Publikation Parteien- / Bewegungsgeschichte - Soziale Bewegungen / Organisierung - Globalisierung - Globale Solidarität Kleine Geschichte der globalisierungskritischen Bewegung

Vom «Battle of Seattle» über Heiligendamm und Hamburg bis zu den neuen Aufbrüchen in eine solidarische Bewegung der Gegenwart

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Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Ulrich Brand, Patrick Makal,

Erschienen

Juni 2022

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Vom 26. bis zum 28. Juni – nur gut einen Monat nach dem jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos – versammeln sich im südbayerischen Schloss Elmau die Staats- und Regierungsoberhäupter der G7 samt der Regierungsvertreter*innen der geladenen Partnerländer Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika. Gut drei Stunden braucht es, um mit dem Auto auf einer Tour durch die Alpen von Davos nach Elmau zu kommen. Nach globalem Maßstab tendiert die geografische Distanz gegen null. Auch das Panorama bleibt das gleiche: hohe Berge und zumindest Weitblick in die Natur. Noch geringer fällt die Distanz in geistiger Hinsicht aus: Was unterscheidet den «Davos Spirit» («Improving the state of the world») von dem Slogan «Fortschritt für eine gerechte Welt», den die Deutschen, die seit Januar 2022 die G7-Präsidentschaft innehaben, für das kommende Treffen vorgegeben haben? Hinsichtlich der Mittel, die jene gerechte und bessere Welt verwirklichen sollen, gibt es keinerlei Differenz: Die kapitalistische Marktwirtschaft und die in ihr dominanten wirtschaftlichen und politischen Akteur*innen sollen es richten.

Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und Vorstandsmitglied von «Diskurs. Das Wissenschaftsnetz» (Wien). Derzeit ist er Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Patrick Makal studiert Gesellschaftstheorie und Philosophie an der Universität Jena. Er ist zurzeit Praktikant am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Die G7-Staaten umfassen rund zehn Prozent der Weltbevölkerung und verfügen über 45 Prozent des globalen Bruttonationaleinkommens. Insbesondere hier drängt sich manchmal der Eindruck auf, Francis Fukuyama habe Recht behalten. Seine vor 30 Jahren geäußerte These lautete bekanntlich, nach dem Fall der Mauer und dem Ende des real existierenden Sozialismus sei die Geschichte an ihr Ende gekommen. Liberale Demokratie und kapitalistische Marktwirtschaft hätten sich historisch als überlegen erwiesen. Jede künftige politische Bewegung könne, folgt man seiner deterministischen Auffassung von Geschichte, nur noch reformistische Forderungen stellen, etwas darüber Hinausgehendes gibt es nicht. Die von der G7 (bzw. G8, noch unter Beteiligung von Russland) propagierte und durchgesetzte neoliberale Politik ist seit jeher Zeugnis dessen, was sich in Fukuyamas These eigentlich artikuliert: nicht das «Ende der Geschichte», sondern das Ende des politisch Denkbaren. Jedwede Form geschichtlicher Zukunft wird für obsolet erklärt, was dazu führt, dass Zukunft zu denken bereits einen politischen Akt darstellt.

In den 1990er-Jahren zeigte sich, dass aus der Sicht der Subalternen im Globalen Süden und im Globalen Norden sowie aus der Sicht der emanzipatorischen politischen und sozialen Kräfte die Geschichte noch lange nicht an ihr Ende gekommen war. Die sich formierende globalisierungskritische Bewegung wies als weltweit auftretender politischer Akteur darauf hin, dass die totgesagte Geschichte sich immer noch im tempus praesens befindet. Der größte Erfolg jener Bewegung besteht rückblickend darin, zum einen die vermeintliche Alternativlosigkeit von liberaler Demokratie und kapitalistischem Markt mit ihren externalisierten Widersprüchen konfrontiert zu haben. Zum anderen gelang es, die systemimmanenten Herrschaftsverhältnisse, das heißt die mit dem Kapitalismus einhergehende Ausplünderung von Menschen und Natur, gesellschaftlich in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar zu hinterfragen. Darüber hinaus machte sie deutlich, wie viele Alternativen für eine humanere und ökologisch nachhaltige Welt bereits vorhanden waren. Entsprechend werden hier unter «globalisierungskritischer Bewegung» nicht nur die öffentlichen Proteste und Konferenzen wie das Weltsozialforum verstanden, so wichtig sie auch waren und sind. Globalisierungskritik ist eine breite gesellschaftliche Bewegung, die mit sichtbaren Akteuren wie Attac verbunden wurde, zu der aber auch weitreichende Veränderungen in der Öffentlichkeit, in Verbänden und Unternehmen, im Wissenschaftsbetrieb bis hin zum Alltag gehörten. Die Rosa-Luxemburg- Stiftung förderte die sichtbaren Teile der Bewegung, versuchte aber auch, ihre Anliegen im politischen Raum und in der Gesellschaft zu verankern.

Die globalisierungskritische Bewegung setzte an den dominanten Tendenzen des sich globalisierenden Kapitalismus an: Deregulierung und dem damit verbundenen Abbau sozialer Rechte sowie der weiteren Kommodifizierung bzw. Rekommodifizierung sozialer Verhältnisse zum Beispiel durch Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Umbau der Sozialhilfe oder Inwertsetzung von menschlicher und außermenschlicher Natur. Die globalisierten Herrschaftsverhältnisse galt es ebenfalls global zu bekämpfen. Ein Hauptanliegen der Bewegung bestand von Beginn an darin, institutionelle und Alltagspraxen sowie gesellschaftliche Wertvorstellungen zu verändern und umfassend zu demokratisieren. Es gab und gibt einen breiten Konsens darüber, dass Konflikte mit den Herrschenden genauso notwendig und unumgänglich sind, wie gewaltlose direkte Aktionen, beispielsweise des zivilen Ungehorsams, ein legitimes Mittel des politischen Kampfes darstellen.
 

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