Publikation Digitaler Wandel - Kultur / Medien Digitale Solidarität

Keynote von Felix Stalder auf der netzpolitischen Konferenz "Netz für alle" zu den Aufgaben von Netzpolitik.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Felix Stalder,

Erschienen

September 2012

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

Gehalten auf der netzpolitischen Konferenz Netz für alle am 15. September 2012 in Berlin.

Wir stehen vor einer historischen Chance, neue Formen solidarischen Handelns zu erfinden. Das politisch-ökonomische System in Europa, aber auch darüber hinaus, steckt in einer tiefen Krise. Diese hat viele Gründe. Einer davon ist, dass sich im Kern der avanciertesten Bereiche der Ökonomie ein Widerspruch verschärft. Auf der einen Seite haben wir die zunehmende Bedeutung der Momente der sozialen Interaktion, des Austauschs, des vernetzen Wissens- und Handelns, auf der anderen Seite haben wir eine sich verschärfende Logik der privaten Aneignung dieser gemeinsam hervorgebrachten Werte. Während die eine Seite sich immer wieder der Aneignung zu entziehen versucht, und mit freien Lizenzen auch teilweise Mittel gefunden hat, das zu tun, zerstört eine aggressive Privatisierung von Wissen und Kultur die Voraussetzungen für neue Produktion. Es wird sich noch herausstellen, ob wir es hier mit einem Widerspruch zwischen Produktions- und Eigentumsformen zu tun haben, den Karl Marx als Voraussetzung für einen Wechsel in der Produktionsweise diagnostizierte. Es ist denkbar, aber sicher ist das nicht.

Digitale Solidarität

Mitwirkende

Felix Stalder,

Wie dem auch sei, in den letzten zwei Jahrzehnten war das Internet ein Labor der sozialen Innovation. Eine der erstaunlichsten Entdeckungen, die wir in diesem Labor machen konnten, war, dass es neben Markt und Staat weitere institutionelle Formen gibt, um Produktion und soziale Koordination in grossem Umfang zu organisieren: Die Commons. Ob diese nun eine neue Erfindung oder eine Wiederentdeckung sehr alter, nicht-kapitalistischer Institutionen sind, ist eine offene Frage. Wichtig ist, dass sich diese neuen institutionellen Formen in gewissen Bereichen bereits als produktiv, nachhaltig und skalierbar erwiesen haben, obwohl sie lange Zeit auch von den Akteuren selbst kaum verstanden wurden, dem herrschenden Zeitgeist zutiefst widersprachen und in einem politischen Umfeld sich entwickeln mussten, das in keiner Weise auf diese institutionellen Formen angepasst war.

Aufgabe der Netzpolitik muss es sein, dieses Labor offen zu halten, und die Voraussetzungen des Wachstums dieser neuen Formen solidarischen Handelns zu verbessern. Aufgabe eine progressiven Politik ganz allgemein sollte es sein, diese Erfahrungen ernst zu nehmen und Bestrebungen zu fördern, sie auch auf andere Felder zu adaptieren.

Das sind viele Behauptungen, die ich nun etwas einzulösen versuche. Zunächst möchte ich die Bedeutung dieser neuen Formen solidarischen Handelns hervorheben. Danach werde ich skizzieren, warum sie gerade auf dem Internet entwickeln konnten, um dann kurz Aufgaben der Netzpolitik zu umreissen, die sich aus dieser Perspektive ergeben. Zuletzt werde ich versuchen, den Blick etwas über den Tellerrand, oder vielleicht besser, den Bildschirmrand der Netzpolitik zu lenken.

Liberté, Egalité, Fraternité. Das alte Dreigestirn europäischer Ideale. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf das dritte, oftmals nur in Sonntagsreden beschworene Ideal wenden: Brüderlichkeit oder, modern ausgedrückt, Solidarität. Eine progressive Politik ohne das Motiv der Solidarität kann nicht gelingen. Solidarität in diesem Sinne, als Grundlage einer konkreten Politik, ist keine Abstraktion. Sie ist keine menschliche Konstante, nur weil der Mensch ein soziales Wesen ist. Solidarität lässt sich auch nicht verordnen, sonst wird sie rasch zum Vorwand für zynische Bevormundung.

Nein, Solidarität als Grundlage einer emanzipatorischen Politik ist Solidarität, die sich aus der täglichen Erfahrung speist, sich in den gemeinsamen Handlungen erneuert und sich in der praktischen Einsicht ausdrückt, dass sich die eigenen Wünsche und Ziele nur im Verbund mit anderen, und nicht ohne sie und nicht gegen sie, erreichen lassen. Solidarität wächst horizontal, sie ist nie einfach vorhanden, sondern muss erneuert werden und widerstrebenden Dynamiken widerstehen können.

Traditionell war die Grundlage der Solidarität, auf der linke Politik aufbaute, die geteilte Erfahrung der Arbeiter und Arbeiterinnen in der industriellen, kapitalistischen Produktion und der daraus gewonnene Wunsch, die kollektiven Lebensbedingungen zu verbessern. Dies war keine Frage der individuellen Tüchtigkeit, sondern der Veränderungen der allgemeinen Rahmenbedingenen. Wie dieses Ziel zu erreichen sei, ob innerhalb oder nur außerhalb des Kapitalismus, darüber gab es natürlich heftige Meinungsverschiedenheiten.

Die geteilte Erfahrung der ArbeiterInnen in der industriellen Produktion und die daraus erwachsende solidarische Ausrichtung ist in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden. Das hat mit dem relativen Bedeutungsverlust der industriellen Produktion zu tun. Es ist eine Folge der neo-liberalen Politik, die bewusst Momente und Instrumente der gelebten Solidarität zerstörte, es ist aber auch eine Konsequenz aus einem tief-greifenden gesellschaftlichen Wandel, den man ganz allgemein als „Individualisierung“ bezeichnen kann. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Es ist also eine dringliche Aufgabe, neue Felder zu bestimmen, in denen Erfahrungen der Solidarität erneuert werden können, und nach politischen Instrumenten zu suchen, die diese Prozesse verstärken können. Eines dieser Felder ist die digitale Kultur und eines der Instrumente ist die Netzpolitik. Die digitale Kultur stellt eine konkrete, gelebte Realität dar, die vielfach als positiv und ermächtigend erlebt wird. Die ACTA-Proteste haben gezeigt, dass sie mittlerweile auch ein hohes politisches Mobilisierungspotential gewonnen hat. Die digitale Kultur ist ein günstiges Feld für progressive Politik, weil man hier meint, den Wind der Geschichte im Rücken zu spüren, während einem der Wind auf anderen Themen all zu oft ins Gesicht bläst.

Dieser Wind speist sich aus drei Quellen:

Die Arbeitswelt und ihre Anforderungen haben sich extrem verändert. Das ist besonders deutlich im Bereich der sogenannten „Wissensarbeit“, aber nicht nur darauf beschränkt. Die Arbeit ist sozialer, sie ist kommunikativer, sie ist komplexer und sie ist vernetzter geworden. Mit sozial meine ich, dass soziale Fähigkeiten wie Teamarbeit und emotionale Identifikation wichtiger geworden sind. Kommunikativ in diesem Zusammenhang bedeutet, dass ein wesentlicher Teil der Arbeit aus Koordination mit anderen besteht, deren Zustände und Befindlichkeiten kontinuierlich abgefragt und in die eigene Planung einbezogen werden müssen. Die Komplexität, die dabei jedem einzelnen im Alltag begegnet, ist so groß, dass niemand mehr von sich selbst behaupten kann, seinen Bereich, und sei der auch noch so klein und spezialisiert, selbst überschauen zu können. Die Realität Wissensgesellschaft drückt sich auch ganz stark in der Erfahrung des eigenen Nicht-Wissens aus. Dies um so mehr, weil Wissen ganz allgemein immer an Wert und Nützlichkeit verliert. Anwendbarkeit und damit Gültigkeitsdauer von Wissen schrumpft in einer sich flexibilisierenden Gesellschaft. Aber die Arbeitswelt wird auch immer vernetzter und damit steigen die Möglichkeiten, das eigene Nicht-Wissen und Nicht-Können durch Kooperation produktiv zu machen. Auch wenn man etwas nicht weiß, etwas nicht kann, so besteht doch immer die Erwartung, dass es irgendwo jemand gibt, der gerade dies weiss, der gerade jenes Problem lösen kann. Im Bezug auf die Entwicklung von Freier und Open Source Software gibt es diesen berühmten Satz „Given enough eyeballs, all bugs are shallow“, was bedeutet, dass es für jedes Problem, das man selbst nicht lösen kann, jemanden gibt, der genau dieses Problem lösen kann, wenn nur der Pool der Personen, die zu Rate gezogen werden können, groß genug ist. Das wird oft als Credo für die Schwarmintelligenz gehandelt. Davon halte ich wenig. Es geht nicht darum, viele zu finden, sondern aus einer großen Menge die eine Person, zu der produktive Unterschiede bestehen. Mit Suchmaschinen, sozialen Netzwerken, und anderen Plattformen haben wir heute erste Infrastrukturen, die uns erlauben, genau solche Differenzen aufzuspüren. Diese Differenzen dürfen nicht zu klein sein, sonst entsteht nichts Neues in ihrer Vernetzung. Die Differenzen dürfen aber auch nicht zu groß sein, sonst lassen sich keine Protokolle der Vernetzung etablieren. Nur das richtige Maß an Differenz erzeugt jene Spannung, die neue Netze hervorbringen kann.

Dies führt zu jener merkwürdigen Vermischung von Kooperation und Konkurrenz, die die heutige Arbeitswelt prägt. Die wirtschaftliche Konkurrenz wird durch den Markt vorangetrieben, die Kooperation durch die veränderten Herausforderungen des vernetzten Arbeitens und Lebens. Im Moment radikalisieren sich beide Dynamiken. Es entsteht so etwas wie ein systemischer Widerspruch. Inwiefern sich dieser Widerspruch politisch nutzen lässt, oder ob er wieder eingefangen und entschärft werden kann, wird sich zeigen. Das ist eine der Herausforderungen der Netzpolitik.

Die zweite Quelle, die den Wind der Geschichte blasen lässt, ist die bereits angesprochene gesellschaftliche Individualisierung. Sie ist das große, positive Vermächtnis der neuen sozialen Bewegungen der letzten 40 Jahre. Individualisierung bedeutet zunächst nur, dass die Spannbreite wächst, innerhalb derer Menschen ihre Identität und ihr Lebensweisen artikulieren können, ohne in einen tiefen Konflikt mit der Gesellschaft zu geraten. Dahinter kann und soll es kein Zurück geben. Das ist nicht gleichzusetzen mit gesellschaftlicher Atomisierung und Entsolidarisierung, auch wenn das die neo-liberale Ideologie sehr erfolgreich getan hat. Dass man sich von anderen unterscheidet und diese Unterschiede betont, muss noch nicht heißen, dass man mit ihnen keine Erfahrungen teilen kann. Das ist der grosse Unterschied zwischen progressiven Ideen der Gemeinschaft, die nach vorne als Vielfalt gedacht werden, und konservativen Ideen von Gemeinschaft, die rückwärts als Einheit entworfen werden.

Diese Form der positiven Differenzen zeichnet die kooperativen Dimensionen der digitalen Kultur aus. Sie ermöglichen es, ein anderes Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft erfahrbar zu machen, eines, das das Verhältnis der beiden nicht als Widerspruch artikuliert. Die Vernetzung ist eben kein Kollektivierungsprozess im traditionellen Sinne, bei dem die internen Differenzen minimiert werden. Im Gegenteil, das Gemeinsame wird als Voraussetzung der Individualisierung erfahrbar. Bei aller Konkurrenz, die innerhalb freiwilliger Projekte herrscht, sei das bei freier Software oder in der Wikipedia Community, so ist doch immer klar, dass der eigene Status nur durch die Gemeinschaft überhaupt erworben werden kann. Und somit der eigene Status über eine Stärkung des Gemeinsamen vergrößert wird. Das bedeutet noch keineswegs, dass die internen Prozesse konfliktfrei ablaufen, aber es gibt ihnen eine andere Dynamik.

Der dritte Punkt betrifft die Technologie selbst. Es stehen heute Infrastrukturen zur Verfügung, die es erlauben, große Projekte anders, das heisst, offener und kooperativer zu organisieren. Der Druck zur Hierarchisierung und Bürokratisierung, der noch vor einer Generation innerhalb jeder Organisation parallel mit ihrem Wachstum zunahm, ist heute deutlich schwächer. Die erhöhten Kommunikationsanforderungen, die horizontale Koordination verlangen, lassen sich heute effizient und kostengünstig bewältigen. In einigen Fällen klappt das schon sehr gut – Freie und Open Source Software ließe sich auch hier als Paradebeispiel anführen. In anderen Fällen sind wir noch sehr am Anfang der Lernkurve. Erstaunlicherweise wird das bei der Piratenpartei und deren Nutzung von Twitter gerade besonders deutlich. Aber ganz generell, war es früher ein Privileg der Eliten mit ihren Privatsekretariaten, große soziale Netzwerke zu unterhalten, so kann das heute jeder. Aber wir sind noch erst am Anfang. Hier ist noch viel soziale und technische Innovation notwendig, um die Potentiale zu realisieren.

Wenn wir also davon ausgehen, dass die digitale Kultur neue Felder gelebter Solidarität eröffnet, kann und sollte Netzpolitik darauf ausgerichtet sein, genau diese Momente zu stärken.

Was bedeutet das konkret? Ich möchte auf drei Bereiche hinweisen, die wir sicher im Verlauf des Tages noch im Detail besprechen werden, deshalb möchte ich sie hier nur kurz skizzieren.

Erstens: Einschränkungen der freien Kommunikation müssen abgebaut werden.

Freie Kommunikation ist die Voraussetzung für horizontale Kooperation und der Entstehung von Solidarität. Das sie online mehr eingeschränkt wird als offline, das muss unbedingt verhindert werden.

  • Urheberrecht, die Hauptprobleme hier sind die obsolete Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Nutzung. Im Zeitalter sozialer Medien ist diese Unterscheidung nicht mehr anwendbar. Sie muss gestrichen werden und mit einer Unterscheidung von kommerzieller und nicht-kommerzieller Nutzung ersetzt werden. Das zweite Hauptproblem ist, dass jede Veränderung eines Werkes vom Rechteinhaber verhindert werden kann. Das verunmöglicht die freie Kommunikation in einer Welt, die fast nur aus kulturellen Werken besteht. Hier brauchen wir eine starke, umfassende Regelung zur freien transformativen Werknutzung. Im wesentlichen muss es darum gehen, dass die soziale Kommunikation und Alltagskreativität vom Urheberrecht nicht mehr erfasst wird.
  • Der zweite wesentliche Punkt ist der Kampf gegen Netzsperren aller Art. Dazu muss ich hier wohl nichts sagen.
  • Der dritte wesentliche Punkt, um die freue Kommunikation zu stärken, ist der freie Zugang zu Information: Open Data / Open Access. Informationsmonopole und Wissensdifferentiale verhindern horizontale Kooperation.

Zweitens: Mechanismen des Vertrauens müssen gestärkt werden.

  • Schutz der Privatsphäre ist und bleibt wichtig. Die ganze „Post-Privacy“-Ideologie wird von Menschen betrieben, die selbst dermaßen privilegiert im gesellschaftlichen Mainstream leben, dass sie den Schutz, den die Privatsphäre bietet, gar nicht in Anspruch nehmen müssen.
  • Schutz vor Überwachung. Das betrifft natürlich den ganzen Bereich von Vorratsdatenspeicherung, geht aber darüber hinaus. Wir müssen verhindern, dass die zunehmende Semi-Öffentlichkeit des Alltags dazu benutzt wird, dass bestehende Information systematisch gesammelt und für Sicherheitsinteressen ausgewertet wird. Über INDECT werden wir ja am Nachmittag noch sprechen. Wir müssen neue Schutzmechanismen für diese semi-öffentlichen sozialen Formen finden.
  • Eine Möglichkeit sind intelligente Authentifizierungsformen, die es erlauben, Daten getrennt voneinander zu halten.

Drittens, und das ist jetzt der schwierigste Punkt: Wir müssen neue Formen der Einhegung bekämpfen. Damit meine ich die Nutzbarmachung und Optimierung der Kommunikationsflüsse für kommerzielle Interessen. Dies wird ermöglicht durch die zunehmende Zentralisierung und Privatisierung der Kommunikationsmittel. Ich möchte dafür drei Beispiele geben:

  • Zensur: Dies ist eine App, eines Studenten aus New York, die auf Basis von Informationen des Londoner Bureau of Investigative Journalism rudimentäre Information zu den Opfern US-amerikanischer Dronenangriffe darstellt. Apple hat es bisher drei Mal abgelehnt, diese App in der App Store aufzunehmen. Jedesmal mit einer anderen Begründung, zuletzt damit, dass es sich hier um „Inhalte handle, an denen viele Anstoss nehmen könnten.“ Die Begründung ist gar nicht so wichtig, wichtig ist vielmehr, dass hier eine Instanz entstanden ist, die nach eigenem Gutdünken entscheiden kann, was veröffentlicht wird.
  • Schwieriger zu bekämpfen sind die Einhegungen, die dadurch geschehen, dass die Formen und Mittel, mit denen wir kommunizieren, bereits so angelegt sind, dass sie die Kommunikation in bestimmte, für den Besitzer der Kommunikationsmittel nützliche Bahnen lenkt. Hier geht es also nicht mehr um Zensur, sondern um die Formatierung unserer Ausdrucksformen durch kommerzielle Interessen. Das klassische Beispiel ist der fehlende Dislike Button. Facebook erlaubt nur positive Gefühle und vermeidet soziale Konflikte. Wir können mit der Antifa sympathisieren, aber wir können nicht die Nazis ablehnen.
  • Am schwierigsten zu bekämpfen sind Formen der Einhegung, die im Hintergrund passieren. Das Beispiel hier etwa ist die neue Politik von Google des sogenannten Downrankings. Seiten, die mit vielen Urheberrechtsbeschwerden belegt werden, werden im Ranking zurückgestuft und erscheinen dann nicht mehr auf Seite 1, sondern vielleicht auf Seite 15 der Suchergebnisse. So verändert sich das Bild der Welt, das uns diese Medien vermitteln, von dem, was ist, zu dem, wie es mächtige Interesse gerne hätten.

Dies sind einige der klassischen Themen der Netzpolitik, die wir heute noch ausführlich diskutieren werden. Wenn wir Netzpolitik aber nicht nur als reine Themenpolitik sehen, sondern als Schaffung der kommunikativen Grundlagen, um neue Formen gesellschaftlicher Solidarität zu ermöglichen, dann dürfen wir uns nicht darauf beschränken. Sondern wir müssen uns überlegen, wie wir die neuen Potentiale, welche die digitale Kultur als praktische Utopie bereits in Ansätzen realisiert hat, auch in anderen Feldern fruchtbar machen können. Und wir müssen uns überlegen, welche Anpassungen in anderen Politikbereichen notwendig sind, um solche Prozesse auch in anderen Bereichen zu fördern.

Lassen sie mich einige Beispiele geben, wie die Netzpolitik über sich selbst hinaus weisen kann. Warum etwa ist es sinnvoll, die Nutzung freier Software im öffentlichen Bereich voranzutreiben? Nebst den bekannten Gründen wie Sicherheit, Transparenz, Kostenersparnis und grössere Autonomie gegenüber Software- und Dienstleistungsanbietern ist auch ein wesentlicher Grund, dass dadurch ökonomische Akteure gestärkt werden, die ein vitales, positives Interesse an gemeinschaftlichen Ressourcen – in diesem Fall freiem Software Code – haben. In diesem Sinne kann das als ein mögliches Steuerungselement gesehen werden, um einen wirtschaftlichen Umbau zu fördern, der weg von Wissensmonopolen und hin zu offenen Wissensressourcen führt. Als ein Weg, der dezentrale, lokale Lösungen fördert und nicht auf zentralisierte, globale Lösungen angewiesen ist, ohne deshalb vom Strom globaler Innovation abgekoppelt zu sein.

Damit stärkt man langfristig die politische Basis gegen neue Privatisierungsversuche und für Regulierungen, die die Commons unterstützen. Dass in Europa die Softwarepatente nicht durchgesetzt werden konnten, liegt wesentlich an der klein- und mittelständischen Struktur der europäischen Softwarebranche. Der Einsatz freier Software fördert genau diese Strukturen, diese wiederum können Teil einer politischen Basis werden, die vorhanden sein muss, will man wirklich das geistige Eigentum reformieren.

Oder die Kulturpolitik. Sie folgt nach wie vor einem klassischen bürgerlichen Kulturverständnis. Da werden kulturelle Werke gefördert, die dann über den Markt oder öffentlich finanzierte Kanäle vertrieben werden und irgendwann mal als Erbe konserviert werden. Die Rolle der Mehrheit ist die des Publikums, dass mehr oder weniger stumm Kultur rezipieren darf. Was würde es hier bedeuten, das Publikum als Teil einer vernetzten Gemeinschaft zu aktivieren? Welche Bedingungen müssten da geschaffen werden, dass Menschen sich kulturelle Werke nicht nur anschauen, sondern aneignen können, um dadurch selbst Teil einer kulturell aktiven Öffentlichkeit zu werden. Was müsste sich ändern, damit Archive und Museen nicht mehr Aufbewahrungsorte, sondern Produktionsmittel für alle werden?

Das ist nicht nur eine Frage des geistigen Eigentums. Es liesse sich, zumindest für zukünftige Werke, auch über die Veränderung der öffentlichen Förderung und ihrer Lenkungsfunktion angehen. Was hindert uns daran, die Zusage öffentlicher Mittel an die Verpflichtung zu verknüpfen, dass Werke nach der meist sehr kurzen Zeit der kommerziellen Auswertung, wieder als Ressource anderen zur Verfügung gestellt werden müssen? Nicht das Urheberrecht.

Wie würde die Förderung solcher freien Ressourcen und deren Aneignung durch viele die Anforderungen an das Bildungssystem verändern?

Oder was würde es bedeuten, Wirtschaftsförderung – nicht Sozialförderung, nein Wirtschaftsförderung – verstärkt auch Non-Profits, wenn sie sich um gemeinschaftliche produktive Ressourcen kümmern, zugänglich zu machen? Oder wie müsste Landwirtschaftspolitik aussehen, wenn eines ihrer Ziele wäre, die Allmenden im ganz traditionellen Sinne wieder zum Blühen zu bringen?

Das führt uns natürlich weg von der Netzpolitik. Aber auch vielleicht gar nicht so weit, denn alle diese noch zu erschaffenden Commons werden zu einem wesentlichen Teil auf Basis digitaler Kommunikationsflüsse organisiert werden.

Das Internet ist ein wichtiges Labor gesellschaftlicher Innovation und eine der erstaunlichsten Entdeckungen, die in diesem Labor gemacht wurden, ist die gesellschaftliche Bedeutung des Teilens. Teilen als Modus des Austausches hat sich gegen alle Erwartungen bereits in vielen Bereichen als äußerst produktiv und stabil erwiesen: Gegen alle Widerstände und gegen einen ungeheuer mächtigen Zeitgeist, der so etwas gar nicht mehr denken kann.

Und Teilen beschreibt nichts anderes als eine gelebte Praxis der Solidarität.

Natürlich wirft diese Praxis, die Institution der Commons, auch neue Probleme auf. Nicht alle Gemeinschaften sind progressiv und auch in Gemeinschaften, denen man mit großer Sympathie begegnet, lassen sich ohne weiteres deutliche Schattenseiten ausmachen. Die Wikipedia liefert hier ein reiches Anschauungsmaterial.

Und: Nicht alle Bereiche des Lebens können oder sollen als Commons organisiert werden. Öffentliche Infrastrukturen und Einrichtungen bleiben wichtig. Wenn man die neuen Commons und die öffentliche Hand als Gegensatz zueinander positioniert, ist man schnell bei neo-liberaler Politik im zeitgeistigen Mäntelchen. Wir erleben das aktuell in Grossbritannien, wo der Slogan der „Big Society“ als Euphemismus für Sozialabbau und den Rückzug des Staates dient.

Es ist eine grosse politische Aufgabe zu bestimmen, auf welchen Feldern neue Formen des Gemeinschaftlichen institutionalisiert werden können. Eins scheint aber sicher, der Bereich jenseits von Markt und Staat wird wachsen.

Es ist also die grosse Aufgabe der Netzpolitik dafür zu sorgen, dass das Internet als Labor der sozialen Innovation offen bleibt und die Potentiale des Netzes, solidarisches Handeln hervorzubringen, zu fördern. Es ist Aufgabe einer progressiven Politik, diese Erfahrung ernst zu nehmen, und Wege zu finden, sie auf anderen Feldern des Lebens fruchtbar zu machen.