Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Kapitalismusanalyse - Staat / Demokratie - Soziale Bewegungen / Organisierung - Parteien / Wahlanalysen Die Finanzmärkte kontrollieren statt die Bevölkerung von Schuldnerstaaten auszupressen

Zehn Argumente zum Umgang mit der europäischen Finanzkrise. Standpunkte 35/2011, Wissenschaftlicher Beirat von Attac.

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Standpunkte

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Oktober 2011

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Anlass und Absicht: Ein Notruf

Die Finanzkrise ist die Zuspitzung der in einer kapitalistischen Gesellschaft unvermeidbaren «finanziellen Instabilitäten». Um finanzielle Verluste der Finanzinstitute zu vermeiden, weil die Politiker fürchten, deren Konsequenzen nicht bewältigen zu können («too big to fail»), werden gigantische staatliche Rettungspakete geschnürt, deren Kosten die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Europa zu übernehmen haben. Die immer nur vorläufige Stabilisierung der Finanzmärkte erfolgt mit einem frontalen Angriff auf Einkommen und Arbeitsplätze, auf soziale Errungenschaften und die Gemeinschaftsgüter und nicht zuletzt auf demokratische Teilhaberechte der Bevölkerung. Um die Finanzinstitute zu retten, wird die Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, werden Einkommens- und Arbeitsplatzverluste, wird die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten auf dem reichsten Kontinent auf Erden in Kauf genommen, werden die Zukunftsaussichten einer ganzen Generation, werden Hoffnungen und Erwartungen zunichte gemacht.

Diese blinde Zerstörung durch die Retter des Finanzsystems kann nicht hingenommen werden. Weder in Griechenland heute, noch in Portugal, Irland, Italien oder Spanien morgen, oder in Frankreich und Deutschland übermorgen. Die entbetteten und entfesselten Finanzmärkte und die Akteure auf ihnen müssen zivilisiert, kontrolliert und strikt reguliert werden. Gewählte Regierungen knicken vor Rating-Agenturen ein, die durch nichts und niemanden legitimiert sind – es sei denn durch eben diese Regierungen. Parlamente haben nichts zu sagen. Die Europäische Union, die Zentralbank, der IWF und die Regierungen haben nur eines auf dem Programm: die Herstellung der Schuldendienstfähigkeit von hoch verschuldeten Ländern mit Hilfe einer Blut-und-Tränen-Austerity. Die Menschen in den Schuldnerländern müssen zahlen für das Versagen der Finanzmärkte. Sie sollen zahlen für die Folgen der Liberalisierung und Deregulierung in den vergangenen 30 Jahren überall in der Welt. Die privaten Verluste werden aus öffentlichen Kassen ausgeglichen, in Deutschland wie in den USA, in Island ebenso wie in Griechenland. Dazu mussten Kredite bei den Finanzinstituten aufgenommen werden, die gerade gerettet worden sind und denen so sichere Gewinne garantiert wurden.

Die öffentliche Verschuldung explodierte infolge dieses Manövers und löste die Währungskrise des Euro aus. Diese kann nicht durch ein Rettungspaket nach dem anderen zu Gunsten der Banken, Fonds und großen Vermögen bewältigt werden. Denn die Rechnung wird in Form von einem Kürzungspaket nach dem anderen der breiten Bevölkerung aufgelastet. Mit dieser Medizin wird, wie in Griechenland zu beobachten ist, nur die Wirtschaftstätigkeit betäubt. Die Finanzmärkte müssen wieder kontrolliert werden. Die Schuldenlast muss tragbar sein. Daher müssen die Forderungen der Gläubiger zusammen mit den Schulden zu einem als gerecht akzeptierten und auf transparente Weise ausgehandelten Teil gestrichen werden. Finanztransaktionen, die von der realen Wirtschaft in einem Rausch der Spekulation weitgehend entkoppelt worden sind, müssen ebenso besteuert werden wie die großen Vermögen und die hohen Einkommen.

Nicht nur das europäische Integrationsprojekt ist bedroht, wie selbst konservative Regierungsvertreter beklagen. Die europäischen Gesellschaften werden eine nach der anderen durch die Finanzmärkte ins Chaos gestürzt. Einige der großen Spekulanten haben erkannt, dass sie es zu weit getrieben haben. Nun wird die politische Klasse aufgerufen, die zerstörerische Dynamik der Finanzkrise zu stoppen und zwar durch politische Maßnahmen, die das Übel nicht noch verschlimmern. Dies ist ein Notruf. Denn Griechenland kann gar nicht mehr «sparen» und einen höheren Schuldendienst aus der Bevölkerung herauspressen, ohne sich selbst aufzugeben. Also muss nun der Notausgang auf der Seite der Finanzmärkte genommen werden. Ihnen und ihren Parteigängern ist es bis heute gelungen, den Ausgang zu verstellen und unpassierbar zu machen. Doch nun bleibt gar nichts anderes übrig als ein Schuldenschnitt, zusammen mit einer Reduktion der Gläubigerforderungen.

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