Mit der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag enden sechzehn Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel. Sie verzichtete auf die Chance einer Wiederwahl. Zusammen mit ihrer Kanzlerschaft erreicht ein Umbruch im Parteiensystem ein vorläufiges Ende: Nach der SPD kann mit der Union auch die letzte verbliebene Volkspartei alten Typs nicht mehr locker die 30%-Marke überspringen und die dominante Rolle in einer Regierung beanspruchen. Das Parteiensystem hat sich pluralisiert. Wie nach den Landtagswahlen zu erwarten hat sich mit der AfD eine antidemokratische Partei etabliert. Bis auf weiteres teilt sich das deutsche Parteiensystem in ein Lager demokratischer Parteien, welches einer Partei gegenübersteht, die die grundgesetzlichen Regeln zur Austragung politischer Interessenkonflikte immer wieder verlässt.
Die Unionsparteien erzielen ein historisch schlechtes Ergebnis. Die CDU fällt unter 20% (18,9%), die CSU nähert sich der Sperrklausel (5,2%), insgesamt liegen sie erstmals seit 2002 wieder hinter der SPD. CDU/ CSU traten nicht nur mit einem Kandidaten für das Kanzleramt an, der seine Partei nicht mitziehen konnte. Sie verloren in den vergangenen Monaten und Jahren auch erheblich an Kompetenzzuweisungen auf politisch für die eigene Wählerschaft bedeutsamen Feldern. Das Wahlergebnis liegt über dem Tiefpunkt in den Umfragen - wahrscheinlich liegt dies an der Mobilisierung der alten Stammwählerschaft mit dem Schrecken eines »Linksrutsches«.
Die SPD ist die Siegerin dieser Bundestagswahl. Olaf Scholz kann angesichts des großen Anteils seiner Person an diesem Erfolg die Kanzlerschaft für sich beanspruchen und versuchen, eine Regierungsmehrheit zu finden. Auffallend an dem Wahlerfolg ist - gegenüber den drei vorhergehenden Wahlen - der lange Atem und die Geschlossenheit, mit der die SPD ihre Wahlstrategie umgesetzt hat.
Die Grünen können einen historisch Wahlerfolg, ihr bestes Ergebnis bei Bundestagswahlen, feiern. Sie bleiben aber deutlich unter den Erwartungen, die bis zum Frühsommer von guten Umfragewerten genährt wurden. Aller Voraussicht nach werden sie an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein - und es dann womöglich mit einem Finanzminister Lindner zu tun bekommen, der sich nicht nur der «schwarzen Null» ohne Steuererhöhungen verschrieben hat, sondern auch ein entgegengesetztes Staatsverständnis besitzt.
Die Linke erlebte einen bitteren Wahlabend mit einem katastrophalen Ergebnis. Weit entfernt vom Wahlziel der Zweistelligkeit und des Rückenwindes für eine Regierungsbeteiligung scheitert sie mit 4,9% an der Sperrklausel. Sie verliert über zwei Millionen Stimmen, fast die Hälfte ihrer Stimmen von 2017. Wiederum etwa die Hälfte der verlorenen Stimmen ging an die beiden Wunschkoalitionspartner SPD und Grüne, so die vorläufigen Schätzungen von Infratest dimap. Da die Partei aber in Leipzig (Sören Pellmann) und Berlin (Gesine Lötzsch, Gregor Gysi) drei Direktmandate verteidigen kann, zieht sie über die Grundmandatsklausel doch noch in den Bundestag ein. Der absolute worst case konnte so gerade noch vermieden werden.
Die FDP zieht mit einem guten zweistelligen Ergebnis in den neuen Bundestag ein. Wieder verdankt sie es einem Christian-Lindner-Wahlkampf. Auffällig ist, dass sie vor allem von jungen (männlichen) Wählern erhebliche Kompetenz in der »Digitalisierung« zugeschrieben bekommt. Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Jahren ein kleiner sozialliberaler »Flügel« herausgebildet, als Gegenpol zu einem Staats- und Freiheitsverständnis, mit dem Christian Lindner wirbt: der Staat als bürokratisches Monster, welches es zu beschneiden und zähmen gilt; Freiheit ist, wenn es möglichst wenig Regeln gibt, an die ich mich halten muss - also ein mächtiger Ausfallschritt in richtig libertäre Staatsfeindschaft. Für die FDP gilt wie für die Grünen: Sie werden es wohl noch mal miteinander versuchen müssen...
Mit geringen Verlusten zieht die AfD zum zweiten Mal in den Deutschen Bundestag ein. Sie wird voraussichtlich nicht mehr die größte Oppositionsfraktion stellen (es sei denn, SPD und CDU koalieren erneut). In Thüringen wird die Höcke-AfD mit 24,0% (und 5 Direktmandaten) und in Sachsen mit 24,6% der Zweitstimmen (und 10 Direktmandaten) zur stärksten Partei. In den anderen drei ostdeutschen Flächenländern erreicht sie 18% bis 19,6%.