"Les Misérables" und der Staat als guter Gärtner
Über drei Beiträge zu den Französischen Filmwochen. | Aufgrund der Corivid-19-Pandemie sind die für April geplanten französischen Filmwochen, an der wir uns wie im letzten Jahr beteiligen, auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Viele der Filme, die dort gezeigt werden sollen, sind nicht verfügbar – wir freuen uns umso mehr, Euch dann wieder in richtigen Kinos zu sehen. Einen kleinen Vorgeschmack auf das Kommende gibt in seinem Beitrag unser Autor Daniel Kulla.
Im unzählige Male als Film, Musical, Musicalverfilmung und zuletzt als Familien-Corona-Lockdown-Video adaptierten Buch "Les Misérables" von Victor Hugo, mit dem er seine Beteiligung an der Niederschlagung der Revolution von 1848 wiedergutzumachen suchte, riegelt die Staatsgewalt ganz Paris ab und wendet (im heutigen Polizeideutsch) "unverhältnismäßige Mittel" an. Es soll ein ehemaliger Sträfling gefangen werden - der ist mittlerweile der nun angesehene Bürgermeister, der sich den Ober-Polizisten zum Feind gemacht hat, als er dessen ungerechte Behandlung einer Armen aufdeckte und zu stoppen versuchte.
Im neuesten "Les Misérables" - im Programm der diesjährigen Französischen Filmwochen Sachsen-Anhalt, die im April hätten starten sollen - zeigt Regisseur Ladj Ly, wie die Staatsgewalt in einem Vorort von Paris gewohnheitsmäßig das Recht beugt, besonders Jugendliche schikaniert und schließlich Jagd auf eine Drohnenaufnahme macht, die dokumentiert, wie Polizisten bei einer Auseinandersetzung ein Kind mit Gummigeschossen schwer verletzen. Wie bei Hugo geschieht das alles vor dem Hintergrund von Armut und Revolte, dem Ly biographisch verbunden ist. Er wuchs selbst im gezeigten Stadtviertel auf, dokumentierte dort die Unruhen von 2005 ("365 Tage in Clichy-Montfermeil") und machte eine Drohnenaufnahme, anhand derer Jahre später zwei Polizisten eines Übergriffs überführt werden konnten.
Ly hat mit Profi- und Laienschauspielern aus dem Viertel gedreht und führt mit Handkamera in dokumentarischem Stil möglichst ohne Klischees durch seine Welt, in der "nicht alles runtergekommen" ist, "es kommen keine Drogen vor und keine Waffen, jedenfalls keine Schießereien." Alle sind hier Teil der Gewaltspirale, Polizisten wohnen selbst im Viertel, sind schlecht bezahlt. Diese weitgehend unparteiische Anklage wurde bis in offizielle Sphären hinein populär - Präsident Macron zeigte sich "überwältigt von der Richtigkeit", der Film wurde als Beitrag Frankreichs für die Oscarverleihung 2020 eingereicht.
Erst im Interview mit der "Zeit" erfuhr Ly, dass der Film in Deutschland "Die Wütenden" heißt, und erklärte, dass darin "der Aspekt der Not und des Elends" fehle: "Und das ist ja immerhin der Grund für die Wut in meinem Film."
Schon letztes Jahr waren zwei Sozialkonflikt-Filme von Stephane Brizé im Programm der Französischen Filmwochen, die für den deutschen Verleih umgetauft worden sind. Aus "Le loi du marché" ("Das Gesetz des Marktes") von 2015 wurde so "Der Wert des Menschen", was die noch eher moralische Aussage dieser eindringlichen Darstellung von Arbeitsmarkt und sozialem Abstieg verstärkte. Das Arbeitskampf-Dokudrama "En Guerre" ("Im Krieg") von 2018, in dem Brizé im Zuge der realen Massenstreiks in Frankreich nun viel offensiver die Konfrontation der Klassen angesichts einer drohenden Betriebsschließung herausstreicht, heißt deutsch schlicht "Streik".
Das Ende von "Les Misérables" hat Ly kurz vor einer möglichen Eskalation offengelassen, was an den Schluss des großen Vorstadtunruhe-Klassikers "La Haine" ("Hass") von 1995 erinnert, und zitiert nun noch einmal direkt Hugo: „Merkt Euch, Freunde! Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen. Es gibt bloß schlechte Gärtner.“ Als guten Gärtner hat Ly offenbar Claude Dilain im Sinn, der von 1995 bis 2011 sozialistischer Bürgermeister von Clichy-sous-Bois war, und über den er als nächstes ein Biopic machen will, "weil er wichtig war. Er hat sich reingehängt. Und es ist auch eine Möglichkeit, von den Unruhen von 2005 zu erzählen." Aus Dilains Projekten einer "Nachbarschaftspolizei" wurde wie aus dem nach 2005 aufgelegten Sozialprogramm einer "Rènovation Urbaine" nichts - Ly sagt, die Lage habe sich seither noch verschlechtert, weitere Einrichtungen wurden geschlossen, Mittel gestrichen.
Insofern reicht der moralische Appell in der Tradition Hugos wohl nicht aus. Brizé zeigt, dass durch ein illusionsloseres Bild vom Staat mehr gewonnen werden kann, sich nicht auf den guten Gärtner verlassen werden sollte, sondern jedes Stück vom Garten organisiert erstritten werden muss. Sein Motto-Zitat für "En guerre" ist entsprechend das bekannte von Brecht: "Wer nicht kämpft, hat schon verloren".
Daniel Kulla