Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Kapitalismusanalyse Die Kartoffel als Symbol und materielle Notwendigkeit

Über Urban Gardening im Zentrum der Europäischen Union und die «Zurück-aufs-Land» Bewegung in der südlichen Peripherie der Europäischen Union.

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Erschienen

Juli 2012

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Die multiple Krise hat Europa mittlerweile richtig erreicht. Die von einer Finanzsystem- zu einer Staatsschuldenkrise umgedeutete Systemkrise ermöglicht es den herrschenden Eliten Europas die letzten Reste unserer Sozialstaaten zu schleifen. Während der Neoliberalismus der Vor-Lehman-Brothers Zeit den Sozialstaat attackierte, geht es heutzutage in Europa ums Eingemachte: um den Staat als solchen. Die Staaten in der Eurozone, die dauerhafte Exportüberschüsse auf Kosten ihrer Nachbarn realisieren, sind weitgehend identisch mit dem alten D-Mark Block, also den Ländern, die ihre Währung mehr oder weniger an die «harte» D-Mark gekoppelt hatten. Die Eliten dieser Länder, es sind dies v.a. Deutschland, Niederlande, Luxemburg, Österreich und Finnland, haben ihre natürliche Führerin in Angela Merkel gefunden. Kanzlerin Merkel und ihren Anhängerinnen und Anhängern geht es um die Veränderung dessen, was wir heute unter Staatlichkeit verstehen. In den letzten Jahren wurden mehrere internationale Verträge abgeschlossen, die die öffentlichen Budgets zunehmend einschnüren und höchst wahrscheinlich zu einer institutionalisierten Depression in den peripheren Staaten der Eurozone führen werden.
Längst hat die Krise in den sozialen Systemen Griechenlands, Portugals, Irlands, Spaniens tiefe Spuren hinterlassen. In Griechenland ist mehr als jede_r zweite Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Diese dramatische Zahl ist doppelt so hoch wie 2009. Dies verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass die Wirtschaft Griechenlands durch die von der Troika (bestehend aus IWF, EU und EZB) oktroyierte Strukturanpassungsmaßnahmen dermaßen stranguliert wird, dass Anfang 2012 die Wirtschaftsleistung gegenüber 2008 um 20 Prozent real abgenommen hat. Ein Fünftel weniger planen, herstellen und verteilen hinterlässt natürlich auf dem Arbeitsmarkt Spuren. So sind 600.000 Arbeitsplätze in Griechenland seit 2008 vernichtet worden. Griechinnen und Griechen fürchten eine Rückkehr in die 1960er und 70er Jahre, eine Zeit, die im kollektiven Gedächtnis der Nation als Jahre der Stagnation und Repression verhaftet sind. Viele Menschen sind mittlerweile wieder gezwungen in den Mülltonnen vor den Supermärkten nach Essbarem zu suchen. Genau dies war eine der Begründungen für den Selbstmord von Dimitris Christoulas. In seinem Abschiedsbrief, den er in seiner Manteltasche bei seinem öffentlichen Selbstmord auf dem Syntagma Platz hinterlassen hat, schrieb er:

«The Tsolakoglou government has annihilated all traces for my survival, which was based on a very dignified pension that I alone paid for 35 years with no help from the state. And since my advanced age does not allow me a way of dynamically reacting (although if a fellow Greek were to grab a Kalashnikov, I would be right behind him), I see no other solution than this dignified end to my life, so I don’t find myself fishing through garbage cans for my subsistance. I believe that young people with no future will one day take up arms and hang the traitors of this country at Syntagma square, just like the Italians did to Mussolini in 1945» (so die im Internet kursierende englische Übersetzung)

Zweimal erwähnte Dimitris Christoulas das Wort «Würde», es hat, so dürfen wir vermuten, eine zentrale Bedeutung für seine Wahrnehmung der Krise. Es ist heute jedem klar, dass «der» Markt keine Lösung mehr für die Europäische Union mehr bietet. Bei eklatanten Marktversagen, aber wann tut er das eigentlich nicht?, greifen Menschen ganz selbstverständlich auf Begriffe der moralischen Ökonomie zurück. In Zeiten der Krise neigen Ressentiment besetzte Menschen dazu die Lösung ihrer Probleme in einer Abschottung nach außen zu suchen, Zusammenhalt und Wohlergehend für sich durch Projektion von Hass auf andere, 2 vermeintliche Außenseiter, zu sichern. Marine le Pen, die Führerin der Rechtsextremen «Nationalen Front» (Front National) in Frankreich hat bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Mai 2012, ihre größten Erfolge im wohlhabenden Hinterland des wunderschönen Nizza gewonnen. Ressentiment, Ausgrenzung und Hass sind eine ständige mögliche Antwort von Menschen auf Krise, die andere Antwort kann, aber muss nicht die Wahl der linker Parteien sein. Linke Parteien sind in Europa wieder auf dem Vormarsch. Zwar sehr langsam, und von geringem Ausgangsniveau, aber immerhin. Aber jenseits dieser traditionellen Bahnen der repräsentativen Demokratie gibt es spannende «Praxeologien», die, von der parlamentarisch organisierten Linken kaum beachtet, sich in ganz Europa Bahn brechen.

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