Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen Deutschlands

Erfahrungen – Defizite – Herausforderungen. Reihe «RLS Texte» Nr. 74. Hrsg. von Günter Krause, Christa Luft und Klaus Steinitz.

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Reihe

Texte (Archiv)

Autor*innen

Günter Krause, Christa Luft, Klaus Steinitz,

Erschienen

April 2012

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»Die Theorie des freien Marktes ist tot, aber sie wird noch durch nichts ersetzt.« So lautet das aktuelle Urteil des renommierten britischen Sozial- und Wirtschaftshistorikers Eric Hobsbawm. In dieser knappen These des bekennenden Marxisten bündeln sich drei Momente.

Erstens ist der Glaube an sich selbst regulierende Märkte in der jüngsten, einer systemischen Krise des Kapitalismus massiv in Frage gestellt worden. Ungezügelte Finanzmärkte würgen die Realwirtschaft, höhlen die Demokratie aus und drohen, das europäische Sozialstaatsmodell der Nachkriegszeit zum Einsturz zu bringen. Die in Lehre, Forschung und Politikberatung dominierende neoklassische Theorie kollidiert auffällig mit der Realität und steht den Zukunftsherausforderungen kaum problemadäquat gegenüber. Sie beharrt auf ihren Dogmen, dabei wäre ihre »Abwicklung« fällig.

Zweitens sind einfache Rückgriffe auf das theoretische Modell, das dem gescheiterten Realsozialismus zugrunde lag, keine angemessene, sogar eine falsche Antwort auf die Frage »Wie weiter?« Wohl aber sollten produktive Ansätze bewahrt werden, so vor allem die soziale Funktion wirtschaftlicher Tätigkeit, statt einseitiger einzelwirtschaftlicher Renditeorientierung. Und ohne »Ismen« zu reanimieren, dürfen Karl Marx und auch John M. Keynes im Kreise von Ratgeberinnen und Ratgebern für ein alternatives Wirtschaftsmodell nicht fehlen.

Drittens: Totgesagte sterben länger. Die totgesagte neoklassische Lehre hat immer noch einen Pulsschlag. Sie liegt im Koma, ist aber zählebig. Denn gesellschaftliche Kräfte, die vom Neoliberalismus profitieren, insbesondere globale Konzerne des Finanzsektors, haben nicht an Einfluss verloren. Sie nutzen gar den Staat als Retter in der Not. Zurückzudrängen ist die Theorie des freien Marktes aus dem akademischen Alltag, aus Elitenbildung und Politikberatung nur, wenn Vision und Funktionsmerkmale eines alternativen, den Interessen von Bevölkerungsmehrheiten entsprechenden demokratischen Wirtschaftsmodells präsentiert werden können. »Dabei gibt es ein großes Problem: Unser Wissen, was nicht geht, ist umfassender und aus konkreten Erfahrungen besser begründet als unser Wissen darüber, wie die großen Probleme und Widersprüche der gegenwärtigen Welt zu lösen sind.« Für eine Alternative zum Realkapitalismus existiert keine Blaupause. Es gilt, Lern- und praktische Suchprozesse zu intensivieren. Offenheit und Pluralität in Lehre und Forschung sind dafür eine Grundbedingung.

Die sich in Hobsbawms These spiegelnde Dreifach-Sicht durchzieht die vorliegende Publikation. Sie stellt eine heute viele bundesdeutsche Ökonominnen und Ökonomen bewegende Frage: »Wohin steuert die ökonomische Wissenschaft?« Und sie lädt zur Debatte darüber ein, welcher Wirtschaftstheorie es zukünftig bedarf. Zugrunde liegt ihr eine wissenschaftliche Tagung zum Thema: »Ökonomische Lehre und Forschung in der DDR und im vereinten Deutschland – Erfahrungen, Probleme und Zukunftsanforderungen«. Damit wurde am 1. Oktober 2011 an die Schließung der Hochschule für Ökonomie (HfÖ) Berlin vor genau zwanzig Jahren erinnert. Wie der größten ökonomischen Lehr- und Forschungseinrichtung der DDR erging es etwa zeitgleich anderen wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen, oder sie wurden in bloßer Fortschreibung überkommener altbundesdeutscher Standards umgestaltet. Für die Beschäftigten bedeutete das insbesondere hinsichtlich der Möglichkeiten und Bedingungen für eine weitere wissenschaftliche Tätigkeit eine tiefe Zäsur in ihrer Lebensbiographie. Auch Studierende waren betroffen, Absolventinnen und Absolventen waren plötzlich ohne Alma Mater.

Erstmals seit der deutschen Einheit haben mit dieser Tagung Ökonominnen und Ökonomen aus zahlreichen wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen des Hochschulwesens und der Akademie der Wissenschaften der DDR in großer Runde öffentlich über das eigene Wirken Bilanz gezogen. Sie blieben jedoch nicht unter sich: An der Tagung beteiligten sich auch Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus den alten Bundesländern.

Inhalt

GÜNTER KRAUSE / CHRISTA LUFT / KLAUS STEINITZ
Vorwort

GÜNTER KRAUSE
Wirtschaftstheorie in der DDR – eine Frage und vier Thesen

KLAUS STEINITZ
Das Spannungsfeld von ökonomischer Forschung und Politik in der DDR und ein Vergleich mit der Bundesrepublik

HARRY NICK
Drei Fragen zu Unterschieden zwischen ökonomischen Theorien in der DDR und in der Bundesrepublik

REINHOLD KOWALSKI
Die Kapitalismusforschung in der DDR – Ent- und Abwicklung

WALTER KUPFERSCHMIDT
41 Jahre Hochschule für Ökonomie Berlin – eine Bilanz

KLAUS PETER KISKER
Das Elend bundesdeutscher ökonomischer Lehre und Forschung

KLAUS MÜLLER
Wirtschaftsstudium in der Bundesrepublik und der DDR – Ähnlichkeiten und Unterschiede

PETER THAL
Reflexionen zu Lehre und Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1951 – 1991

NORBERT PECHE
Wirtschaftswissenschaftliche Lehre und Forschung zwischen Ost und West. Ein persönliches Statement 20 Jahre »danach«

HEINZ-J. BONTRUP
Menschliche Arbeit in der Ökonomik. Nach der klassischen Lehre und Forschung kam fast nur noch Mystifikation

RUDOLF HICKEL
Politische Ökonomie des Kapitalismus als gemeinsames Projekt gegen die Arroganz der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft

CHRISTA LUFT
Ökonomischer Mainstream zwischen Erschütterung und »weiter so«

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