Die Corona-Pandemie dauert an. Die Reaktionsweise der Politik auf die Pandemie zu betrachten ist aufschlussreich – ebenso wie die Radikalisierung der Kritiker*innen der Schutzmaßnahmen zu beobachten. Mit den ersten Infektionen und den Bildern aus dem italienischen Bergamo im März 2020 begann zunächst ein medialer Wettlauf um die schärfsten Eindämmungsverordnungen und Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte bis hin zum Lockdown – die Politik folgte diesem medialen Wettlauf und begab sich in eine Verschärfungslogik, ohne die Ergebnisse weniger eingriffsintensiver Maßnahmen abzuwarten. Mit dem Rückgang der Infektionszahlen und der Erfahrung, dass das Gesundheitswesen mit der Behandlung der Infizierten in Deutschland nicht überfordert ist, begann im Juli 2020 wiederum ein medialer Wettlauf um die schnellsten Lockerungen – wieder folgte die Politik dieser Logik, ohne dass die Widersprüchlichkeit der ergriffenen Maßnahmen von den politisch Verantwortlichen erklärt oder Gegenstand der Diskussion wurde. Parallel dazu entwickelten sich die ersten größeren Proteste gegen Infektionsschutzmaßnahmen wie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im April und Mai 2020 – häufig initiiert von sehr heterogenen Bündnissen, zu denen neben Reichsbürger*innen, Nazis, Antisemit* innen und Querfrontanhänger*innen auch Impfgegner*innen gehören. Die Demonstration am 29. August 2020 in Berlin hat gezeigt, dass dieser Protest mittlerweile weitgehend von Nazis übernommen worden ist. Der Schutz der Grund- und Freiheitsrechte wird hier vorgeschoben, um alle möglichen anderen Agenden zu verfolgen.
Halina Wawzyniak war von 2009 bis 2017 Bundestagsabgeordnete und von 2013 bis 2017 rechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der LINKEN. Sie ist Volljuristin und arbeitet bei der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin.
Udo Wolf ist seit 2001 Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE. des Berliner Abgeordnetenhauses und Mitglied des Rechts- und des Sportausschusses. Von 2009 bis Juni 2020 hatte er den Fraktionsvorsitz inne.
In linken Kreisen, aber auch gesamtgesellschaftlich hat sich eine Grundhaltung breitgemacht, bei der kritische Nachfragen zur Faktenbasiertheit der Maßnahmen oder Forderungen nach der Wahrung von Grund- und Freiheitsrechten, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, schnell denunzierbar wurden und tatsächlich auch denunziert wurden. Das stellt eine immense Gefahr für linke und bürgerrechtlich orientierte Politik dar. Seit dem Ende der Sommerferien, der Rückkehr vieler Urlauber*innen und der Intensivierung der Tests steigen die Infektionszahlen wieder an. Damit geht erneut ein mediales Wettrüsten um die absurdesten Einschränkungsmaßnahmen einher, dem die Politik teilweise folgt. Zu denken ist hier an die Forderung nach Alkoholverboten oder Sperrstunden. Bei den neuesten Maßnahmen wiederholt sich im Kern der Prozess der ersten Maßnahmenwelle zur Verhinderung der Ausbreitung des Corona-Virus.
Die gesellschaftliche Linke ist, ebenso wie die Partei DIE LINKE, seit Beginn dieser Auseinandersetzungen insgesamt paralysiert. In ihren Reihen gibt es Leugner*innen des Corona-Virus oder der von ihm ausgehenden Gefahren ebenso wie «Vernunftpaniker*innen» und Menschen, die auch in der Krise Gebrauch von einer Fähigkeit machten, die Linke eigentlich auszeichnet: Fragen zu stellen. Fragen zu stellen ist etwas anderes, als die Existenz eines Virus infrage zu stellen. Fragen zu stellen bedeutet zu hinterfragen. Schon Karl Marx wusste: «De omnibus dubitandum.» (An allem ist zu zweifeln.)
In einer Zeit, in der die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verbreitung, Gefahr und Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen gegen das Virus fast täglich aktualisiert werden und demzufolge auch politische Maßnahmen angepasst werden müssen, ist es sinnvoll, Fragen zu stellen. Nicht zuletzt, weil es eine zentrale Aufgabe der Linken in der Corona-Krise ist, die großen Linien zusammenzudenken: Gesundheitsschutz, soziale Absicherung inklusive staatlicher Vorsorge und Schutz von Grund- und Freiheitsrechten.
Jede Maßnahme daraufhin zu überprüfen, welche unerwünschten Wirkungen und Nebenwirkungen sie in anderen gesellschaftlichen Bereichen haben kann, das abzuwägen war unter anderem auch eine Forderung des Virologen Christian Drosten an die staatlichen Stellen zu Beginn der Pandemie. Er selbst hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Maßnahmen, die aus virologischer Sicht sinnvoll erscheinen, um die Pandemie einzudämmen, sozialpolitisch und ökonomisch verheerende Auswirkungen haben können. Er plädierte deshalb für interdisziplinär zusammengesetzte Beratergremien, die die Maßnahmen abwägen, um keine gefährlich eindimensional motivierten Entscheidungen zu treffen.
Katastrophen, seien es Naturkatastrophen oder Seuchen, dürfen, wenn es um Perspektiven von links geht, nicht nur fachborniert eindimensional betrachtet werden. Linke Politik nimmt alle gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen in den Blick. Und sie handelt in diesen Verhältnissen. Das gilt in Katastrophenzeiten umso mehr. Ein solcher Ansatz muss jetzt von linker Seite entwickelt werden. Denn die Corona-Pandemie wird nicht die letzte Notlage sein, die Politik zu bewältigen hat. Es kann eine zweite oder dritte Corona-Welle geben, es kann aber als nächstes auch eine gesellschaftlich selbstverschuldete Notlage entstehen, beispielsweise durch fehlendes Trinkwasser oder eine Dürre. Was längst Realität in den armen Ländern des globalen Südens ist, kann schon bald auch in den reichen Ländern des globalen Nordens passieren. Der Klimawandel kann ganz konkret werden.