Die Berliner Verkehrspolitik ist in Bewegung. Im Juni 2016 hat die Initiative Volksentscheid Fahrrad nach nur einem Monat mehr als 100.000 Unterschriften eingereicht, obwohl nur 20.000 notwendig waren. Ihr Ziel griff die kurze Zeit später gebildete rot-rot-grüne Berliner Landesregierung auf: Sie erarbeitete in einem partizipativen Prozess ein Mobilitätsgesetz, das bundesweit als Vorbild gilt. Das neuartige Gesetz räumt Bus und Bahn, Rad- und Fußverkehr klaren Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr ein und formuliert dafür zahlreiche Maßnahmen. Damit nimmt sich die Koalition nichts weniger als den Umbau der autogerechten Stadt zu einer Metropole des Umweltverbunds vor, das heißt des öffentlicher Nahverkehrs sowie des Rad- und Fußverkehrs. Das ist ein wichtiger Schritt zu mehr Mobilitätsgerechtigkeit. Denn Wohlhabende, Männer und Erwerbstätige fahren überdurchschnittlich viel Auto, während Ärmere, Frauen, Junge und Alte stärker den öffentlichen Nahverkehr nutzen. Gleichzeitig sind vor allem ärmere Menschen aus abgehängten Quartieren von den zahlreichen negativen sozial-ökologischen Folgen des Autoverkehrs betroffen.
Ein großer Teil der Berliner*innen will die Verkehrswende, die Fahrradbewegung ist stark, die Presse berichtet positiv über deren Anliegen und auch Rot-Rot-Grün trägt das Projekt. Doch die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes kommt nicht voran. Sie stößt auf viele Hindernisse und Konflikte. Die verkehrspolitischen Initiativen kritisieren, dass die einzelnen Projekte des Gesetzes nur schleppend und ungenügend umgesetzt werden. Das liegt zum einen an den eingespielten Strukturen der Verwaltung, die ambitionierte Veränderungen ausbremsen. Zum anderen wollen viele Autobesitzer*innen ihren Pkw nicht aufgeben. Einige wehren sich, wenn der Umbau des Verkehrssystems in ihren Kiezen konkret wird. Die Berliner Mobilitätswende geht weiter, droht in den mühsamen Auseinandersetzungen um jede einzelne Maßnahme und jeden Kiez aber ihre anfängliche Dynamik und Aufbruchsstimmung zu verlieren.
In der vorliegenden Analyse werden die Debatten um Autogesellschaft, neue Mobilitätsdienstleistungen und Verkehrswende wiedergegeben und empirische Erkenntnisse zur Mobilitätsungerechtigkeit in Deutschland und Berlin präsentiert. Darauf aufbauend werden die Entstehungsgeschichte sowie die wesentlichen Inhalte des Mobilitätsgesetzes vorgestellt. Im Hauptteil der Analyse werden die zentralen Konfliktpunkte der Berliner Verkehrswende in den Feldern öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV), Rad- und Fußverkehr sowie motorisierter Individualverkehr nachgezeichnet und am Beispiel besonders umkämpfter Kieze veranschaulicht. Abschließend wird eine theoretisch informierte Analyse der politischen Potenziale und Widerstände gegen die Berliner Mobilitätswende vorgenommen. Und es werden strategische Empfehlungen formuliert, wie sich die Blockaden überwinden ließen. Die Analyse basiert auf einer Auswertung von Fachliteratur, Presseartikeln und 13 eigens geführten Interviews mit Vertreter*innen von umwelt- und verkehrspolitischen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen (NGO), Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, Parteien und Behörden sowie der kritischen Verkehrswissenschaft.