Bislang ist die Energiewende in Deutschland vor allem eine „Stromwende“. Die Entwicklungen im Bereich Wärme und Heizung sind deutlich weniger dynamisch. Im Bereich der Kraftstoffe herrschen noch weitgehend Chaos und Stillstand, und es werden bestenfalls kleine Fortschritte erzielt. Die Ziele, Energie einzusparen und den Energiebedarf langfristig zu senken, liegen noch weit vor uns. Trotz dieser Einschränkungen zeigt eine Analyse der Energiewende, dass vieles erreicht worden ist und dass in den kommenden Jahren neue Herausforderungen zu bewältigen sind.
1. Die Energiewende ist in vieler Hinsicht ein spektakulärer Erfolg: Tempo, Bürgerbeteiligung, technischer Fortschritt und Veränderung von Machtstrukturen.
Der Anteil grünen Stroms überschreitet in Deutschland gegenwärtig die 30-Prozent-Marke. Es gibt 25.000 Windräder und 1,4 Millionen Photovoltaik-Anlagen (PV) von denen rund die Hälfte von Bürgern und Landwirten betrieben werden. Knapp 400.000 Jobs sind in der „Erneuerbaren-Branche“ entstanden. Selbst der erwartete Preisrückgang von PV-Anlagen und anderen Technologien regenerativer Energieerzeugung ist im Großen und Ganzen verwirklicht worden.
Die gesetzliche Grundlage für die Veränderung der deutschen Elektrizitätswirtschaft ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). In Kraft seit April 2000 hat das EEG bewiesen, dass es möglich ist, einen ganzen Industriesektor mithilfe von wirksamen politischen Maßnahmen umzustrukturieren. Die entscheidenden Elemente des EEG sind:
- Einspeisetarife (Regulierung von Strompreisen anstelle von Strommengen),
- Einspeisevorrang für Erneuerbare (grüner Strom wird beim Netzzugang privilegiert),
- Langfristige Preisgarantien (statt kurzfristige Anreize),
- Anschub verschiedener erneuerbarer Energiequellen und Größenklassen mit einem ausdifferenzierten System von Einspeisetarifen (entgegen der Marktlogik einer ausschließlichen Expansion der billigsten Energiequellen).
Die Erfolgsformel des EEG war eine wirksame Verbindung von Planung und Marktanreizen. Investoren mussten sich weder um den Marktzugang (Netzzugang) noch um die Preisentwicklungen sorgen, weil beide garantiert waren. Was blieb, waren Betriebs- und Technologierisiken sowie – insbesondere für die Anlagenhersteller – der Zwang zur Innovation.
Die Energiewende hat demonstriert, dass die direkte und beständige Förderung erneuerbarer Energien (durch das EEG) wesentlich wirksamer ist als der ineffiziente und bislang gescheiterte Versuch, Emissionen nicht-erneuerbarer Energien preislich zu bewerten und zu handeln.
2. Die Energiewende ist ein Erfolg sozialer Bewegungen und ihres permanenten Drucks auf den Gesetzgeber.
Die deutsche Umweltbewegung und insbesondere die Anti-Atomkraft-Bewegung sind die Triebkräfte der deutschen Energiewende. Die Interessenvertreter schmutziger und gefährlicher Energien wurden in die Defensive gedrängt, während die Protagonisten der Energiewende sowohl im Parlament als auch in der Zivilgesellschaft kraftvolle Allianzen bildeten.
Diese Bündnisse brachten das EEG auf den Weg, welches allen, die in erneuerbare Energien investieren wollten, finanzielle Vorteile sicherte. Bildlich gesprochen ist die PV-Anlage zu einem „Sparbuch auf dem Dach“ geworden. In ähnlicher Weise versprechen Anteile an Windrändern etwas mehr als den banküblichen Zins.
3. Die Energiewende bietet die Möglichkeit, die „Energiefrage“ zu radikalisieren.
Weil die Stromerzeugung nicht länger ein Vorrecht großer Unternehmen ist, werden Fragen der legitimen Kontrolle von Energie auf die Tagesordnung gesetzt: Wer entscheidet über Energiequellen? Wer entscheidet über das Stromnetz? Wer entscheidet über Kosten und Erträge? Die Bürgerschaft verlangt zunehmend eine demokratische Antwort auf diese Fragen: Wir, das Volk, entscheiden!
In vielen Regionen und Städten vollzieht sich außerdem eine „Energiewende von unten“. Lokale Initiativen verwirklichen das Nachhaltigkeitsversprechen in eigener Regie, indem sie Energiegenossenschaften gründen, demokratische Stadtwerke initiieren und Konzepte regionaler Energieautonomie durchsetzen, die auf Erneuerbaren und auf Energieeinsparung beruhen.
Sobald eine Mehrheit erkannt hat, dass Erneuerbare tatsächlich (und nicht nur in der Theorie) zur Grundlage der Stromerzeugung werden, wird es leichter, demokratische Lösungen im öffentlichen Interesse für die gesamte Stromwirtschaft zu fordern. Dann erweisen sich die zentralisierten, großtechnologischen Ansätze der Konzerne als inadequat für die neue Realität dezentralisierter Energieerzeugung und zunehmend öffentlichen Eigentums von Energiequellen.
4. Die Energiewende stellt herkömmliche Positionen politischer und ökonomischer Macht in Frage und ist deshalb von Rückschlägen bedroht.
Der Konflikt zwischen Hunderttausenden kleinen PV-Anlagen und monopolisierenden Großonzernen erscheint wie ein Kampf zwischen David und Goliath. Dabei ist die Sonnenkraft auf Davids Seite. Denn während der Mittagszeit, wenn sowohl der Solarstrom als auch die Nachfrage ihr Tageshoch erreichen, rauben die massenhaft Strom liefernden PV-Anlagen der traditionellen Elektrizitätswirtschaft die profitabelsten Stunden.
Doch wie erwartet, schlägt Goliath zurück: „Verzögern, um zu übernehmen“ – so lautet die vor der Öffebtlichkeit geheim gehaltene Gegenstrategie der Großunternehmen. Ein verlangsamter Zuwachs an PV-Anlagen und Onshore-Windrädern verspricht ihnen längere Laufzeiten herkömmlicher Kraftwerke, mehr Spielraum für Offshore-Windenergie in Unternehmenshänden und mehr Zeit, um die gravierenden Offshore-Probleme zu lösen.
Die Debatte um die Kosten des grünen Stroms diente zudem als Trojanisches Pferd für die Konzern-Agenda. Während die Gegner einer sofortigen und demokratischen Energiewende die verborgenen Kosten fossiler und nuklearer Energie (und ihre vielfältigen Subventionen) erfolgreich aus der energiepolitischen Diskussion heraushielten, gelang es ihnen, den Preis erneuerbarer Stromerzeugung zu brandmarken und zu diesem Zweck die ungleiche Verteilung von Transitionskosten ins Feld zu führen. Plötzlich legten Konzernbosse ein ungewöhnliches Mitgefühl für die von Strompreisen geplagten ärmeren Bevölkerungsschichten an den Tag.
Die Regierung antwortete auf diese Kampagne mit Expansionsgrenzen für alle Erneuerbaren. Schrittweise werden Einspeisetarife abgeschafft und ab 2017 sollen Ausschreibungen das bisherige System ersetzen.
5. Um die Energiewende erneut zu entfalten, müssen die Umweltbewegungen sozialer und die Linken sowie die Gewerkschaften ökologischer werden.
Um angesichts der aktuellen Rückschläge wieder in die Offensive zu treten, muss die gesellschaftliche Basis der Energiewende künftig breiter werden. Ökologischen Fortschritt gibt es vor allem dann, wenn er keine Ängste erzeugt. Wer die Energiewende vorantreiben will, sollte daher das Gewicht der sozialen Frage berücksichtigen. Fragen nach der Verteilung von Kosten und Nutzen – und nicht zuletzt auch der Qualität „grüner“ Jobs – sind von zentraler Bedeutung und sollten zu den Top-Prioritäten gehören.
Darüber hinaus bedarf es eines stärkeren Bewusstseins über neue, „grüne“ Verteilungskämpfe. Bisher profitieren vor allem private Hauseigentümer mit überdurchschnittlichen Einkommen von quasi privater Energieautonomie. Deren selbst erzeugter und genutzter Solarstrom ist gegenwärtig frei von Steuern, Abgaben und Umlagen und deshalb rund 50 Prozent günstiger als Netzstrom. In diesem Sinne widerspricht das Prinzip der Energieautonomie dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Obwohl dieser Widerspruch mit einer passenden Preisregulierung und mit Sozialtarifen gelöst werden könnte, sind dementsprechende Änderungen an den nationalen Energiegesetzen gegenwärtig nicht absehbar. Umso wichtiger sind deshalb Projekte für eine Energiewende von unten.
Gebraucht werden vor allem mehr Aktivistinnen und Aktivisten, die die Stärken des „magischen Pentagons“ beherrschen: missionarischer Ehrgeiz, kommunikative Kraft, lokale Akzeptanz, organisatorisches Talent und technische Expertise. Auf der Grundlage einer stärkeren und breiteren Bewegung kann die Energiewende als Einstieg in eine umfassendere sozial-ökologischen Transformation dienen. Möglich ist dann ein mehrdimensionaler „Return on Initiative“:
- Minderung von CO2-Emissionen,
- Wertschöpfung vor Ort und neue Arbeitsplätze in Gewerbe und Landwirtschaft,
- Substitution von fossilen, importierten Energieträgern durch eigene, saubere Energieerzeugung,
- günstigere Energiepreise für private Haushalte und Unternehmen durch Nahwärmenetze sowie den drastisch steigenden Anteil von Kraft-Wärme-Koppelung,
- Stärkung der kommunalen Demokratie und Steuerbasis, und des bürgerschaftlichen Engagements,
- unmittelbare Verzahnung von Bürger- und Kommunalinteressen,
- stabile regionale Kreisläufe durch bedarfsgerechte Abstimmung von Ressourcenbezug, Produktion und Verbrauch,
- gewinnbringende Verwertung von Rest- und Abfallstoffen statt kostenträchtige Entsorgung,
- vermehrtes eigenständiges Handeln von Kommunen, Stadtwerken, Bürgerschaft und Unternehmen und dadurch eine geringere Abhängigkeit von externen Interessen,
- Erweiterung des interkommunalen und interregionalen Austauschs,
- Stärkung des Umweltbewusstseins und der öffentlichen Aufklärung über Energiequellen und -verbrauch,
- praktische Umsetzung nachhaltiger Entwicklungsmodelle, die den Energiebedarf insgesamt reduzieren.
Als Quintessenz dessen, was heute schon in Ansätzen praktiziert wird, erscheint am Horizont eine neue Form von Kommune. Diese wird durch Bürgerentscheide und Bürgerkontrollen demokratisiert, ist unter dem Gebot vollständiger Transparenz jederzeit in ihrem gesamten Handeln durchschaubar und kontrollierbar und weit mehr als heute wirtschaftlich handlungsbefugt und handlungsfähig.
6. Trotz differenzierter nationaler Energiesysteme lassen sich aus der deutschen Erfahrung allgemeine Lehren ziehen.
Als wirksam haben sich erwiesen:
- gesetzliche Garantien, die hinreichend starke Anreize für neue und unabhängig agierende Energieanbieter setzen,
- Einspeisetarife, die Innovation, Diversifikation und Dezentralisierung befördern,
- Zurückweisung von Quotensystemen und Expansionsdeckeln für Erneuerbare,
- Einspeisevorrang für Erneuerbare mit einerseits ökologischer und andererseits gesamtwirtschaftlicher Begründung,
- Energiewende als nicht nur technologischer, sondern auch als gesellschaftlicher Strukturwandel durch die faire Verteilung von Kosten und Nutzen unter besonderer Berücksichtigung niedriger Einkommen,
- Bündnisse, die durch ihre Praxis zeigen, was Energiedemokratie bedeutet: erneuerbare Energie unter regionaler Kontrolle, breit gestreutes Eigentum mit einem hohen Anteil direkter öffentlicher Verantwortung, mehr lokale Jobs durch „Importsubstitution“, Selbstbestimmung von Energiebezug, und -verbrauch mit deutlich reduzierter und perspektivisch vollständig überwundener Abhängigkeit von schmutzigen Fossil-Kartellen,
- Direkter Kampf von sozialen Bewgungen und Vorreitern von Erneuerbaren gegen Konzerninteressen vor allem auch durch beständigen Druck auf den Gesetzgeber,
- ein hohes Tempo in der Durchsetztung der Energiewende, wobei viele dezentrale Projekte erneuerbarer Energieerzeugung innerhalb kurzer Zeit für echte Strukturveränderungen sorgen,
- Begünstigung einer kraftvollen Energiewende von unten, die den Marktanteil traditioneller Unternehmen deutlich mindert,
- klares Bewusstsein darüber, dass weder Niederlagen noch Siege ewig sind.
Wenn wir diese Lehren berücksichtigen und uns den vielen kontextspezifischen Widerständen gegen erneuerbare Energien entgegenstellen, ist ein fundamentaler Wandel der Erzeugung und der Bereitstellung von Energie möglich – nicht in zehn oder zwanzig Jahren, sondern jetzt!
Herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung New York.