and Global Social Movements. Cambridge: University Press, 2000; Deacon, Bob (2007): Global Social Policy and Governance. London: Sage.

[35] Archiv Jugoslawiens, Belgrad: KPR I-4-a/9.

[36] Prashad, Vijay (2007): The Darker Nations: A Biography of the Short-Lived Third World. New Delhi: LeftWord, S. 116.

[37] Cabral, Amílcar (1964): National Liberation and Peace, Cornerstones of Non-Alignment, in: Extracts from a Speech Made in Cairo to the 2nd Conference of Non-Aligned Countries.

[38] Non-Aligned Movement (1971).

[39] Jackson, Richard (1983): The Non-Aligned, the UN and the Superpowers. New York: Praeger; Willetts, Peter (1978): The Non-Aligned Movement: The Origins of a Third World Alliance. London: Pinter.

[40] Bonfiglioli, Chiara (2016): On Vida Tomšič, Marxist Feminism and Agency, in: Aspasia, 10, S. 145–151.

[41] Stubbs (2019).

[42] Piškur, Bojana (2019): Southern Constellations: Other Histories, Other Modernities, in: Southern Constellations: The Poetics of the Non-Aligned. Ljubljana: Moderna Galerija, S. 9–24, hier S. 15.

[43] Henig, David (Nov. 2019): New Borders, Old Solidarities: (Post-) Cold War Genealogies of Mobility along the «Balkan Route». Vortrag beim American Anthropological Association Congress, Vancouver, Kanada.

[44] Ebd.

[45] Wyss, Marco et al (2016): Introduction: A Tightrope Walk – Neutrality and Neutralism in the Global Cold War, in: Bott, Sandra et al (Hrsg.): Neutrality and Neutralism in the Global Cold War: Between or Within the Blocs. London: Routledge, S. 1–14, hier S. 3.

[46] Fejić, Goran (2020): The Demise of (State) Multilateralism in a Multi-Polar World, in: Ici et ailleurs, 14. Januar 2020.

[47] Vesić, Jelena/O’Reilly, Rachel/Jerić Vlidi, Vladimir (2018): On Neutrality, in: Non-Aligned Modernisms, Band 6. Belgrad: Museum of Contemporary Art, S. xiv.