Im Sommer 2020 wurden zwei Gesetze verabschiedet: Das «Kohleausstiegsgesetz» regelt die Abschaltung deutscher Kohlekraftwerke bis zum Jahr 2038, das parallel dazu verabschiedete «Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen», wie die milliardenschweren Finanzhilfen zur Förderung des Strukturwandels in den am meisten vom Kohleausstieg betroffenen Regionen verteilt werden sollen. Ersteres steht in der Kritik, weil die als Kohlekompromiss beschlossenen Schritte bei Weitem nicht ausreichen werden, um die nötigen CO2-Einsparungen zu erzielen, und mit üppigen Entschädigungen für die Energiekonzerne erkauft wurden. Zudem ist fraglich, ob mit den gesetzlich festgelegten Konditionen der Mittelvergabe manche Gruppen und Interessen nicht eindeutig bei der Gestaltung des Strukturwandels benachteiligt werden.
Diese Studie befasst sich aus einer sozialökologischen Perspektive mit der aktuellen Umsetzung des sogenannten Kohlekompromisses im Rheinischen Braunkohlerevier in Nordrhein-Westfalen. Das heißt für uns anzuerkennen, dass der Kohleausstieg möglichst schnell erfolgen muss, dabei aber auch die Interessen der in der Industrie Beschäftigten zu beachten sind. Gleichzeitig gilt es, die Grenzen des Wachstums zu akzeptieren und sich auf die Suche nach wirklich innovativen Alternativen im sozialen und ökologischen Sinne zu begeben. Dies lohnt sich im Rheinischen Revier besonders, weil diese Region erstens als Vorbild für den Strukturwandel in anderen Teilen Deutschlands gesehen wird, zweitens weil dort eine aktive und kritische Zivilgesellschaft existiert und drittens weil dort eine Reihe von Konflikten – insbesondere die enorme Macht von Energiekonzernen wie RWE – sichtbar wird, mit denen sich auch linke Politik auseinandersetzen muss. Die Studie leistet Folgendes:
Erstens gibt sie einen Überblick zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Kohleausstieg und regionalen Strukturwandel und setzt sich kritisch mit den wissenschaftlichen und politischen Diskursen, die diese begleiten, auseinander. Dabei wird klar, dass die Diskussionen um den Strukturwandel von einem verengten Verständnis von regionaler Entwicklung geprägt sind. So geht es vorrangig um die Förderung von Innovationen und neuen Geschäftsmodellen auf der Basis «grüner Technologien», zum Beispiel Wasserstoffantrieben oder nachwachsender Rohstoffe in der Bioökonomie. Diese sollen, vor Ort entwickelt, neue Arbeitsplätze generieren und regionale Unternehmen fit für den internationalen Wettbewerb machen (oder halten). Dafür sollen verschiedene Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik in einem koordinierten Prozess zusammenarbeiten. Dabei wird die vorherrschende desaströse Wirtschaftsweise nicht hinterfragt, aber auch die Interessen der Beschäftigten spielen hier nur eine nebensächliche Rolle.
Zweitens analysiert die Studie die wirtschaftlichen Strukturen sowie aktuellen Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse und Akteurskonstellationen im Rheinischen Revier. Die sogenannte Zukunftsagentur Rheinisches Revier (ZRR) fungiert hier als Forum für die Erarbeitung von Konzepten, aber auch für die Entwicklung von Projektideen. Bis zum Sommer 2020 – dem Redaktionsschluss dieser Studie – wurden in einer ersten Runde 83 Projekte als grundsätzlich förderfähig eingeschätzt. Dieser Prozess lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln kritisieren, besonders frappant ist jedoch der Charakter der ZRR als privatwirtschaftlich organisierte Organisation, die ohne umfassende demokratische Kontrolle zentrale Weichen für die Zukunft der Region stellt. Problematisch aus linker Sicht erscheint zudem der erhebliche Einfluss von RWE und des derzeit FDP-geführten Wirtschaftsministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen. So ist auch die regionale Zivilgesellschaft gespalten, ob sie sich an der Arbeit der ZRR beteiligen oder weiter konsequent für einen baldmöglichen Kohleausstieg kämpfen soll.
Drittens liefert die Studie einige Anregungen, was den Leitlinien des Strukturprogramms von links entgegengesetzt werden und die Auseinandersetzung um den Strukturwandel wieder öffnen könnte. Orientiert am Prinzip eines guten Lebens für alle, sollte es darum gehen, regionale Wirtschaftskreisläufe zu stärken, verschiedene Formen von Arbeit anzuerkennen und gerechter zu verteilen und neue Technologien mehr nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen als nach ihren Gewinnerwartungen zu bewerten. Ein konsequenter Kohleausstieg ließe sich beispielsweise mit einer Demokratisierung des Energiesektors verbinden, etwa über den Ausbau und die Stärkung von Stadtwerken und Energiegenossenschaften. Mit einem Ausbau des Care-Sektors und sozial gerechter Gebäudesanierung könnten neue Arbeitsplätze geschaffen und könnte einer «grünen Gentrifizierung» entgegentreten werden. Mobilitätswende, ökologische Landwirtschaft und eine «Dorfentwicklung von unten» sind ebenfalls Ansätze, die sich in eine linke Regionalpolitik integrieren lassen und die teilweise schon im Rheinischen Revier erprobt und gelebt werden. So könnte sich der Kohleausstieg als Chance für einen grundlegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel erweisen.
Inhalt
Vorwort
Zusammenfassung
Einleitung
1 Politische und diskursive Rahmenbedingungen
- Der umstrittene Kohlekompromiss
- Viel Geld für die Regionalförderung
- Der Diskurs zum Strukturwandel
2 Kohleausstieg und Strukturwandel im Rheinischen Revier
- Ausgangslage: RWE und die Beschäftigten
- Der Kohleausstieg und die regionale Zivilgesellschaft
- Die Zukunftsagentur Rheinisches Revier: Organisation des Strukturwandels
- Das Wirtschafts- und Strukturprogramm: Inhalte und Projekte des Strukturwandels
3 Eine linke Transformationsstrategie für ein sozialökologisches Revier
- Einordnung
- Alternative Eckpunkte
- Handlungsfelder
- Strategischer Ausblick
Literatur
Autoren
Hendrik Sander ist freiberuflicher Politikwissenschaftler und politischer Aktivist. Er hat in Bremen und Oldenburg studiert und in Kassel zum Thema grüner Kapitalismus und deutsche Energiepolitik promoviert. Als PR-Referent, politischer Bildner und Kolumnist hat er gelernt, komplexe Sachverhalte anschaulich für verschiedene Zielgruppen aufzubereiten. In der deutschen Klimabewegung war er seit ihren Anfängen aktiv, etwa beim Berliner Energietisch oder bei Ende Gelände.
Bastian Siebenmorgen studiert Geografie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Im Umfeld seines Studiums hat er verschiedene selbstorganisierte Seminare und Exkursionen initiiert, geplant und umgesetzt, wie zum Beispiel eine dreitägige Fahrradexkursion durch das Rheinische Braunkohlerevier. Aufgewachsen im Rheinland, ist er seit Jahren Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung mit Ausrichtung auf das Rheinische Braunkohlerevier.
Sören Becker lehrt und forscht zu nachhaltiger Regionalentwicklung, zu Digitalisierung sowie zur Verankerung demokratischer Energiepolitik in Städten und Regionen. Zusätzlich zu seiner Forschung arbeitete er wiederholt zusammen mit Kommunen und sozialen Bewegungen an Projekten im Energiebereich.