Publikation Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte - Westeuropa «All we ever wanted ...»

Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre. «Manuskripte» 98 von Hanno Balz und Jan-Henrik Friedrichs (Hrsg.).

Information

Reihe

Manuskripte

Autor*innen

Hanno Balz, Jan-Henrik Friedrichs,

Erschienen

Mai 2012

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Der Zeitzeuge, so eine spöttische Bemerkung, sei der Feind des Historikers, aber was geschieht, wenn die Historikerin Zeitzeugin ist? Diese Frage stellte sich mir, als Hanno Balz und Jan-Henrik Friedrichs mich im Sommer 2009 mit der Idee konfrontierten, im Mai 2010 – anlässlich des 30. Jahrestages der feierlichen Vereidigung von Bundeswehrrekruten im Bremer Weserstadion, während der es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen war – eine Tagung in Bremen zu den Protestbewegungen der 1980er Jahre zu veranstalten. Auch wenn ich selber nicht an diesem Tag demonstriert hatte, so hatte ich dieses Ereignis doch aufmerksam verfolgt, zumal ich in den Großdemonstrationen der Anti-AKW-Bewegung hautnah mit den Aktionen des sich herausbildenden militanten Blocks ebenso wie mit den Reaktionen der Polizei »in Kontakt« geraten war. Und während mir aus der Rückschau deutlich wird, in welcher Weise die Gewaltbereitschaft bestimmter Gruppen eskalierte und letztlich destruktiv wurde, so schien dieses aus der zeitgenössischen Perspektive nicht so einfach zu entscheiden. War die Besetzung leerstehender Häuser, wie dem Bethanien in Kreuzberg, bereits ein Akt der Gewalt? Wäre ohne die Besetzung des Bauplatzes in Gorleben – und der medial begleiteten Räumung desselben – die Bereitschaft zum Ausstieg aus der Atomenergie so breit in der westdeutschen Bevölkerung verankert worden? Oder allgemeiner: Wenn einer der Protagonisten der 1970er Bewegungen, aktiv bei den Frankfurter Spontis und später bei den Grünen, Weggefährte von Joschka Fischer, nunmehr Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen in Afghanistan, Tom Koenigs, sich freut, dass eine CDU-Kanzlerin vieles von dem umsetzt, was die linken Bewegungen gefordert hätten, so bleibt die Frage, was denn genauer zu diesem »Umdenkungsprozess« in der Gesellschaft geführt hat. Wäre es ohne die Bereitschaft zu oftmals illegalen Grenzüberschreitungen und Aneignungen von Räumen ebenfalls zu diesem Ergebnis gekommen? Oder waren es nicht auch die medial transportierten Bilder der Vermummten, die auf der einen Seite die inszenierten Bedrohungsszenarien verstärkten, auf der anderen Seite aber auch den Staat zwangen, über Deeskalation der polizeilichen Gewalt nachzudenken? Die zunehmende Konfrontation mit den Autonomen führte nicht nur zur Flügelbildung innerhalb der sozialen Bewegung, sondern auch zu Differenzierung und Abgrenzung. In diesen oftmals prekären Prozessen wiederum wurden aus der Sicht des Staates aus Gegnern Verhandlungspartner. Quasi unter der Hand wiederum wurden deren Ziele legitimiert, die militanten Aktionen wiederum delegitimiert. Vor allem aber gilt es, die Ursachen für den Zorn so vieler, nicht nur, aber auch Jugendlicher am Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre zu untersuchen. Diese Wut, die sich nicht zuletzt auch aus vielfachen Ausgrenzungserfahrungen speiste, wurde zugleich von einem großen utopischen Überschuss und Selbstbewusstsein begleitet. Gerade diese utopischen Hoffnungen wurden unter vielen anderen auch von Rio Reiser, der mit den »Ton Steine Scherben« die Bewegungen sowohl der 1970er als auch der 1980er Jahre begleitet hat, in seinem Lied »Wovon träumst du?« formuliert:

Denkst du nicht auch manchmal,
dass dir was fehlt, du weißt nicht, was?
Wie kommst du klar mit dieser Welt,
die so kalt ist wie Stahl und Glas?
Lass uns zusammen gehen!
Refrain:
Wir sind die Zukunft, wir sind die Antwort,
wir sind die Helden, wir sind die Stars!
Wir, die Millionen Unbekannten
und was wir wollen, wird morgen wahr.

Und sicher ist es kein Zufall, dass es in Zeiten von Finanzkrisen, asymmetrischen Kriegen und ökologischer Bedrohung zu neuen sozialen Bewegungen kommt, deren Triebkräfte und Vorstellungen gar nicht so weit entfernt von denen sind, die Rio Reiser in seinem Lied formuliert hat. Angesichts der Bewegung gegen das Finanzkapital, die Menschen seit Monaten in den Städten Nordamerikas und Europas auf die Straße bringt, beflügelt von einer knappen Streitschrift eines jüdisch-französischen Intellektuellen, der die Lager des Nationalsozialismus überlebt hat, wird zu sehen sein, ob diese Bewegung eigene Formen des Protestes bis hin auch zu militanteren Formen entwickeln wird.

Zugleich wird weiter zu diskutieren sein, mithilfe welcher Umdeutungen es dem Staat gelingen konnte, viele der damaligen Forderungen – und dies wäre eine Entgegnung an die euphorische Feststellung Tom Koenigs – in neoliberale Strategien der Sozialsteuerung einzubetten, sodass z. B. wie Barbara Duden, feministische Historikerin und Mitbegründerin der Frauenzeitung Courage, für die autonome Frauenbewegung feststellt, »die damaligen Forderungen von Frauen nun als Forderungen an Frauen gestellt werden«.3 Selbstbestimmung generell entspräche einem neuen Menschentyp, dem decision-maker, und führe in die Entscheidungsfalle, »in der die Freiheit darin besteht, nach Kenntnisnahme zwischen jenen Optionen zu wählen, die sozial und technisch bereits gestellt werden«.

Auf der Bremer Tagung kamen übrigens abends im Kulturzentrum Schlachthof – ein Relikt eben jener Kämpfe um autonome Jugendzentren und der Besetzungen von vom Abriss bedrohter Gebäude – die Zeitzeugen zu Wort, ehemalige Demonstranten ebenso wie der spätere Bürgermeister und damalige Fraktionsführer der Regierungspartei SPD in Bremen, Klaus Wedemeier. Vielleicht lag es an der Weisheit des Alters der Beteiligten, vielleicht auch an den Eigenheiten des bremischen Stadtstaates, von dem der damalige Polizeipräsident sagte, dass es hier von Politikern geduldete »Naturschutzparks« und Freiräume gegeben habe, die die Radikalität beförderten,5 dass alle Beteiligten mit Selbstreflexion und ironischer Distanz berichteten – unter großem Interesse der bremischen  Öffentlichkeit.

Die Organisation und Konzeptionierung der Tagung war ein »intergenerationelles « Unternehmen und Abenteuer, für die vielfältigen Diskussionen, die z. T. per skype – eine völlig neue Erfahrung für mich – geführt wurden, habe ich Hanno Balz und Jan-Henrik Friedrichs zu danken. Ihr habt mich als Zeitzeugin ebenso wie als gelegentlich mahnende Historikerin mit Humor und Geduld ertragen. Ich freue mich sehr, dass mit diesem Buch erste Ergebnisse einer transnationalen und interdisziplinären Erforschung der Protestbewegungen der 1980er Jahre im Besonderen und einer Sozialgeschichte dieser Zeit im Allgemeinen vorliegen.

Bremen, im November 2011
Inge Marszolek

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