Der polnische Historiker Feliks Tych (1929–2015) gehörte zu den besten Kennern der Geschichte des sozialistischen Denkens im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Zu seinem Forschungsschwerpunkt gehörten Leben und Werk Rosa Luxemburgs. Mit seiner Entdeckung der über 1000 Briefe Rosa Luxemburgs an Leo Jogiches in einem Moskauer Archiv in den 1950er Jahren darf überhaupt der Neubeginn der Luxemburg-Rezeption nach der Moskauer „Luxemburgismus“-Verdammung datiert werden. Ohne diesen wertvollsten Archivfund stünde die Luxemburg-Forschung immer noch auf wackligen Füßen.
Tychs Arbeiten zu Rosa Luxemburg zählen bis heute zu dem Wertvollsten, was die Erforschung der politischen Wege der großen Sozialistin und Revolutionärin zu bieten hat. Allerdings blieben die Texte verstreut, ein zusammenfassendes Kompendium entstand aus vielfältigen Gründen nicht. Die politischen Umstände nach dem Zusammenbruch des sowjetisch geprägten Staatssozialismus im Ostteil Europas drängten Tych schließlich zu dem größeren Vorhaben, eine umfangreiche politische Biographie über Leo Jogiches ins Werk zu setzen. Dass diesem Vorhaben kein Erfolg beschieden war, hängt zusammen mit dem Höhepunkt in der beruflichen Laufbahn des Historikers: 1995 wurde Tych gleichermaßen überraschend wie verdient zum Direktor des namhaften Jüdischen Historischen Instituts (ŻIH) in Warschau berufen, dieses kräftezehrende Amt bekleidete er bis 2006. Danach blieb Tych international gefragt vor allem als Holocaustforsche
So blieben die Forschungsergebnisse zu Jogiches Fragmente, die hier – in deutscher Sprache – zum ersten Mal für ein breiteres Publikum in zusammengestellter Form vorgelegt werden. Gut zu erkennen sind für den Leser die Umrisse und die Struktur der geplanten Jogiches-Biographie. Zwei Punkte sollen hier besonders hervorgehoben werden: Erstens die detaillierten Einblicke in die Jahre in Wilna (Vilnius), in denen der künftige freiheitliche Sozialist reifte und sich im Kampf gegen die Zarenherrschaft die ersten Sporen verdiente. Zweitens die politische Schmiede, die zwischen Rosa Luxemburg und Jogiches in den gemeinsamen Züricher Jahren entstanden war, in Berlin ab 1898 ihre volle Ausprägung erfuhr und während der Revolution 1905/1906 im Zarenreich den Höhepunkt erlebte. Tych scheut nicht vor schwierigen Einzelheiten zurück, so bei der Zuordnung von Schlüsseltexten, die in der Regel allein Rosa Luxemburg zugeschlagen werden.
Ergänzt werden die Tych-Fragmente zu Jogiches mit autobiographischen und biographischen Zeugnissen des Historikers selbst, die ihn mit dem Blick auf die Zeit vor 1945 in den Kontext schwierigster Zeitgeschichte stellen.
Holger Politt
Inhalt
- Statt eines Vorwortes: Ein Meilenstein künftiger Forschungen – zu Feliks Tychs unabgeschlossener Biographie Leo Jogiches’ (Holger Politt). S. 7–18
- Feliks Tych: Leo Jogiches – Alternativen zu Lenins diktatorischem Modell. Fragmente einer unveröffentlichten politischen Biographie. S. 19–149
- Einleitung. S. 21–29
- Politisches Erwachen in Wilna. S. 31–62
- Der Einfluss auf Rosa Luxemburg in der Zürcher Zeit. S. 63–73
- Ungeduldige Reifezeit in Berlin. S. 75–112
- Revolutionstage 1905/1906. S. 113–139
- Beeinflussung und Differenz – das Verhältnis zu Rosa Luxemburg in der Zeit der deutschen Revolution 1918/1919. S. 141–149.
- Vom Leben davor: Drei Dokumente zum früheren Leben des polnischen Historikers Feliks Tych. S. 151–191
- Vom Leben davor (Holger Politt). S. 153–154
- Über das Verstecken auf der »arischen Seite«. Mit Professor Feliks Tych sprach Barbara Engelking. S. 155–162
- Das Tagebuch der Miriam Chaszczewacka. Vorwort von Feliks Tych. S. 163–170
- Der kleine Koffer nur für kurze Zeit. Das Gespräch mit Lucyna Tych führte Judyta Pawlak. S. 171–181
- Feliks Tych als Historiker der polnischen Arbeiterbewegung. Ein unvollständiger, kurz kommentierter Überblick von Holger Politt nebst Bibliographie ausgewählter Arbeiten. S. 183–191
- Abbildungen. S. 193–204
- Verzeichnis der Abkürzungen. S. 205
- Zu den Autoren. S. 207/208
- Die bisher erschienenen Rosa-Luxemburg Forschungsberichte. S. 209–223.
Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., Leipzig 2023, 223 S. (Hrsg. von Manfred Neuhaus in Verbindung mit Klaus Kinner, Volker Külow und Holger Politt)
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