1930 schrieb der italienische Philosoph und Kommunist Antonio Gramsci über seine Gegenwart als Zeit der «morbiden Erscheinungen». Er saß im Gefängnis und musste zusehen, wie der aufziehende Faschismus die Welt verdunkelte; eine Welt, die von Krisen und blockierten Auswegen, sprich gescheiterten Revolutionen gezeichnet war.
Das Alte stirbt und das Neue kann nicht zur Welt kommen: Es ist die Zeit der Monster.
Antonio Gramcsi, 1930
Unsere Zeit heute ist anders, und doch ist sie in vielerlei Hinsicht ähnlich. Die großen Krisen überschlagen sich und die herrschenden Lösungen greifen nicht mehr, ohne dass sich neue durchsetzen können. Wie paralysiert starren wir auf die monströsen Formen der ökologischen Zerstörung, des Krieges und der Ausbeutung – und ihre langen Schatten, die sich zu neuen Monstern formieren. Denn es sind vor allem rechte und autoritäre Kräfte, die aus der Krise ihren Nektar ziehen. Mit der Strategie des Kulturkampfs treiben sie die politische Debatte auf Felder, wo «die Rechte Heimvorteil hat» wie es Benjamin Opratko formuliert. Ihr grelles Licht verschiebt die Proportionen und schafft Zerrbilder. Law-and-Order-Politik hat Konjunktur: Sie verspricht «Normalität» und Sicherheit, während sie faktisch die Grundlagen der Demokratie zersetzt.
Unser Heft will diese Phänomene verstehen und Orientierung bieten. Was sind die Monster unserer Zeit? Wo wird um die Richtung der Entwicklung gerungen, um Produktion und Ökologie, um Geschlechterfragen und Arbeitszeit, um Friedenspolitik und Migration? Wie analysieren wir Kulturkämpfe von links, jenseits einer Trennung von Ökonomie und Kultur? Und was hat das alles mit Affekten des Verlusts und der Erschöpfung zu tun? Nicht zuletzt geht es um die Frage, was linke Antworten in monströsen Zeiten sind – und wie sich die Linke an den neuen Widersprüchen nicht zerlegt, sondern neu organisiert.
Inhalt
- Am Abgrund
Ablehnungskulturen, Populismus, Faschismus
Von Benjamin Opratko - Blockierte Transformation und rechte Offensive
Was folgt aus dem Scheitern der »Fortschrittskoalition
Von Lia Becker - Nothing personal
In den Hinterzimmern des Krieges
Von Nikita Teryoshin - Autoritäte Konjunktur
Kulturkampf und Blockbildung im Zuge des Brexit
Von John Clarke - Gefährliche Sicherheit
Wo die Demokratie zu kippen droht
Von Max Pichl - Kipppunkt in der Asylpolitik?
Abschottung und autoritäre Wende
Mit Clara Bünger & Bernd Kasparek - Krise mit Folgen
Warum das Exportmodell keine Zukunft hat
Von Thomas Sablowski - Das Desaster begreifen
Von Denkweisen in postnormalen Zeiten
Von Guillaume Paoli - Kapitalismus am Limit
Warum ist der sozial-ökologische Umbau so umkämpft?
Von Ulrich Brand & Markus Wissen - Leugnen und verzerren
Die Klimakrise als Treibstoff der AfD
Von Tatjana Söding & William Callison - Exzess der Affekte
Wie autoritäre Männlichkeit zum Krisengewinner wird
Von Birgit Sauer - Gezielte Grausamkeit
Das Kapital und die trans*feindliche Agenda
Von Joanna Wuest - Petromaskuline Gefühlswelten
Was der Kulturkampf ums Auto mit Geschlecht zu tun hat
Von Julian Niederhauser - «Würde ich nichts tun, ginge es mir schlechter»
Armutsbetroffen und politisch erschöpft
Von Heike Towae - «Handlungsfähig bleiben wir nur kollektiv»
Erschöpft zwischen Uni, Job und Aktivismus
Von Lukas Geisel & Gianna Gumgowski - Jenseits des Kulturkampfs
Konfliktstoff in der Klassengesellschaft
Mit Linus Westheuser - Kulturkampf um Arbeitszeit?
Von Richard Detje & Nicole Mayer-Ahu - Wie Internationalismus neu denken?
Von Sandro Mezzadra & Brett Neilson - Was heißt Antiimperialismus heute?
Von David Salomon - Gegen die Eindeutigkeit
Von Alex Demirović