Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - USA / Kanada - Sozialökologischer Umbau - Commons / Soziale Infrastruktur - Klimagerechtigkeit - COP27 - COP26 Von Degrowth zur Dekolonisierung

Jamie Tyberg hat in Degrowth ein zentrales Werkzeug entdeckt, um Dekolonisierung voranzubringen

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Jamie Tyberg,

Erschienen

Januar 2021

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Gore street mural, Decolonize, Sault Ste. Marie, Ontario
Gore street mural, Decolonize, Sault Ste. Marie, Ontario, CC BY-SA 4.0, Fungus Guy, via Wikimedia Commons

Irgendetwas an Alexandria Ocasio-Cortez' «Botschaft aus der Zukunft» schien mir unstimmig. Dieser von der jüngsten Kongress-Abgeordneten der USA persönlich eingesprochene Kurzfilm mit Illustrationen der Künstlerin und Aktivistin Molly Crabapple versucht, sich die Welt nach einem Green New Deal auszumalen. Zwei Monate nach Ocasio-Cortez' Initiative zu einem Green New Deal entstanden, stellt sich dieses Video eine Zukunft vor, in der allgemeine Gesundheitsversorgung, eine staatliche Arbeitsplatzgarantie, allgemeine Kinderbetreuung und staatliche Wahlkampffinanzierung erkämpft worden sind. Überall in den Vereinigten Staaten arbeiten die Menschen in Würde und ohne Diskriminierung. Man sieht sie ein landesweites intelligentes Stromnetz aufbauen, alte Infrastruktur modernisieren und im gesamten Land neue Schienen für Hochgeschwindigkeitszüge verlegen. Die Welt pulsiert vor Leben, die Klimakatastrophe ist abgewendet.

Allerdings: So ganz konnte mich das Video nicht überzeugen.

2018 berichtete der Weltklimarat (IPCC), dass die Welt, wenn es in den nächsten zwölf Jahren nicht zu radikalen Veränderungen der Energie-, Transport- und Landwirtschaftssysteme kommt, auf eine Erwärmung von über 1,5 Grad Celsius zusteuert, dem Temperaturlimit für die Erhaltung eines bewohnbaren Planeten. Hierfür müssten die globalen Kohlendioxidemissionen bis 2030 auf 55 Prozent des Niveaus von 2010 gesenkt werden und bis 2050 die Netto-Null erreichen. Obwohl es dafür selbstverständlich internationale Bemühungen braucht, weisen die USA seit 1960 zusammengerechnet einen höheren Energieverbrauch pro Kopf als jedes andere Land auf. Gleichzeitig hat die Energieproduktion der USA weltweit den kleinsten Anteil erneuerbarer Energien; das amerikanische Militär allein emittiert mehr Treibhausgase als 140 Länder zusammengenommen. Aus dieser Vogelperspektive wird deutlich, dass die USA eine nicht zu rechtfertigende Menge an Energie verbrauchen und zwar nicht bloß zur Lebenserhaltung und -reproduktion, sondern ebenso für unproduktive Dinge wie Luxusgüter und Krieg. Aus diesem Grund muss der notwendige sozial-ökologische Wandel in den USA seinen Ausgang nehmen.

Jamie Tyberg stammt aus Südkorea und lebt heute in Brooklyn, New York. Sie ist als Klimaaktivistin aktiv.

Allerdings geht das oben erwähnte Video auf eine Senkung des Energieverbrauchs der USA nicht ein. Ganz im Gegenteil, dort wird eine Welt inszeniert, in der Institutionen wie das Militär, das beispielsweise zur Zerstörung nachhaltiger Formen der Landwirtschaft beiträgt, einfach fortbestehen. Polizist*innen, Politiker*innen und Soldat*innen scheinen mehr Sendezeit zu bekommen als alle anderen Berufe. Ebenso wirbt das Video für angemessene Löhne und Vorsorgeleistungen für amerikanische Arbeiter*innen, sagt aber nichts zur Beendigung der Ausbeutung der enteigneten Völker und Nationen der Welt, auf der der Wohlstand Amerikas beruht. In dieser Version der Zukunft wird offenbar nicht erklärt, wie die Unterdrückten und die Unterdrücker*innen in Harmonie zusammenleben könnten, sondern es wird als gegeben vorausgesetzt.

Eine Lücke in der Diskussion

Wie konnte das in der Mainstream-Diskussion, die sich um dieses populäre und bekannte Video entwickelt hat, übersehen werden? Es stimmt schon, dass es nicht gerade viele hoffnungsvolle Darstellungen einer Zukunft nach der Klimakrise gibt, und in dieser Hinsicht verstehe ich den Reiz des Films. Ein materialistischer Ansatz in der Tradition Epikurs oder Marx' aber würde den Widersprüchen eines unendlichen Energieverbrauchs auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen nachgehen. Eine solche Analyse würde in der Tat zu den Schluss kommen, dass keine der bisherigen großflächigen Systemansätze, ob kapitalistisch oder sozialistisch, es geschafft haben, die ökologischen Grenzen nicht zu sprengen.

Ich habe Degrowth zum einem politischen Werkzeug gemacht

Möglicherweise sind mir diese Lücken gerade deswegen besonders aufgefallen, weil ich mich zuvor mit dem theoretischen Werkzeug des Degrowth-Ansatzes auseinandergesetzt hatte. Als Nachfahrin des kolonisierten koreanischen Volks, die sich bewusst gegen eine US-Staatsbürgerschaft entschieden hat, und als Angehörige der letzten Generation, die noch die Möglichkeit zur Überwindung der Klimakrise hat, habe ich in Degrowth eine pädagogische Heimat gefunden. Der Degrowth-Diskurs und die Degrowth-Bewegung zeichnen sich dadurch aus, dass sie der gemeinsame Nenner der post-industriellen Gesellschaften – das unendliche Wachstum – nicht nur unbeeindruckt lässt, sondern wütend macht. Übrigens ist die Degrowth-Bewegung meiner Ansicht nach gleichermaßen für Siedler*innen wie für «Ankömmlinge» angelegt. Den Betriff  «Ankömmlinge» hat Jodi Byrd, Angehörige der Chickasaw Nation von Oklahoma, bei dem barbadischen Dichter Kamau Brathwaithe entlehnt. In ihrem Buch The Transit of Empire definiert sie «Ankömmlinge» als diejenigen «Menschen, die durch die Brutalität des europäischen und anglo-amerikanischen Kolonialismus und Imperialismus in der ganzen Welt auf den amerikanischen Kontinent getrieben wurden.» Als gelber Ankömmling auf gestohlenem Land habe ich Degrowth zu meiner Pflicht und einem intellektuellen und politischen Werkzeug im Kampf um eine Dekolonisierung gemacht.

Was ist Degrowth?

Degrowth ist eine Idee, die das globale kapita­listische System kritisiert, das um jeden Preis Wachstum will und dafür die Aus­beu­tung von Mensch und Na­tur vo­ran­treibt. Die Degrowth­-Bewe­gung, der Akti­vist­*innen wie auch Wissen­schaftler­*innen ange­hören, setzt sich für eine Gesell­schaft ein, die mensch­liches Wohl­ergehen und öko­logische Nach­haltig­keit vor Pro­fite, Über­produktion und exzes­siven Konsum setzt. Das er­fordert eine radi­kale Umver­teilung, eine Ver­ringerung der Ressourcen­intensität der globalen Wirt­schaft und einen Werte­wandel hin zu einer hohen Wert­schätzung von Care­-Arbeit, Soli­darität und indivi­dueller Selbst­bestimmung. Degrowth bedeutet, die Gesell­schaft so zu trans­formieren, dass Umwelt­gerech­tigkeit und ein gutes Leben für alle inner­halb der plane­taren Grenzen möglich sind.

(Degrowth-Defintion vom Team des degrowth.info-Webportals)


Dem Degrowth-Historiker Timothée Barrique zufolge begann die Degrowth-Bewegung als «ökologisches Engagement für geringeren Ressourcenverbrauch, um dann zur Speerspitze der emanzipatorischen Bewegungen gegen Ressourcenerschließung, Kapitalismus und ökonomisches Wachstum zu werden und schließlich zu einem eigenständigen utopischen Projekt zu reifen.» Nach und nach wurde aus Degrowth nicht bloß der Name für die Kritik gegenwärtiger Wachstumsgesellschaften, sondern darüber hinaus eine vollwertige Alternative zu ihnen – «ein Rahmen, in dem verschiedene Denkrichtungen, Imaginationen und Vorgehensweisen zusammenkommen.»[1] Kurz gesagt: Degrowth möchte, dass wir uns um die Systeme der Erde und um die Menschen sorgen und dass wir jedweden Überschuss an das Land und die Menschen zurückgeben.

Degrowth muss in den Dienst der Dekolonisierung gestellt werden

Durch einen Vergleich von Degrowth mit Texten von indigenen und schwarzen Denker*innen konnte ich außerdem herausarbeiten, wie Degrowth in den Dienst der Dekolonisierung gestellt werden könnte. Zu den Denker*innen gehört Tiffany Lethabo King und ihr Buch The Black Shoals: Offshore Formations of Black and Native Studies. Das Buch verfolgt das Ziel, mit «Schwarzem Abolitionismus, indigener Dekolonisierung und neuen Formen von Vergesellschaftung und Zukunftsdenken» «liberale (und andere) Spielarten des Humanismus zu konterkarieren». Sie macht dabei deutlich, dass es nicht einer Alternative, sondern eines «Umgestaltungsprozesses» bedarf. Die dafür nötige Sprache findet sich in der First Ecosocialist International, einem gemeinsamen Kampfprogramm, das von 100 Personen aus 19 Ländern und fünf Kontinenten veröffentlicht wurde, darunter 12 Angehörige indigener Völker aus [ihrem] Amerika. Die Autor*innen erinnern uns daran, dass «das einzig Überflüssige dieses System selbst ist. Es fehlt nicht an einem alternativen System, noch ist es notwendig, eine andere mögliche Welt oder neue Modelle zu schaffen, sondern anzuerkennen, dass wir das ursprüngliche Modell sind.» Durch diese Texte habe ich verstanden, wie Degrowth selbst zum «Umgestaltungsprozess» zurück zum «ursprünglichen Modell» werden kann.

Das ursprüngliche Modell ist nicht ein weiteres produktivistisches oder extraktivistisches Modell, das sich als demokratische Alternative tarnt. Darum kann das Modell auch nicht das sein, von dem in Ocasio-Cortezs «Botschaft aus der Zukunft» die Rede ist, denn dieses bricht nicht mit dem Wachstumsparadigma. Das ursprüngliche Modell ist hingegen ein Prozess, in dem das behutsam gekittet wird, was Marx einen «unheilbaren Riss» im Stoffwechsel zwischen Menschen und Natur nannte. Das Ziel der Dekolonisierung erreicht dieser Prozess laut Frantz Fanon erst dann, wenn ein natürlicher Rhythmus in die Welt kommt, «eine neue Sprache, eine neue Menschlichkeit» (siehe Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde”, Suhrkamp).

Die Degrowth-Formel: Sorge, Autonomie, Suffizienz

Mit der Degrowth-Formel, bestehend aus Sorge, Autonomie und Suffizienz, ist bewusstes Verlernen des Bisherigen möglich. Diese Formel ist entscheidend, um zu verstehen, dass das eigentliche Ziel der Degrowth-Verfechter*innen nicht die Aufhebung des Wachstums ist. Denn nicht darum geht es, sondern um Dekolonisierung.

Obwohl der Begriff Degrowth neu ist, ist das Konzept keineswegs neu. In Lateinamerika wurden die Prinzipien des Degrowth von Bauernbewegungen wie Via Campesina und von Indigenen  populär gemacht. Zum Beispiel erkennt Sumac Kawsay aus dem Andenvolk der Quechua die unveräußerlichen Existenz- und Entfaltungsrechte von Ökosystemen an. Innerhalb der in den USA nach wie vor bestehenden Kolonien haben von Schwarzen angeführte Organisationen wie MOVE oder Seeds of Wisdom «die radikale Abwendung vom Wachstum sowie ein Ende der kapitalistischen und sozialen Paradigmen gefordert, die auf der Ausbeutung des Menschen und der Ausbeutung aller Lebewesen der Biosphäre basieren.» Die jamaikanische Philosophin Sylvia Wynter ist überzeugt, dass die vom Weltklimarat IPCC gegebenen Empfehlungen, die am «alleinigen und alles umfassenden Modell des kapitalistischen freien Marktes» festhalten, «verheerende Folgen» haben werden. Als Alternative verweist sie auf die «traditionell staatenlosen nomadischen oder sesshaften indigenen Gesellschaften, die heute noch bestehen – zum Beispiel die der Masai, der San oder der Pygmäen in Afrika.»[2] In den südostasiatischen Gebirgsgesellschaften haben sich indigene Gruppen dem Staat entzogen und ihre Souveränität selbst ausgeübt, lange bevor Westler*innen sie mit dem Konzept bekannt gemacht haben. Diese Gemeinschaften und ihre Lebensweisen haben staatlicher Gewalt beharrlich getrotzt und dabei 80 Prozent der weltweit existierenden Biodiversität beschützt und erhalten. Um die Schäden dieses mehrdimensionalem Angriffs zu reparieren und die Erde davon zu heilen, müssen wir, die wir in den Industrieländern leben, die Degrowth-Prinzipien der Sorge, Autonomie und Suffizienz in die Praxis umsetzen.

Sorge

Sorge bedeutet allem voran, die Schwachen zu schützen und bereit zu sein, dies auch auf eigene Kosten zu tun. Dieses Prinzip beruht auf Nichtausbeutung und wirbt für Solidarität. Wie es der den Métis und Cree angehörige Autor M. Gouldhawke ausdrückt, bedeutet das, «mit anderen zu kämpfen, ohne so zu tun, als wäre man eine*r von ihnen…eigene Kämpfe zu haben und sie mit denen anderer zu verbinden, ohne sich die Kämpfe anderer zu eigen zu machen.» Im zwischenmenschlichen Bereich ist Fürsorge Handlung und Haltung zugleich. Ein wichtiges Ziel der Degrowth-Bewegung ist es, die im Westen durchgesetzten binären Muster der Pflegearbeit zurückzuweisen und darauf hinzuarbeiten, dass «sorgen für» und «Sorge tragen» nicht mehr männlich und «sich sorgen um» und «versorgt werden» nicht mehr weiblich konnotiert sind. Sorge ist von grundlegender Bedeutung, wenn es darum geht, die psychische, physische Integrität und Fähigkeit zur Beziehungspflege jedes einzelnen Menschen in unserem Ökosystem zu wahren. Im Unterschied zu der gegenwärtigen Ökonomie, welche Leben vergeudet, würde Degrowth also strukturell eine auf Sorge gründende Ökonomie etablieren, die auf der Wiederherstellung von Leben beruht. In einer solchen Welt würde der Wert der Arbeit an der Zeit bemessen, die jede*r sich selber, der Familie, Freund*innen oder denjenigen Aktivitäten widmet, in denen die eigene Menschlichkeit bestätigt und bekräftigt wird.

Autonomie

Autonomie ist die Fähigkeit, sich selber Gesetze und Regeln zu geben, die nicht von anderen auferlegt, sondern von uns selber gemeinsam und bewusst gestaltet sind. Im Unterschied zur Unabhängigkeit kann Autonomie nur als kollektives Projekt gedacht werden, weil Autonomie die Selbstbeschränkung erfordert, sich gemeinsam davon zurückzuhalten, alles, was nur möglich ist, auch in die Realität umzusetzen. Autonomie bedeutet, innerhalb der von der Natur gesetzten Grenzen zu leben und auf jeder Ebene der Gesellschaft in der Gemeinschaft verankerte, ökologisch neutrale und kulturell anpassungsfähige Verfahren zu etablieren, die saubere Luft, sauberes Wasser und sauberen Boden für zukünftige Generationen versprechen. Das Prinzip der Autonomie richtet sich auch gegen technologische Krisenlösungen, um der Gefahr einer Öko-Apartheid vorzubeugen. Hiervor warnt z.B. der italienische Soziologe Marco Deriu in Degrowth – Handbuch für eine neue Ära: «Je mehr wir auf äußere Mittel zurückgreifen, desto weniger vertrauen wir auf Veränderungen, die wir unabhängig, als Teil unserer subjektiven, auf unsere Werte gegründeten Entscheidungen herbeiführen.» Er schreibt: «Eigene Lösungen und selbst hergestellte Dinge werden systematisch durch standardisierte Industrieprojekte ersetzt, bis am Ende nicht einmal mehr die einfachsten Bedürfnisse außerhalb des Marktes befriedigt werden können», also außerhalb des einzigen auf dieesr Welt, das auf unendliches Wachstum ausgelegt ist. Entsprechend verhelfen uns Autonomie und Sorge allein noch nicht zur Rücknahme des Wachstums. Wir brauchen alle drei Prinzipien: Wir brauchen auch Suffizienz.

Suffizienz

Suffizienz – französisch auch Dépense – ist eine Regel der Verteilungsgerechtigkeit, derzufolge heute ebenso wie in der Zukunft alle genug haben sollen, um ihre grundlegenden menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Und derzufolge, bedingt durch die Grenzen des Planeten, niemand zu viel haben sollte. In anderen Worten: Suffizienz wäre nicht möglich ohne die von der Autonomie erforderte Zurückhaltung und die Kultur der Sorge, die diese Selbstbeschränkung fördert. Das Prinzip der Suffizienz ähnelt dem Prinzip der Siebten Generation, einer alten irokesischen Philosophie, die lehrt, dass die Entscheidungen, die wir heute treffen, auch der siebten Generation nach uns noch eine nachhaltige Welt hinterlassen sollten. Dépense macht dies möglich, denn damit ist eine Gesellschaft gemeint, die ihre überschüssige Energie dazu einsetzt, dass die Bürger*innen aller Altersstufen und Fähigkeiten neue und nicht zerstörerische Formen der Gemeinschaftsbildung und kollektiven Sinngebung entwickeln. Indem unsere derzeitige Industriegesellschaft das Individuum über die Gemeinschaft stellt, nimmt sie den Gemeinschaften die Fähigkeit, die überschüssige Energie, die sie hervorbringen, auch bewusst einzusetzen. Der Konditionierungsprozess der Individualisierung hat uns so weit von Systemfragen weggeführt, dass wir die Fähigkeit zur gemeinsamen Sinnstiftung und zur Wiederherstellung unserer politischen Souveränität verloren haben. Insofern ist Dépense neben unserer gemeinsamen Pflicht, den Planeten in einem besseren Zustand zu hinterlassen als wir ihn vorgefunden haben, ebenso wesentlich für unseren Umlernprozess wie für den Ausstieg aus der Wachstumsgesellschaft.

Für mich ist der Begriff Degrowth mit Subversivität aufgeladen

Eine Sache beim Namen nennen – sie benennen oder ihren Namen herausfinden – ist, wie uns Octavia Butler in Die Parabel vom Sämann ans Herz legt, ein erster Schritt auf dem Weg zum Verständnis dieser Sache. Eine solche Rolle hat «Degrowth» für mich gespielt. Bevor ich überhaupt die Bedeutung des Begriffs kannte, war er für mich bereits mit einer gewissen Subversivität aufgeladen, die die Idee des Wachstums auf den Kopf stellte, sich jeder Vereinnahmung entzog und damit meine Neugier weckte. Aber nicht alle teilen diese Erfahrung.

Eine umfassende Mediathek mit Texten und Videos der Degrowth-Bewegung gibt es auf degrowth.info. Hier kann man auch den vier mal jährlich erscheinenden Newsletter (englisch) abonnieren.

Der Kognitionswissenschaftler Brian Dean hat gegen den Begriff eingewandt, dass er «ungefähr jede Empfehlung der Forschungen zu kognitivem Framing ignoriert, wie sich Alternativen zum konservativen gesunden Menschenverstand breitenwirksam durchsetzen lassen.»[3] Mit gesundem Menschenverstand meint er hier die Art und Weise, wie das Wachstum seiner Natur nach als selbstverständliche und unausweichliche Tatsache verkauft worden ist. Dean warnt die Degrowth-Bewegung, dass schon diese Art der Zurückweisung des gegnerischen Bezugsrahmens im Gehirn der Leser*innen genau diesen Bezugsrahmen positiv «aktivieren» würde. Giorgos Kallis, ein griechischer Experte für Ökologische Ökonomie und Verfasser zahlreicher Texte der Degrowth-Bewegung, hat hingegen Argumente gegen solche Einwänden. Gegen Dean führte er an, dass sich Degrowth für die Bevölkerung des globalen Nordens in der Tat «zutiefst unnatürlich, unheilvoll und als Schwächung der Nation»[4] anfühlen werde, aber genau dies verlernt werden müsse. Genauso wie der Begriff Degrowth bei manchen die Alarmglocken schrillen lässt, verunsichert auch der Begriff der Dekolonisierung viele im globalen Norden. Und dies obwohl er, wie die indigenen Wissenschaftler*innen Eve Tuck und K. Wayne Yang in ihrem Essay Decolonization is not a metaphor feststellen, inzwischen schon als falsche «Metapher für andere Vorschläge zur Verbesserung unserer Gesellschaften und Schulen» missbraucht worden ist. Mit der Einführung des neuen Begriffs Degrowth aber können wir  bewusst die unnötige Forderung, uns positiv auszudrücken, von uns weisen.

Ehemals kolonisierte Nationen wurden in das ökonomische System der endlosen technisch-industriellen Wachstumsprozesse integriert

Man kann Degrowth weder erlernen noch praktizieren, ohne vorher das Wachsen bewusst zu verlernen. Von ausschlaggebender Bedeutung ist hier wieder Sylvia Winter mit ihrem Anstoß in ihrem Buch On Being Human As Praxis zur «Erforschung neuer, umgearbeiteter Wissensformen.» Sie begrüßt «eine Neufassung unserer gegenwärtigen und aktuell weltweit institutionalisierten Wissensordnung.» An diesem Wendepunkt in der Geschichte der Zivilisation, die einer systemischen Generalüberholung bedarf, bietet Degrowth genau die Neufassung und genau jenes Verlernen, die unserer Industriegesellschaft die Beweggründe zu unendlichem Wachstums nehmen können. In On Being Human As Praxis weist Wynter auch auf die folgenreiche Tatsache hin, dass die Beschleunigung der globalen Erwärmung seit 1950 zu einem guten Teil auf die Unabhängigkeit ehemals kolonisierter Nationen zurückgeht, die daraufhin in «das ökonomische System der endlosen technisch-industriellen Wachstumsprozesse des Freihandels-Kapitalismus» integriert wurden. Gerade diesen Punkt teilt Wynter mit der Degrowth-Bewegung, denn das Wirtschaftswachstum, von dem sie redet, wird von einem endlosen Wachstum in negativer als auch positiver Richtung generiert und aufrechterhalten. Die Sphäre des Kapitalismus ist von negativem (-) wie auch positivem (+) Wachstum abhängig, und zwar in Form nicht endenden Landraubs und Genozids an indigenen Völkern sowie der endlosen Ausbeutung schwarzer Menschen als unbegrenzter Quelle gestohlener, versklavter Arbeit. Degrowth ist der Prozess, in dem wir das Wachstum dieser unheilvollen Sphäre zurücknehmen, um letztlich die Dekolonisierung der Indigenen und die Befreiung der Schwarzen zu erreichen.

Zwischen Theorie und Praxis klafft ein große Lücke

Indem wir uns die Prinzipien der Sorge, Autonomie und Suffizienz zu eigen machen und die Gesellschaft so neu ordnen, dass diejenigen, die benachteiligt und überflüssig gemacht wurden, an erster Stelle stehen, können wir einer dekolonisierten Welt den Weg bereiten. Die Größe dieses Unterfangens ist jedoch gigantisch und bislang klafft zwischen den drei Prinzipien des Degrowth und ihrer Umsetzung – zwischen Theorie und Praxis – noch eine große Lücke.

Im Juni 2019 fand das Festival de la Décroissance conviviale de Montréal oder auch Montréal Degrowth Festival zum zweiten Mal in Folge in Le Virage statt. Laut einem gegen die Festivalorganisation gerichteten Brief, der von fünf Degrowth-Wissenschaftler*innen und -Aktivist*innen drei Wochen vor dem Festival in Umlauf gebracht wurde, befand sich dieser Veranstaltungsort nicht nur auf bisher nicht an die Kanien’keha:ka zurückgegebenem Land, sondern war außerdem ein «umkämpfter Ort für die Anwohner*innen und damit ein klares Beispiel für grünes Wachstum, das sich als nachhaltig ausgibt.» Obwohl dieser Veranstaltungsort in einer «der vielfältigsten und einkommensschwächsten Communities in ganz Kanada» liegt, die einer «sich verschärfenden Gentrifizierungskrise» ausgesetzt ist, fand das Festival dort nicht zum ersten Mal (was zu verzeihen wäre), sondern schon zum zweites Mal statt (womit sich die Veranstalter*innen willentlich mitschuldig machen). Das zugrundeliegende Problem ist wieder einmal, dass die Organisator*innen der Veranstaltung Degrowth als eigentliches Ziel ansahen und nicht als Mittel, um das notwendige Endziel der Dekolonisierung zu erreichen. Ist aber schon der Ausgangspunkt falsch, muss natürlich auch das Ergebnis ein falsches sein.

Degrowth in Corona-Zeiten

Diese Geschichte ist dennoch ein Beispiel dafür, wie es bei Degrowth Raum geben kann für eine kritische Intervention, die uns auffordert, uns «deutlich bewusst zu sein über die Kluft zwischen dem, wo [wir] waren, und dem, wie [wir] leben könnten.»[5] Der oben genannte Brief bemühte sich um eine Umsetzung der drei Degrowth-Prinzipien, indem er bedachtsam und sachdienlich darauf hinwirkte, die Anwohner*innen das Programm zukünftiger Festivals gestalten zu lassen. Erst kürzlich und in Anbetracht der Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie habe ich gesehen, was Degrowth in der Praxis sein kann – und was es nicht ist. Eine der Reaktionen, die auf keinen Fall etwas mit Degrowth zu tun hatte, war die fatale Mischung aus amerikanischem Sonderweg, Neoliberalismus und Neo-Malthusianismus. Menschen am Strand erklärten in den Nachrichten: «Ich lasse mir von diesem Virus nicht meinen Lebensstil vorschreiben!», während andere, die es sich leisten konnten, entgegen der Vorgaben des Center for Diseases Control and Prevention (CDC) zu ihren Zweit- oder Drittwohnsitzen reisten und unterwegs das Virus weiterverbreiteten. Viele suchen die Schuld bei allen Menschen gleichermaßen, wie sie es auch gerne bei der weltweiten Klimakrise tun, und raunen «Wir sind das Virus», ohne dabei zu erläutern, wer dieses «wir» eigentlich ist. Diese Antworten, die mit Degrowth nichts zu tun haben, sollten samt und sonders als klares Versagen erkannt und aufgegeben werden.

Eine andere Reaktion, die in der Praxis Degrowth sehr nahe kommt, war die sofortige Einrichtung von Nachbarschaftsnetzwerken zur Unterstützung derjenigen, die vom Staat im Stich gelassen werden. In meinem Viertel, Bedford-Stuyvesant in Brooklyn, New York, entstand ein informelles Anwohner*innen-Netzwerk und sammelte Spenden für Bed-Stuy Strong, ein Netzwerk für gegenseitige Hilfe. In bloß zwei Monaten hat Bed-Stuy Strong über 4.000 Nachbar*innen (von denen 85 Prozent alte, immungeschwächte Menschen oder solche mit Behinderungen waren) mit Lebensmitteln im Umfang einer Wochenration unterstützt, was schätzungsweise 80.000 Mahlzeiten entspricht. Diese Aktivitäten, bei denen einander Unbekannte schnell und so gut sie konnten auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung, Inhaftierten, Obdachlosen, immungeschwächten Menschen, Menschen ohne Papiere und armen Leuten eingegangen sind, entspricht den Prinzipien von Degrowth.

Der Red Deal ergänzt das Degrowth-Programm

Aber die spontane und gegenseitige Hilfe ist bislang nicht dafür gedacht, über längere Zeit aufrechterhalten zu werden. Mariame Kaba, eine abolitionistische Aktivistin, hat kürzlich zu bedenken gegeben, dass sie, obwohl wir bei der Lösung gegenwärtiger Probleme durchaus einen Blick in die Vergangenheit werfen sollten, doch Vorbehalte gegen die Anwendbarkeit alter Modelle auf die heutigen Umstände habe. Was viele von uns tun, scheint größenteils aus der Defensive zu kommen, obwohl wir doch dringend ein starkes Offensivspiel bräuchten. Der Green New Deal sollte eigentlich diese Offensive sein, die in ihrer Größenordnung dem erforderlichen Wandel gerecht wird, doch wie sich herausstellt, lehnt er die Unterwerfungssysteme, die diese Krise herbeigeführt haben, nicht grundsätzlich ab oder versucht auch nur, sie zu beschränken. Glücklicherweise baut der Red Deal auf dieser notwendigen Offensivenergie auf. Die Red Nation – ein Zusammenschluss indigener und nicht-indigener Aktivist*innen, Dozierender, Studierender und Community Organizer*innen, die sich für indigene Befreiung einsetzen – hat den Red Deal, ein «bewegungsbasiertes Dokument für Klimagerechtigkeit und Graswurzel-Reform und -Revolution», entworfen. Dies ist ein erster extrem weitreichender und umfassender Aufruf zum Handeln, der über den Rahmen des US-Kolonialstaats hinausgeht.

Praktischerweise fügt sich der Red Deal ganz organisch in die drei Degrowth-Prinzipien ein. So sehr, dass man Sorge, Autonomie und/oder Suffizienz im Zehn-Punkte-Programm des Red Deal ganz unschwer entdecken und wiederentdecken kann. Insbesondere Punkt zehn, in dem die vorangegangenen neun Punkte kulminieren, drückt aus, wonach die gesamte Degrowth-Bewegung streben sollte: «das Ende des Kapitalismus-Kolonialismus weltweit.»[6] Punkt zehn hebt auch hervor, wo beim Green New Deal Nachbesserungsbedarf besteht: nämlich beim Einsatz für die Abschaffung des Kapitalismus und Kolonialismus, für die Souveränität der indigenen Völker und für einen Prozess der Rückbesinnung auf das ursprüngliche Modell. Mit seinen Ausführungen zum Warum und vor allem zum Wie in den verschiedenen Abschnitten ergänzt der Red Deal nahtlos das Degrowth-Programm und weist jeder und jedem von uns eine Rolle bei der Rückgewinnung unserer Zukunft zu.

Der aktuelle Widerspruch besteht darin, dass Degrowth-Verfechter*innen den Einfluss existierender Lebensmodi der indigenen Bevölkerungen auf die Degrowth Bewegung zwar anerkennen, sich viele von ihnen im Augenblick aber nicht konkret für die Rückgabe des Landes einsetzen. Einerseits sollten Siedler*innen oder Ankömmlinge nicht mitentscheiden dürfen, wie eine Landrückgabe aussehen könnte, andererseits müssen wir das aber auch gar nicht, und Degrowth erhebt darauf auch keinen Anspruch. Degrowth ist keine Erklärung, sondern eine Reihe von Praktiken, ein Bezugsrahmen, der so gespannt ist, dass er den gegenwärtigen Umständen entspricht und uns von dem Punkt, an dem wir sind, zu dem bringen kann, an dem wir sein sollten. Mit Sorge, Autonomie und Suffizienz, der Formel für das Umlernen, können wir heute zu leben beginnen, als lebten wir bereits in der Welt, von der wir träumen.

 
Dieser Text ist zuerst in englischer Sprache erschienen auf der Website des Büros der Rosa-Luemburg-Stiftung in New York.

Was genau ist Degrowth?
Diese Bücher sind als Einführung in das Thema gut geeignet:

- Matthias Schmelzer, Andrea Vetter: Degrowth / Postwachstum zur Einführung, Junius-Verlag 2019
- D'Alisa, Giacomo u.a. (Hrsg.): Degrowth – Handbuch für eine neue Ära. oekom 2016
- Barbara Muraca: Gut Leben. Eine Gesellschaft jenseits des Wachstums, Wagenbach-Verlag 2014


[1] D'Alisa, Giacomo u.a. (Hrsg.). 2016. Degrowth – Handbuch für eine neue Ära. München: oekom, 14

[2] Sylvia Wynter in Wynter, Sylvia/McKittrick, Katherine. «Unparalleled Catastrophe for our Species?». In McKittrick, Katherine (Hrsg.). 2014. Sylvia Wynter: On Being Human As Praxis. Durham: Duke University Press, 22

[3] Kallis, Giorgos. 2017. In Defense of Degrowth. Brüssel: Uneven Earth Press

[4] Ebd.

[5] Hartman, Saidiya. 2019. Wayward Lives, Beautiful Experiments. New York: W.W. Norton & Company

[6] Die Degrowth-Prinzipien finde ich folgendermaßen in den Punkten des Red Deal wieder: Sorge sehe ich im dritten Punkt verwirklicht («ein Ende der rassistischen Staatsbehörden, die indigene und andere unterdrückte Völker ungerechtfertigt ins Visier nehmen und einsperren»; oder Abolitionismus), acht (eine Ökonomie, die die «Bedingungen, sich entfalten zu können» schafft), und neun (die Verantwortung der Menschen, die «schreckliche Gewalt gegen unsere nichtmenschlichen Verwandten» zu beenden). Was Autonomie angeht, seien Punkt eins («das Grundrecht auf Selbstbestimmung für ihr Volk, ihre Communities, Landgebiete und politischen und wirtschaftlichen Systeme»), fünf («Indigene Frauen sollen im Zentrum der indigenen Befreiungskämpfe stehen»), sechs («Indigene LGBTQ2+ sollen im Zentrum der indigenen Befreiungskämpfe stehen») und sieben (die Verurteilung von «symbolischer und gegenständlichen Gewalt» als «wesentlicher Bestandteil jedes materiellen Befreiungskampfes») genannt. Punkt zwei (Schritte zur Landrückgabe durch die Anwendung und Aufrechterhaltung der «Rechte der indigenen Völker sowohl innerhalb als auch außerhalb der Reservate und des vom Bundesstaat treuhänderisch verwalteten Landes») und vier («Indigene Jugendliche, Arme und Obdachlose sind Verwandte, die Unterstützung und Repräsentation verdienen») entsprechen meines Erachtens der Suffizienz, insbesondere Punkt vier, der Dépense darin erkennen lässt, wie die überschüssige Energie einer Gesellschaft dafür genutzt werden kann, um für die Älteren und die Jugend zu sorgen.