Publikation Arbeit / Gewerkschaften - Soziale Bewegungen / Organisierung - Ungleichheit / Soziale Kämpfe Erneuerung durch Streik – Die eigenen Stärke nutzen

Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Von Fanny Zeise/Rabea Hoffmann (Hrsg.).

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Reihe

Online-Publ., Materialien (Archiv)

Herausgeber*innen

Fanny Zeise, Rabea Hoffmann,

Erschienen

März 2014

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Nur online verfügbar

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Der Streik ist ein wichtiges Mittel gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht. Streiks sind gleichzeitig immer auch bedeutende Momente, in denen sich im Großen wie im Kleinen Emanzipationsbestrebungen ausdrücken: Sie lassen Solidarität entstehen, überwinden Spaltungen und stellen die Herrschaft im Betrieb infrage. Jede Zeit, jede konkrete gesellschaftliche Konstellation entwickelt ihre eigene Artikulation von Gegenwehr und ihre eigenen Streikformen. Ein genauer Blick auf Streiks in Deutschland zeigt interessante Trends und Entwicklungen, die neue Ansätze gewerkschaftlicher Strategien und Praktiken erkennen lassen. Gewerkschaften spielen eine zentrale Rolle bei jeder grundlegenderen Gesellschaftsveränderung und sind daher ein wichtiger Forschungsgegenstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Im Sinne linker kritischer Wissenschaft müssen dabei die Subjekte der Veränderung ernst genommen werden. Deswegen sollte Forschung auch nicht abseits von Bewegung und Aktion betrieben werden.

Die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ver.di organisierte Konferenz «Erneuerung durch Streik. Erfahrungen mit einer aktivierenden und demokratischen Streikkultur» versammelte Anfang März 2013 in Stuttgart mehr als 500 Interessierte, darunter viele, die zu Gewerkschaften forschen, aber vor allem Gewerkschaftsaktive. Ziel war es, Streikerfahrungen und Analysen zusammenzutragen, sie gemeinsam zu diskutieren und voneinander zu lernen. Einige der Beiträge werden in vorliegender Broschüre dokumentiert, um die Diskussion über den Rahmen der Konferenz hinaus fortzusetzen.

In den letzten Jahren hat die Anzahl der Streiks – bei gleichbleibender Anzahl der Streiktage – deutlich zugenommen. Laut Angaben des Wirtschafts- und  Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung (WSI 2013) gab es im Jahr 2012 um die 250 Streiks und Warnstreiks, vor allem wegen Haus- und Firmentarifverträgen, die damit auch eine Reaktion auf die zunehmende Zersplitterung der Tariflandschaft sind. Während von 1960 bis 1990 die meisten Arbeitsniederlegungen im Tarifbereich der IG Metall stattfanden, ist seit Mitte der 1990er Jahre eine Verlagerung in den Dienstleistungsbereich festzustellen (Dribbusch 2011). Die 188 Streikanträge im Bundesvorstand der größten deutschen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Jahr 2012 markieren den bisherigen Höhepunkt (WSI 2013).

Bemerkenswert in der jüngsten Vergangenheit waren Streiks von Beschäftigten, die bisher als schwer zu organisieren galten. Der erste Streik der Reinigungskräfte in der Nachkriegszeit (2009), die langen Konflikte um den Erhalt des Flächentarifvertrags im Einzelhandel (2008/09 und aktuell 2013) sowie der Streik im Erziehungsdienst (2009) stehen exemplarisch für eine hohe Beteiligung von Frauen. Gerade in Bereichen, die massiven Angriffen ausgesetzt und von prekärer Beschäftigung geprägt sind, entstehen neue konfliktorientierte Ansätze. Aber auch in sozialen Bereichen, in denen die Arbeitsmarktsituation für die Beschäftigten günstig ist, gibt es große Auseinandersetzungen. In offensiven und innovativen Streiks werden immer mehr Mitglieder gewonnen. Besonders deutlich wird das in Auseinandersetzungen, in denen gezielt auf eine demokratische Beteiligung der Beschäftigten gesetzt wurde. Catharina Schmalstieg hat die Elemente einer demokratischen Streikkultur am Beispiel von ver.di Stuttgart in einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung genauer untersucht. In seiner ebenfalls in einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung dokumentierten Rede auf der Streikkonferenz hat Bernd Riexinger, der Vorsitzende der Partei DIE LINKE, seine frühere Arbeit als ver.di-Geschäftsführer reflektiert. Darin hebt er insbesondere den Zusammenhang zwischen Demokratisierung von Streiks, höherer Streikbeteiligung und Streikfähigkeit hervor. Dieser Zusammenhang spielt in allen in der vorliegenden Broschüre aufgeführten Streikerfahrungen eine wichtige Rolle. Ebenso wichtige Elemente in allen Beiträgen sind das Ringen um die öffentliche Meinung und Solidarisierungsprozesse von Teilen der Bevölkerung, was die gesamtgesellschaftliche Dimension von Streiks unterstreicht.

In den Beiträgen zu den extrem ausdauernden Streiks im Call-Center S-Direkt Halle (2012) und beim Verpackungsmittelhersteller Neupack in Hamburg und Rotenburg/Wümme (2012/13) werden die Schwierigkeiten herausgearbeitet, bei anhaltender Repression des Arbeitgebers und bei einem hohen Anteil von prekär Beschäftigten einen  Arbeitskampf zu führen. Die Beiträge über den Erzieherinnenstreik (2009) und die Auseinandersetzung beim «Club Behinderter und ihrer Freunde» (CeBeeF) in Frankfurt am Main (2012), einem sozialen Träger in der Behindertenhilfe, gehen unter anderem der Frage nach, wie trotz der Verantwortung der Beschäftigten für die ihnen in Obhut gegebenen Menschen Streiks möglich sind. Die Erziehungswissenschaftlerin Lucie Billmann und Josef Held, Professor an der Universität Tübingen, stellen in ihrem Beitrag sogar die These auf, dass die hohe Identifikation mit dem Beruf, insbesondere im Bereich sozialer Dienstleistungen, ein Motiv für Arbeitskämpfe sein kann. Das Beispiel des Streiks im öffentlichen Nahverkehr in Baden-Württemberg (2011) zeigt wiederum, wie der strategische Umgang mit der Produktionsmacht der Beschäftigten in Verbindung mit einer guten Öffentlichkeitsarbeit dazu führen kann, dass ein Streik in der Bevölkerung auf Zustimmung stößt. Anstatt mit einem Vollstreik die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger einzuschränken, wurde der Fokus auf den wirtschaftlichen Schaden des Unternehmens gelegt und wurden gezielt die Werkstätten sowie die Verkaufsstellen und die Wartung von Fahrkartenautomaten bestreikt. Klaus Dörre, Professor an der Universität Jena, unterstrich in seinem Redebeitrag auf der Konferenz, der auch in der Broschüre  dokumentiert ist, die Notwendigkeit strategischer Debatten: «Auch und gerade in schwierigen Situationen, in Krisenperioden haben soziale Akteure wie Gewerkschaften grundsätzlich die Möglichkeit einer strategischen Wahl.» Angesicht der Aufkündigung der Sozialpartnerschaft durch Arbeitgeber und Politik plädiert er für den Aufbau von Organisationsmacht, die auf den Gewerkschaftsmitgliedern und ihrer Aktivität beruht.

Die Arbeiterbewegung hat immer neue Formen entwickelt, um angesichts veränderter Bedingungen wieder in die Offensive zu kommen. Die Diskussionen auf der Konferenz und die Beiträge in dieser Broschüre zeigen erste Ansätze, wie mit konkreten Problemen wie prekärer Beschäftigung, Repressionen der Arbeitgeber und der Destabilisierung von Tarifnormen umzugehen ist. Allen Ansätzen gemeinsam ist, dass sie der gewerkschaftlichen Defensive neue konfliktorientierte Strategien entgegenstellen und damit wichtige Eckpfeiler einer sozialpartnerschaftlichen und stellvertreterischen Gewerkschaftspraxis infrage stellen. Sie sind damit auch ein Beitrag zu einer umfassenderen Erneuerung der Gewerkschaften.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bietet mit ihren Aktivitäten eine Plattform für die Suchbewegung einer neuen Generation von Gewerkschaftsaktiven und kritischen Gewerkschaftsforscherinnen und -forschern. Dieser Prozess hat für uns gerade erst begonnen. Wir wollen langfristige Diskussions- und Austauschprozesse anstoßen und diese mit eigener Forschung, eigenen Publikationen und Veranstaltungen bereichern. Zu diesem Zweck vermitteln wir auch Kontakte zu Referentinnen und Referenten. Ein nächster wichtiger Schritt wird die Folgekonferenz «Erneuerung durch Streik» sein, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und ver.di Hannover gemeinsam ausgerichtet wird und vom 2. bis zum 4. Oktober 2014 in Hannover stattfinden soll.

Informationen zur Streikkonferenz 2013 und zur geplanten Folgekonferenz 2014 unter: www.rosalux.de/streikkonferenz