Ein neuer Begriff
Schlägt man heutzutage die Zeitungen auf, so ist man schnell mit Begriffen konfrontiert, die bislang als «Unworte» galten, zumindest aber als ungewöhnlich oder unseriös. Zu ihnen gehört der Begriff «Finanzindustrie» (Financial Industry). Er findet sich in Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen, Fernsehberichten sowie im Internet, aber kaum in offiziellen Verlautbarungen oder wissenschaftlichen Publikationen. Eine Ausnahme bilden die Bücher Der gute Kapitalismus von Sebastian Dullien, Hanjörg Herr und Christian Kellermann (2009), wo von den «Interessen der Finanzindustrie» die Rede ist (S. 38), und Freiheit statt Kapitalismus von Sahra Wagenknecht (2011), wo dieser Begriff als Synonym für monetäre Finanzinstitute verwendet wird (S. 76). Lexika kennen diesen Terminus bisher jedoch genauso wenig1 wie offizielle Dokumentationen, etwa der Deutschen Bundesbank, des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) oder der Europäischen Zentralbank (EZB). Dass er trotzdem rasch populär wurde, ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass er ein neuartiges Phänomen der Ökonomie pointiert beschreibt und besser als jede andere Kategorie «auf den Begriff» bringt. Vor allem wegen seiner kategorialen «Breite» und relativen Unbestimmtheit, aber auch wegen der Kombination zweier vermeintlich gegensätzlicher Inhalte unter dem Dach eines Begriffs.
Als übergreifendes Synonym für die Geld- und Finanzbranche umfasst der Begriff Finanzindustrie alle finanziellen Dienstleister, also nicht nur die Banken, Sparkassen, Versicherungen usw., sondern auch die geschäftsvermittelnden und -begleitenden Intermediäre, Kontrollinstitutionen, Ratingagenturen usf. Das heißt, die ganze Vielfalt monetärer und finanzieller Institutionen und Prozesse wird hier gänzlich undifferenziert und unterschiedslos unter einen Begriff subsumiert. Dadurch erhalten Geld und Finanzen, welche in der traditionellen Ökonomie unterschiedlichen Bestimmungen unterliegen, per se eine allgemeinere Bedeutung und ein größeres Gewicht.
Andererseits stellt der Fachausdruck «Industrie» in Kombination mit dem Finanzbegriff eine ungewöhnliche und auf den ersten Blick irritierende Wortverbindung dar. Werden doch beide Termini gewöhnlich als Repräsentanten dichotomer und einander ausschließender Bereiche, als Protagonisten der Geld- beziehungsweise der Realsphäre, wahrgenommen. Hier aber, im Begriff «Finanzindustrie», fällt beides zusammen. Dadurch erlangt der Finanzbegriff eine völlig neue Relevanz. In gewissem Sinne legt diese Wortwahl nahe, dass an die Stelle der «alten» Industrie jetzt eine «neue» Industrie getreten ist, dass sich eine ökonomische Transformation vollzogen hat, eine Transformation vom Industriekapitalismus zum Finanzkapitalismus. Die Wortverbindung «Finanzindustrie » erweist sich daher auf den zweiten Blick als durchaus sinnvoll und den veränderten Gegebenheiten adäquat. Sie wird sich daher weiter ausbreiten und im Sprachgebrauch zunehmend durchsetzten.
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