Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen Die Landtagswahl in Niedersachsen

Das offene Geheimnis des Wahlerfolgs der Linkspartei ist heterogener Protest

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Marcus Hawel,

Erschienen

April 2008

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Niedersachsen ist das zweitgrößte Flächenland in Deutschland. In der Fläche dominiert die Agrarwirtschaft; es gibt eine Vielzahl von kleinen, bäuerlich geprägten Ortschaften. In der Summe leben dort die meisten Einwohner dieses strukturkonservativen Bundeslandes. Zwar fallen bei Wahlen auch Großstädte wie Hildesheim, Braunschweig, Osnabrück oder Wolfsburg ins Gewicht; aus der Region Hannover, in der rund ein Achtel der gesamten Einwohner (ca. eine Million Menschen) leben, kommen allein 14 % aller Wahlberechtigten – das sind konkret ca. 630.000 Wähler. Dennoch gilt für das »Land der Schweinezüchter und Kartoffelbauern«: Die Wahlen werden auf dem Lande gewonnen.

Wie also ist möglich geworden, was so von niemandem erwartet worden war: DIE LINKE ist bei den Wahlen vom 27. Januar 2008 mit 7,1% (+6,6%) in den niedersächsischen Landtag eingezogen.

DIE LINKE erreichte in Niedersachsen ein deutlich besseres Ergebnis als in Hessen am selben Tag und im Stadtstaat Hamburg knapp vier Wochen später. In 80 von 87 niedersächsischen Wahlkreisen liegt DIE LINKE deutlich über 5%. Wir haben es also mit einem flächendeckenden Phänomen zu tun, das nicht damit vollends zu erklären ist, dass hier ein besonders guter Wahlkampf geführt wurde. Zwar schreiben die Landesvorsitzenden Tina Flauger und Dieter Dehm im Landesinfo nach der Wahl: »Die überraschend guten Ergebnisse in bäuerlich geprägten Gegenden und die Stimmen von sieben Prozent der Selbständigen legen den Schluss nahe, dass wir inzwischen auch mit Themen wie der Forderung ländlicher Räume und der gezielten Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen verbunden werden.«

So perfekt auch der Wahlkampf gewesen sein mag, niemals hätte er aber bei den finanziellen und personellen Ressourcen, die der Linkspartei zur Verfügung standen, zu einem derart flächendeckend homogenen Ergebnis führen können, wenn nicht ein allgemeiner Trend, der von der Bundesebene ausgeht und über die Medien transportiert wird, ohnehin wirkmächtig gewesen wäre. Es sind die brennenden Themen auf Bundes- und Länderebene (Sozialstaat, Arbeitslosigkeit, Rente, Bildungs- und Familienpolitik, Bürgerrechte und Militärpolitik), auf die numerisch bedeutsam gewordene Schichten eine alternative Antwort suchen, die sie von den etablierten bürgerlichen Parteien nicht mehr bekommen, nicht einmal – und wenn, dann nur heuchlerisch – problematisiert finden, sich deshalb wütend oder auch nur enttäuscht abwenden. In der Linkspartei wird zunächst eine Partei gesehen, die zumindest aus Protest heraus wählbar geworden ist – nicht zuletzt wegen des professionellen Auftretens der Bundestagsfraktion in der Öffentlichkeit, sei es durch Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine, Bodo Ramelow, Dietmar Bartsch oder Lothar Bisky, Petra Pau oder Jan Korte, Klaus Ernst oder Wolfgang Nescovic, Gesine Lötzsch, Ulrich Maurer und andere.

Den Medien kommt diesbezüglich eine wichtige Rolle zu. Im Niedersachsenwahlkampf haben sie DIE LINKE zuerst ignoriert und dann binnen der letzten zwei Wochen vor der Wahl regelrecht hochgeschrieben. Das ließe sich im Einzelnen anhand einer Zeitungenanalyse belegen. In Niedersachsen schien schon vor der Wahl alles entschieden. Nichts Spektakuläres würde vorfallen. Es stand ein äußerst langweiliger Wahlkampf bevor, in dem der SPD-Spitzenkandidat Wolfgang Jüttner nicht das Format eines Herausforderers gegen Christian Wulff hatte. Dennoch können die Medien nicht regulieren, was ansonsten nicht im Schwange wäre. Eine Große Koalition auf Bundesebene, so heißt es, macht die kleinen oppositionellen Parteien stark – in den 1960er Jahren die APO, heute die Linkspartei. Ist damit alles erklärt? Nein, nur das allerwenigste!

Durch Deutschland gehen zwei unsichtbare Grenzen, gleichsam ehemalige Mauern. Nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd herrscht ein signifikantes Gefälle: Der Norden ist tendenziell sozialdemokratisch, preußisch-protestantisch, weniger wohlhabend; der Süden ist tendenziell schwarz, römisch-katholisch, eher reich. Diese Scheidelinie deckt sich in etwa mit dem historischen Limes, also der Grenze, die die Römer bauten, um ihr Territorium vor den Barbaren zu schützen. Ist es nur ein Zufall, dass sich DIE LINKE in Westdeutschland zuerst im Norden ausbreitet?

Selbst in der tiefschwarzen Hochburg Vechta erreichte DIE LINKE einen Stimmenanteil von 3,1%. Das beste Wahlergebnis freilich erreichte die Partei im Wahlkreis Hannover-Linden mit 13,3%; nimmt man nur den Stadtteil Linden-Nord, dann sind es sogar 21,1%. Das dürfte im Westen Deutschlands bisher einmalig sein.

Ein genauer Blick auf die unterschiedlichen Wahlergebnisse für DIE LINKE in den hannoverschen Wahlkreisen gibt exemplarischen Aufschluss darüber, welche Wählerschichten der Linkspartei zu ihrem Wahlerfolg verholfen haben – mit einem Verallgemeinerungswert für sämtliche großen Städte und auch für kleinere Städte, Gemeinden und Landkreise in ganz Niedersachsen.

Der Soziologe Daniel Gardemin vom Sozialforschungszentrum agis e.V. an der Universität Hannover hat die Wahlergebnisse der Landtagswahl in Niedersachsen mikrosoziologisch und milieutheoretisch beleuchtet und auf einer Veranstaltung der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen e.V. in Hannover vorgetragen.

Exemplarische Mikroanalyse: Hannover

Im Westen von Hannover, wo DIE LINKE stark ist, befinden sich die dicht besiedelten Stadtteile mit deutlich unterprivilegierten Bodenquartieren (z.B. Calenberger Neustadt: 12%, Nordstadt: 15,8%, Hainholz: 12,4%, Stöcken: 11,4%, Mühlenberg: 11,1%). Dort hat auch die SPD ihre Hochburgen. Im Osten dagegen, wo CDU und FDP ihre Hochburgen haben, befinden sich die reicheren Viertel mit besserer Infrastruktur und größeren Grünflächen. Dort hat DIE LINKE unterdurchschnittlich schwach abgeschnitten (z.B. in Kirchrode: 3,3%, Wülferode: 3,8% und Isernhagen-Süd: 2,7%).

DIE LINKE ist überdurchschnittlich stark (ca. 11-13%) in Stadtteilen, wo diese Faktoren zusammenkommen: eine geringe Wahlbeteiligung (z.B. Hainholz: 37,9%), hohe Arbeitslosigkeit, ein hoher Anteil an Menschen mit akademischer Ausbildung oder Migrationshintergrund. Das sind in der Regel die sozial benachteiligten Stadtteile, in denen der Anteil der Alleinerziehenden und Ledigen besonders hoch ist (z.B. in Hannover: 26,5%, Garbsen: 25,0% und Laatzen: 24,8%), ebenso der Ausländeranteil. Allein in sieben solcher Stadtteile ist DIE LINKE drittstärkste Kraft geworden (z.B. in Hainholz, Stöcken, Linden und Mühlenberg), indem sie sehr erfolgreich der SPD Wähler abgeworben hat. Aber auch insbesondere in den Stadtteilen, wo die Hochburgen der GRÜNEN sind (Linden, List, Oststadt und Nordstadt), insbesondere in den universitätsnahen Wohnvierteln, ist DIE LINKE sehr erfolgreich gewesen.

Typologie der Linkswählerschaft

Fasst man diese Merkmale zusammen, erhält man eine Typologie der Linkswählerschaft. Demnach wählen ehemalige Nichtwähler und ehemalige SPD-Wähler, die man als Protestwähler zusammenfassen kann, DIE LINKE. Ferner ehemalige Wähler der GRÜNEN und Bewohner universitätsnaher Quartiere, die als akademische Linke gelten. Außerdem Gewerkschafter und gut situierte Personen, die aus solidarischen Gründen gegenüber den sozial Benachteiligten der Linkspartei ihre Stimme geben, bzw. weil sie in der Linkspartei den verlängerten politischen Arm der Gewerkschaften sehen. Last not least Arbeitslose, insbesondere ältere Langzeitarbeitslose, Alleinstehende und Alleinerziehende, die zur Gruppe des Prekariats oder zur Schicht der drop outs gehören. Die Wähler der Linkspartei sind überwiegend männlich und im Alter zwischen 35 und 59 Jahren.

DIE LINKE war als einzige Partei imstande, Nichtwähler zu mobilisieren. In der Landeshauptstadt sind es allein über 6.700, landesweit 30.000 Stimmen, während die anderen Parteien zwischen 2003 und 2008 knapp 40.000 Wähler, die zu Nichtwählern wurden, verloren haben, landesweit sogar 451.000. Von den anderen Parteien wechselten in Hannover zusätzlich über 10.000 und landesweit 165.000 Wähler zur Linkspartei.

Mit anderen Worten: Die Erfolge der Linkspartei basieren zu einem sehr hohen Anteil auf Protest, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Gardemin schätzt vorsichtig das Protestwählerpotential der Linkspartei auf bis zu 50%. Der Rest teilt sich auf die akademische Linke (ca. 10%), die Solidarischen (ca. 20%) und auf diejenigen auf, die von Sozialabbau und Arbeitslosigkeit unmittelbar betroffen sind (ca. 30%), wobei hier eben auch Überschneidungen möglich sind, weshalb man nicht auf 100% komme, wenn man die prozentualen Anteile addiert.

Blick zurück: Die Niederungen der »Westentwicklung«

Von Politikern unterschiedlicher Couleur, Parteienforschern und Journalisten hörte man zur PDS beinahe unisono über ein ganzes Jahrzehnt nach der deutschen Einheit hinweg, dass sie ein Übergangsphänomen sei: ein Ostphänomen, das verschwinden werde, spätestens wenn die Landschaften zu blühen anfangen. Die PDS verschwand aber nicht, im Gegenteil: sie wurde im Osten Deutschlands von der Bevölkerung fest verankert; sie ist dort Volkspartei. Als sich die PDS anschickte, sich auch im Westen ausbreiten zu wollen, wurde dem strategischen Ansinnen ein unabdingbares Scheitern vorausgesagt, gemäß der Annahme, dass die dem Charakter nach ostdeutsche Partei im Westen aufgrund kultureller Fremdheit niemals wird Fuß fassen können. Das schien auch tatsächlich zunächst zu stimmen. Im Juni 2003 gestand Lothar Bisky: »[Im Westen] treten wir erfolgreich auf der Stelle. Leute kommen, Leute gehen, einige bleiben. (...) Nun müssen wir einen steinigen Weg gehen, miteinander an konkreten Projekten arbeiten, junge Leute im Westen fördern, sie mit einbeziehen und uns darauf vorbereiten, dass es länger dauern wird als zunächst angenommen.«

Die PDS hatte keine einheitliche Strategie für den Westen Deutschlands. In Berlin und in den ostdeutschen Landesparteiverbänden war man sich weitgehend einig, wie es in einem Aufsatz von Claudia Gohde aus dem Jahr 1995 heißt: »die Westentwicklung kann nur die Aufgabe der Westlinken selber sein.« In der Konsequenz seien verschiedene Paradoxien und Konfliktpotentiale entstanden, die nachhaltig bis heute wirken und es so schwierig machen, eine gemeinsame Strategie für die Parteientwicklung im Westen zu erarbeiten. Die Partei ist hier sehr heterogen, eher ein Sammelbecken aus ganz unterschiedlichen Strömungen, die Fuß gefasst haben. Man konzentrierte sich im Westen darauf, situativ und mit traditionellen Konzepten bei Wahlen die Fünf-Prozent-Hürden zu überwinden. Was nicht gelang. Gregor Gysi brachte die Vertracktheit Mitte 2004 auf den Punkt: »Das Hauptproblem ist unsere mangelnde Akzeptanz im Westen. (...) Wenn die Menschen im Westen unzufrieden mit der SPD sind, dann kommen die allerwenigsten auf die PDS. Diese Tatsache kann die PDS nicht verdrängen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir nicht in der Lage sind, dieses Defizit im Westen auszufüllen.«

Zwischenzeitlich stand programmatisch die »Westentwicklung«, also die Überzeugung, die PDS müsse eine bundesweite Partei werden, sogar zur Disposition, auch wenn von den weitsichtigen Strategen der Parteienentwicklung schon immer die Überzeugung vorhanden war, der Weg führe nicht über eine Ausdehnung, sondern »dass [die PDS] Schritt für Schritt und von unten eine Partei in den alten Bundesländern aufbaut« und man diesbezüglich viel Geduld aufbringen müsse: »Wir dürfen Geschichte nicht überfordern. Man erreicht so was nicht in wenigen Jahren.« Aber wäre es nicht besser gewesen, sich einzugestehen, dass die PDS eine Ostpartei ist – so wie die CSU eine Bayernpartei ist? Man war kurz davor, sich das einzugestehen und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Gysis und Biskys Traum, eine bundesweite Partei links von der SPD zu etablieren, die der Republik im Sinne eines demokratischen Sozialismus grundlegend erneuernde Impulse geben könnte, schien vor den realpolitischen Gegebenheiten zu verblassen.

Dann aber geschah genau das, was das offene Geheimnis des Erfolges für die Linken ist. Die rot-grüne Regierungsperiode schaffte eine breit um sich greifende Desillusionierung hinsichtlich des grundgesetzlichen Selbstverständnisses dieser Republik und der Erwartungen, die 1998 mit der Abwahl von Helmut Kohl verknüpft waren. Unter Kohl war lediglich vom »Reformstau« die Rede, unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer aber wurde das Wort »Reform« zu einer Art Unwort des nächsten Jahrzehnts. »Reform« bedeutete nun Sozialabbau, Lockerung des Kündigungsschutzes, Privatisierung der Rentenversicherung, Enttabuisierung des Militärischen in der deutschen Außenpolitik. Außenpolitisch geriet die Desillusionierung durch die Beteiligung der Bundeswehr an völkerrechtswidrigen Angriffskriegen in Fahrt; rechtsstaatlich durch die Einschränkung der Grundrechte im Zuge der Antiterrormaßnahmen nach dem 11. September 2001; sozialpolitisch durch die Abrissbirne »Agenda 2010«. Vor allem die Zerschlagung der Arbeitslosenversicherung, die Einführung der Hartz IV-Gesetzgebung hat in der Bundesrepublik ein gesellschaftliches Angstklima geschaffen: Angst vor dem sozialen Abstieg, die den LINKEN Protestwähler weit über das linke Spektrum hinaus bis aus der Mitte der Gesellschaft zuspült.

Die »Agenda 2010« hat eine Dreiteilung der Gesellschaft manifestiert. Im ersten Drittel befinden sich die Abgesicherten und Reichen. Sie haben sozialversicherungspflichtige Berufe, in denen sie verbindlich nach festen Tarifen entlohnt werden, vor Kündigung geschützt sind, oder sie sind selbstständig und verdienen ordentlich. Im zweiten Drittel sind die von Prekarisierung Bedrohten verortet. Die Menschen in diesem Drittel haben keine sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze mehr, sind in der Regel schnell kündbar oder ohnehin nur befristet eingestellt; ihnen wird es zunehmend schwerer gemacht, eine Familie zu gründen, weil sie Angst vor einem sozialen Abstieg haben. Bereits vier Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor: in Minijobs, in Zeitarbeit oder Scheinselbständigkeit und werden durch das so genannte Hartz IV (Arbeitslosengeld II) aufgestockt. Sie sind in der Regel ganz besonders offen für die traditionell sozialdemokratischen Umverteilungsstrategien, derer sich DIE LINKE angenommen hat. Dieses Spektrum geht ins letzte Drittel über, in dem sich die Abgehängten (drop outs) befinden: Langzeitarbeitslose auf Hartz IV. In der Regel gehen sie selten noch zur Wahl.

Was sich hier manifestierte, war nichts Geringeres als eine Krise des Systems der repräsentativen Demokratie, auf die die etablierten neoliberalisierten bürgerlichen Parteien keine wirkmächtige Antwort fanden. Die übliche verschleiernde Rhetorik übte auf numerisch bedeutend gewordene Schichten keine nennenswerte Wirkung mehr aus, weil die gesellschaftlichen Widersprüche so offensichtlich geworden waren, dass die Verschleierung kaum ideologiekritisch dechiffriert zu werden brauchte. Die politischen, ökonomischen wie journalistischen Eliten dieses Landes, die an der neoliberalen Ideologie vermeintlich alternativlos festhielten und ihre Politik oder Rechtfertigung des rechts- und sozialstaatlichen Abbaus fortsetzten, hatten sich ganz offensichtlich von der Bevölkerung entfernt und machen ihr gegenüber eine geradezu feindliche Politik.

Nunmehr war ein Resonanzboden entstanden, auf Grundlage dessen die Linken »ein neues (...) ambitioniertes politisch-strategisches Ziel« entwickeln konnten: die »Wiederherstellung der Interessenvertretung und parlamentarischen Repräsentation des Teils der Bevölkerung, der sozial benachteiligt und Verlierer von Modernisierung und Globalisierung sei«. Die mangelnde Akzeptanz der PDS im Westen war aber damit nicht zugleich verschwunden; die neu gegründete WASG, von gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Milieus getragen, die der etablierten Gewerkschaftsaristokratie und der unter Gerhard Schröder vollends neoliberalisierten SPD den Rücken kehrten, vermochte viel erfolgreicher als die PDS im Westen das Protestpotential anzusprechen und zu sammeln.

Darum musste die PDS über qualitativ neue Strategien, d.h. die politische und organisatorische und vor allem kulturelle Öffnung nachdenken, wie der »Vordenker« André Brie es 2004 in der »UTOPIE kreativ« empfahl.

Das Ergebnis dieser strategischen Überlegungen war die Fusion mit der WASG und die Neugründung der Partei als DIE LINKE. Der Neuformierungsprozess der demokratisch-sozialistischen Linken führte zur Überwindung der »kulturellen Fremdheit« der Partei im Westen. Dies war die entscheidende strukturelle Voraussetzung für die Wahlerfolge der Linken, die sich 2008 mit dem Einzug der Partei in die Länderparlamente in Bremen, Niedersachsen, Hessen und Hamburg ergaben. Der Erfolg ist hauptsächlich der Tatsache zu verdanken, dass sich »etwas von den bürgerlichen Parteien Verdrängtes artikuliert«, wie es Gregor Dotzauer ganz treffend im Tagesspiegel formuliert hat,[xii] und DIE LINKE die positive Aura der Wählbarkeit bekommen hat.

Was genau dieses »Verdrängte« ist, für dessen Erinnerung und programmatische Erneuerung DIE LINKE positiv und authentisch in Verbindung gebracht wird, wer die »Verdrängten« sind, die dafür gesorgt haben, dass DIE LINKE im Westen in die Parlamente einzieht, so dass nunmehr von einer nachhaltigen Veränderung des Parteiensystems die Rede ist: von einem Fünf-Parteiensystem – dafür kann allgemein die Landtagswahl in Niedersachsen – und mit spezifischem Blick die Region Hannover – exemplarisch herangezogen werden. Denn Niedersachsen ist ein Flächenland, und die Region Hannover bietet wiederum Einsichten, die auch für Metropolen, etwa die Stadtstaaten Bremen und Hamburg, repräsentativ sind.

Der Wahlkampf der LINKEN in Niedersachsen wurde sehr gut und mit großer Anstrengung geführt; er hat aber vermutlich nicht den entscheidenden Ausschlag für den Wahlerfolg ergeben. Er war nur insofern von Einfluss auf das Wahlergebnis, als die Menschen eine politische Alternative wahrnehmen müssen können, deren Aura der Wählbarkeit nicht durch ein negatives Auftreten in der Öffentlichkeit zerstört wird. In Niedersachsen hat man sich während des Wahlkampfes diesbezüglich keinen groben Fehler geleistet. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die Äußerungen des auf der Liste der LINKEN kandidierten und in den Landtag eingezogenen DKP-Mitglieds Christel Wegner zu Mauerbau und Stasi DIE LINKE unter die fünf Prozent hätte bringen können, wenn sie ihre Äußerungen vor laufender Kamera schon zwei Wochen vor der Niedersachsenwahl gemacht hätte. In Hamburg hat der publik gemachte Skandal jedenfalls DIE LINKE etwa drei Prozent der Stimmen gekostet; in Umfragen lag sie zwei Wochen vor der Wahl bei ca. neun Prozent. Man wird in Zukunft wohl auf solch fragwürdige und im Ergebnis naive Taktiken verzichten müssen, wie derjenigen  Funktionsträgern anderer Parteien wie hier der  DKP einen (fast sicheren) Listenplatz anzubieten, gleichsam als Deal, damit die DKP selbst nicht zur Wahl antritt und die LINKE die Stimmen von DKP-Sympathisanten mit ins Boot holen kann – ohne einen historisch erwiesenen Abschreckungseffekt – wie in diesem Fall – mit einzukalkulieren. Eine Partei, die es mit demokratischem und rechtsstaatlichem Sozialismus ernst meint, muss sich glaubwürdig gegenüber der autoritären Sowjetmarxismus und SED-Tradition abgrenzen und auf dem Boden des Grundgesetzes und einem autoritäts- und staatskritischen Grundverständnisses von Sozialismus bewegen.

Es gilt überhaupt erst einmal zu begreifen, was den Erfolg der LINKEN im Westen ausmacht, um ihn nicht fahrlässig wieder zu verspielen. Da die Wählerstimmen weit über das linke Spektrum hinaus bis aus der Mitte der Gesellschaft kamen, im wesentlichen aus Protest motiviert sind, besteht die Aufgabe darin, das Protestpotential zu binden. Dafür stehen vier bis fünf Jahre zur Verfügung. Binden heißt: die Wähler in ihrer Erwartungshaltung nicht zu enttäuschen. Das wird nicht einfach sein. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man mit zehn Abgeordneten im Landtag – als Opposition aus  »Schmuddelkindern«, mit denen man bekanntlich nicht spielen soll, gemieden wird und damit auch wenig  gestalterische Parlaments-Politik betreiben kann. Das geht nur indirekt, indem – wie auf Bundesebene – die anderen Parteien sich den linken Positionen annähern aus Furcht, sie müssten ansonsten bei der nächsten Wahl massive Stimmenverluste hinnehmen. Die Erwartungshaltung mancher Wählerschichten, insbesondere der Abgehängten oder Präkarisierten ist derart akut mit einem materiellen Elend verknüpft, dass Geduld und langer Atem, die man in einer Demokratie für das Bohren dicker Bretter, wie Max Weber sagt, benötigt, nicht unbedingt erwartet werden können. Die Protestwähler sind schneller wieder weg, als sie gekommen sind, driften ins Nicht-Wählerlager oder zu anderen Parteien ab, sobald ihre Geduld am Ende ist.

Hier zeichnet sich gewissermaßen ein neues Dilemma für die Linkspartei ab: man muss den Präkarisierten und den Abgehängten (drop outs) Hoffnung machen, darf aber die Hoffnung nicht unrealistisch nähren. Eine oppositionelle Protestpartei muss sich in die Niederungen der Realpolitik begeben und darf dabei an Anziehungskraft für die Deklassierten, Präkarisierten, aber auch für bildungsbürgerliche Schichten, für akademische oder gewerkschaftliche und solidarische Linke nicht verlieren. Und es zeichnet sich diesbezüglich ein neues Zusammenspiel der Linken in Ost und West ab: Schon jetzt sind die Linken in den ostdeutschen Bundesländern entweder in der Regierungsverantwortung oder kurz davor es zu sein. In Thüringen könnte DIE LINKE nächstes Jahr sogar mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellen. Man wird im Westen darauf angewiesen sein, dass die Politik in Ostdeutschland für DIE LINKE in Westdeutschland vorzeigewürdig ist. Die Politik der Linkspartei im Berliner Senat ist es bisher nicht gewesen. Man wird darauf angewiesen sein, die Ungeduldigen und Skeptischen darauf zu verweisen, dass wo DIE LINKE in die Regierung eintritt, zwar auch Kompromisse gemacht werden müssen, aber unterm Strich eine bessere Politik für die Menschen möglich ist. Der Weg dorthin verlangt in Westdeutschland einen langen Atem und kluge Pfadfinder, die wissen, wo die Fettnäpfchen liegen.

„Die Pyramide muss stimmen, die Kugel muss rollen“

Harald Pätzolt, Mitarbeiter im Bereich Strategie und Politik der Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei, hat prägnant auf den Punkt gebracht, worum es weiterhin gehen wird. DIE LINKE muss im Westen Deutschlands von der Basis aus wie eine Pyramide hochwachsen: von der Kommunal- über die Landes- zur Bundesebene. Das gelingt nur, wenn der Schwung, der die Kugel ins Rollen gebracht hat, wie er sagt, nicht nachlässt.

Schon jetzt aber erzeugt DIE LINKE auch von selbst einen interessanten Schwung, der die anderen Parteien und die verkrusteten parlamentarischen Strukturen in Bewegung bringt. Die Anwesenheit der Linkspartei in den Parlamenten blockiert die übliche Koalitionsarithmetik. Denkbar wäre nun, dass sich nicht nur neue Koalitionen ermöglichen, sondern ein neues System des Regierens etabliert: das Regieren mit wechselnden Mehrheiten, wie es etwa in Spanien seit längerem praktiziert wird. Die stärkste Partei im Parlament stellt eine Minderheitenregierung, die von den anderen Parteien toleriert wird. Für jedes Gesetz, das im Parlament verabschiedet werden soll, müsste eine Mehrheit gefunden werden, die je nach Sachlage jeweils eine andere sein könnte. In Hessen ist temporär ein solches Regierungssystem gleichsam für den Notfall laut Verfassung vorgesehen, wenn der Landtag keinen neuen Ministerpräsidenten zu wählen im Stande ist und der alte kommissarisch im Amt bleiben muss, aber keine eigene Mehrheit mehr hinter sich hat. Warum nur für den Notfall? Wäre das nicht als Regel schlicht und einfach mehr Demokratie?

Dr. Marcus Hawel

ist Politikwissenschaftler, Publizist, Vorstandsmitglied der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen e.V. und Mitherausgeber der Online-Zeitschrift »Sozialistische Positionen« (sopos.org).

DIE LINKE hätte in Hannover insgesamt ca. 12-13% der Wählerstimmen erlangen müssen, um landesweit über die 5%-Hürde zu kommen.

CDU: 42,5% (-5,8%), SPD: 30,3% (-3,1%), FDP: 8,2% (+0,1%), Grüne: 8,0% (+0,4%), Sonstige: 4,1% (+1,6%), Wahlbeteiligung: 57% (-10%).

 Landesinfo Niedersachsen, Linkes Forum, Nr.1, Febr. 2008.

Vgl. Andreas D. Martin, Daniel Gardemin u.a.: Wahlanalyse für die Region Hannover zur Landtagswahl 2008, Berichtsreihe der Stadt Hannover, eigene Zusammenstellung, 2008.

Lothar Bisky, zit. n. ND vom 19.6.2003.

[vi] Claudia Gohde: Im Westen was Neues?, in: Heinz Beinert (Hg.): Die PDS – Phönix oder Asche?, Berlin 1995, S. 69-80; S. 73.<o:p></o:p>

Vgl. die von der Rosa Luxemburg Stiftung in Auftrag gegebene Studie von Meinhard Meuche-Mäker über »die PDS im Westen 1990-2005«, Berlin 2005.

 Interview mit Gregor Gysi, zit.n. Berliner Zeitung vom 21.8.2004.

Gregor Gysi: Nur wenn die SPD und die Grünen auch von Links unter Druck geraten, gibt es Reformen, in: Heinz Beinert (Hg.), a.a.O., S. 106-114; S. 108f.

Meuche-Mäker, a.a.O., S. 8.

Vgl. André Brie: Strategische Konsequenzen aus den PDS-Wahlkämpfen 2004, in: Utopie kreativ, H. 170, S. 1079-1087; S. 1083.

Vgl. Gregor Dotzauer: Links, linker, linkisch, in: Tagesspiegel vom 2.2.2008.

Siehe Panorama Sendung vom14.02.2008.