Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa Im Zweifel Populismus

Gespräch über Podemos und die Gefahren populistischer Politik

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Reihe

Online-Publ.

Autor*innen

Pablo Iglesias, Alberto Garzón, Íñigo Errejón,

Erschienen

August 2015

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Beide Gesprächspartner gehen für Spanien von einer »populistischen Situation« aus, interpretieren den Impuls der 15M-Bewegung jedoch unterschiedlich. Íñigo Errejón hält populistische Elemente wie den Begriff der »echten Demokratie« oder auch den der »Kaste«, wie er in den spanischen Auseinandersetzungen verwandt wird, um den Gegner zu markieren, für politisch wichtig. Solche »leere Signifikanten« (Laclau/Mouffe) seien zentral, um einen neuen »Volkswillen« (Gramsci), einen gemeinsamen Bezugspunkt der Subalternen zu konstituieren. Garzón verweist dagegen auf die Gefahren, die solche populistisch konstitutierte Gemeinsamkeiten mit sich bringen: Diese seien notwendig sehr allgemein und unscharf in der Analyse der zu bearbeitenden Probleme. Auch bewegen sie sich jenseits von Differenzen innerhalb der Subalternen. Nach der populistischen Situation müssen jedoch auch die nächsten Schritte gegangen, Perspektiven tatsächlich verbunden werden. Dies sei eine große Herausforderung.

Íñigo Errejón: Beim Populismus geht es um eine Artikulation, eine Verschränkung. Es geht um die Fähigkeit, eine neue Gesamtheit zu produzieren. Eine Gesamtheit, die mehr ist als die Summe aller Akteure. Es geht nicht darum, Bündnisse zu schmieden, sondern um einen neuen gedanklichen Horizont. Es geht darum, einen neuen »Volkswillen« zu etablieren, der erfolgreich für sich beanspruchen kann, das kollektive Interesse zu repräsentieren. Hegemonie ist die Fähigkeit eines Teils der Gesellschaft, ein universales Interesse zu konstruieren und zu verkörpern: eine universale und transzendente Idee. Wenn dieser Prozess von Akteuren und gesellschaftlichen Gruppen betrieben wird, die bisher eine untergeordnete, eine subalterne Rolle gespielt haben, bedeutet das für die Privilegierten immer Tumult, Chaos, Wirrwarr und Angst. Eine Expansion der Demokratie erschreckt sie.

Alberto Garzón: In einer Situation des gesellschaftlichen Zerfalls gibt es keinen festen Ankerpunkt, von dem aus eine soziale Klasse mit objektiven Interessen bestimmt werden könnte. In solchen Perioden der Transformation kann eine populistische Strategie unterschiedliche Forderungen bündeln und kanalisieren, das stimmt. Im Anschluss ergeben sich dann aber die wirklich entscheidenden Fragen: die der Strategie und des »Wohin gehen wir eigentlich?«.

IE: Ja, Interessen ergeben sich nicht einfach so aus der Wirtschaft, der Geografie oder der Gesellschaft. Es geht daher nicht um die Vertretung von Interessen, sondern um deren Konstruktion. Das, was über die Dinge gesagt wird, produziert Sinn. Politik ist grundsätzlich ein Kampf um den Sinn. Und dieser Kampf wird mit bestimmten Elementen geführt. Sie funktionieren wie ›Zutaten‹, legen aber das endgültige Rezept nicht fest – das bleibt kontingent. Wie das Rezept am Ende konkret aussieht, hängt davon ab, wie sich die verschiedenen Elemente verbinden. Das lässt Raum für sehr unterschiedliche politische Konstruktionen. Aus welchen Elementen kann also eine solche Artikulation bestehen? Welche Signifikanten können in bestimmten Momenten Träger von Legitimation werden, ohne dass ihre konkrete Bedeutung determiniert ist? Denn Letztere ist immer Gegenstand von Kämpfen. Demokratie ist wahrscheinlich der Signifikant, der sich am meisten entleert hat, in dem Sinne, dass er die unterschiedlichsten Interpretationen zulässt. Trotzdem bleibt er ein universaler Träger von Legitimation. Es gibt noch viele weitere Begriffe wie Bürgerschaft (citizenship), die Idee der Nation, nationales Interesse – all diese weit offenen Termini.
Wenn die Signifikanten zu offen sind und jegliche Bedeutung annehmen können, ist der interne Antagonismus zu stark. Sind sie zu geschlossen, haben sie zwar die Fähigkeit, identitätsstiftend für eine Minderheit zu sein, besitzen jedoch wenig Verführungskraft für andere. Letztlich geht es darum, welche Begriffe wem Legitimation verleihen.

AG: Die Demokratie ist ein sehr deutliches Beispiel. Beim Zusammenbruch der Länder des sogenannten Realsozialismus etwa benutzte die Opposition die gleichen Signifikanten wie die Regierung – Demokratie und Freiheit. Diese Elemente sind umkämpft. Man kann sie als Räume begreifen, in die viele verschiedene Interpretationen passen. Freiheit kann für einen Liberalen negative Freiheit bedeuten – ›Freiheit von etwas‹ –, für einen Republikaner kann es um positive Freiheit gehen – ›Freiheit zu etwas‹. Dieser leere oder auch schwebende Signifikant lässt Raum für die Artikulation einer Reihe von Möglichkeiten und daher auch für Verwirrung. Wenn man nun auf einen solchen leeren Signifikanten eine politische Strategie aufbaut und damit erfolgreich ist, bringt das eine gewaltige Hypothek hinsichtlich der nächsten Schritte mit sich. Darin liegt ein Risiko.

IE: Naja, die bestehenden Institutionen sind unfähig, den Menschen, die sich nicht repräsentiert fühlen, ein glaubhaftes Versprechen auf die Zukunft zu geben. Zugleich gibt es kein anderes Angebot, das einen Teil der Unzufriedenheit integrieren würde. Unzufriedenheit äußert sich aber nicht ordentlich abgesteckt, sie tritt über die Ufer, die eigentlich dazu da sind, sie zu kanalisieren – seien es Institutionen oder bestehende Protestorganisationen. Das ist die populistische Situation. Sie ermöglicht es, den vielfältigen, widerstrebenden Unzufriedenheiten eine Form zu geben. Wenn alle Begriffe die Möglichkeit in sich tragen, neue Bedeutung anzunehmen, wenn sie also nicht solide verortet sind, sondern immer Gegenstand von Auseinandersetzung, welche politischen Hypotheken handelt man sich dann ein? Ich denke: alle. Aber das ist immer so. Was ich sagen will: Vielleicht ist das Beunruhigende an diesem Gespenst des Populismus die Tatsache, dass die politischen Auseinandersetzungen, in denen um die Bedeutungen der Gesellschaft gerungen wird, immer offen sind. Das wirft uns in einen unbestimmten Prozess. Jedes Regime konstituiert sich, indem es ein neues ›Volk‹ anruft. Aber sobald es sich einmal konstituiert hat, sagt das Regime den Leuten: Geht nach Hause, lasst die Institutionen arbeiten. Das funktioniert dann eine Weile, aber sobald die Institutionen und die verfügbaren Erzählungen nicht mehr greifen, kann – sofern es die Möglichkeit dazu gibt – eine neue Kollektivität hervortreten. An diesem Punkt stehen wir.

AG: Die deterministische Orthodoxie des Ökonomismus hat abgedankt, das ist klar. Dennoch muss man sich über die ökonomische Struktur im Klaren sein, um nicht im politischen Voluntarismus zu enden, mit dem wir uns die Welt so konstruieren, wie wir sie gern hätten. Erleben wir in Spanien derzeit eine populistische Situation? Ich denke, ja. Wir befinden uns in einem Moment der Konstruktion einer neoliberalen, postfordistischen Gesellschaft der Prekarität. Dies betrifft vor allem die Jüngeren. Für die Älteren, die politisch unter dem Regime von 1978 sozialisiert wurden und noch über einige brüchige Absicherungen verfügen, ist es eine quasi spätfordistische Situation. Es gibt also eine Art Generationenbruch. Wir erleben einen Kollaps der zunehmend entleerten Institutionen, die den Jüngeren nichts mehr sagen und auch ihrer ökonomischen Realität nicht mehr entsprechen. Dies ist ein wichtiger Aspekt der populistischen Situation. Wieso lädt man sich nun in einer solchen Situation Hypotheken auf? Ein Beispiel: Ein sehr effektiver schwebender Signifikant ist die »Kaste«1 oder, um es noch schärfer auszudrücken, die Oligarchie. Die Kaste ist insofern ein schwebender Signifikant als wenn ich einen Arzt, einen Bäcker oder sonst jemanden auf der Straße treffe, sie alle ihre politischen Forderungen auf dieses Wort, auf diesen Signifikanten projizieren können. Eine Hypothek für die Zukunft ist es deshalb, weil völlig unklar bleibt, wer diese Kaste eigentlich ist? Wer definiert sie? Und wo wird das geklärt? Im politischen Diskurs wird die Kaste oft auf die politische Klasse reduziert. Diese gilt dann als strukturell korrupt. Aber hinter jedem korrupten Politiker steht jemand, der ihn besticht. Also müssten wir auch von der Finanzoligarchie sprechen. Aber es geht nicht nur um Korruption, sondern auch um strukturelle Machtverhältnisse, den Einfluss der Ökonomie etc. Die mit dem Begriff der Kaste hergestellte Gemeinsamkeit bleibt also extrem vage. Das ist ein Problelm. Letztlich ist der Populismus eine Reaktion ex negativo, kein Projekt im Positiven, so wie es der Sozialismus sein könnte. Nichts, auf das man sich zu bewegt. Der Populismus kann als Kanalisation einer vielfältigen Unzufriedenheit dienen, die sich gegen einen gemeinsamen Gegner richtet. Und dann? Erstmal scheint sich die Laclauʼsche Hypothese, dass die politisch Ausgeschlossen wieder eingeschlossen werden, in Spanien nicht zu bestätigen. Podemos erhält viel Zuspruch, aber große Teile der popularen Klassen bleiben den Wahlen fern. Darüber hinaus bleibt offen, was nach einem möglichen Wahlsieg geschehen wird.2 Man muss nämlich nicht nur die Wahlen gewinnen, sondern auch den zweiten Schritt gehen können: Was ist nach der Wahl zu tun und vor allem, auf welche soziale Basis stützt man sich? Denn es gibt noch eine weitere schwebender Signifikant als wenn ich einen Arzt, einen Bäcker oder sonst jemanden auf der Straße treffe, sie alle ihre politischen Forderungen auf dieses Wort, auf diesen Signifikanten projizieren können. Eine Hypothek für die Zukunft ist es deshalb, weil völlig unklar bleibt, wer diese Kaste eigentlich ist? Wer definiert sie? Und wo wird das geklärt? Im politischen Diskurs wird die Kaste oft auf die politische Klasse reduziert. Diese gilt dann als strukturell korrupt. Aber hinter jedem korrupten Politiker steht jemand, der ihn besticht. Also müssten wir auch von der Finanzoligarchie sprechen. Aber es geht nicht nur um Korruption, sondern auch um strukturelle Machtverhältnisse, den Einfluss der Ökonomie etc. Die mit dem Begriff der Kaste hergestellte Gemeinsamkeit bleibt also extrem vage. Das ist ein Problem.
Letztlich ist der Populismus eine Reaktion ex negativo, kein Projekt im Positiven, so wie es der Sozialismus sein könnte. Nichts, auf das man sich zu bewegt. Der Populismus kann als Kanalisation einer vielfältigen Unzufriedenheit dienen, die sich gegen einen gemeinsamen Gegner richtet. Und dann? Erstmal scheint sich die Laclauʼsche Hypothese, dass die politisch Ausgeschlossen wieder eingeschlossen werden, in Spanien nicht zu bestätigen. Podemos erhält viel Zuspruch, aber große Teile der popularen Klassen bleiben den Wahlen fern. Darüber hinaus bleibt offen, was nach einem möglichen Wahlsieg geschehen wird.2 Man muss nämlich nicht nur die Wahlen gewinnen, sondern auch den zweiten Schritt gehen können: Was ist nach der Wahl zu tun und vor allem, auf welche soziale Basis stützt man sich? Denn es gibt noch eine weitere Hypothek: die des starken Führers, auf den sich alles konzentriert, der die aktuellen und die weiteren Entscheidungen dominieren wird.

IE: Das ist die grundsätzliche Frage, die auch Laclau formuliert hat: Wie kommt man von der Unzufriedenheit, von dem unterschiedlichen Leid, zu einem gemeinsamen Willen, der außerdem einen Horizont der Universalität für sich reklamieren kann? Jedes Regime konstituiert sich dadurch, dass es bestimmte Leiden unsichtbar macht. Nur durch eine neue Dichotomisierung, eine neue Grenzziehung zwischen zwei Gruppen, die in jeder transformatorischen Politik enthalten ist, wird es möglich, ein Leiden zu artikulieren, das vorher politisch nicht ausgedrückt werden konnte. Wie sich die vielen Forderungen und Bedürfnisse artikulieren, bleibt zunächst unbestimmt. Es geht um einen fortwährenden Prozess der Konstruktion. Und das ist es, was den Liberalismus ebenso wie den Marxismus nervös macht. Den Liberalismus, weil er die Geschichte abschließen wollte. Jede Geltendmachung des Universalen sei totalitär. Punkt. Was es gibt, sind Individuen, die auf dem Wahlmarkt ihre rationalen Entscheidungen treffen. Ein relevanter Teil des Marxismus wiederum sagt: Nein, wenn das Universale immer der Politik unterworfen sein soll, immer diskutierbar wäre, das gäbe ein heilloses Durcheinander. Und ohne das mit irgendeiner konkreten politischen Erfahrung untermauern zu können, behaupten viele MarxistInnen, dass die bestehenden Pfade politischen Handelns die besseren sind. Hier wissen wir angeblich, was am Ende des Weges auf uns wartet.
Doch sogar der Sozialismus hat vor allem als Mythos funktioniert. Haben die Massen sich der sozialistischen Idee angeschlossen wegen eines fertigen Programms der Transformation? Nein. Das Wesentliche war der Mythos, dass sich die Besitzlosen selbst regieren könnten. Und die Kultur, die diesen Mythos symbolisierte: die Lieder, die Symbole, die Fahnen, das Versprechen einer anderen Zukunft. All das hat ein fundamental dichotomes Versprechen konstruiert. Der Unterschied ist, dass die Geschichte an diesem Punkt hätte enden sollen. Eine bestimmte Klasse, eine universale Klasse, sollte dazu prädestiniert sein, sich zu befreien und die Geschichte zu beenden. Ein solches Ende gibt es aber nicht. Der Konflikt bleibt Teil des Politischen. Er lässt sich nicht lösen, sondern immer nur anders artikulieren. Eine Art Pendelbewegung: Erst gibt es einen Umbruch, das »Volk«, die Subalternen tauchen auf und mit ihnen ein neuer Wille, und dann kommt das Moment der Institutionalisierung und der vertikalen Kanalisierung, denn keine Gesellschaft lebt immer im Umbruch.

AG: Wenn sich bisherige Gewissheiten und Sicherheiten auflösen, taucht immer ein Fenster neuer Möglichkeiten auf. Die Gesellschaft versucht, sich davor zu schützen, so zeigt es Karl Polanyi in Die große Transformation. Wir erleben gesellschaftliche Sprünge, wenn, wie Marx sagt, alles »Ständische und Stehende verdampft«. So einen Moment erleben wir gerade. Das ist unsere »organische Krise«, wie Gramsci es nennen würde. Bisher gab es eine sogenannte Mittelschicht, oder sagen wir, Menschen haben sich als solche empfunden. Diese Sicherheiten sind verloren. Die Suche hat begonnen. Neue Bedeutungen werden gefunden. Weshalb? Weil die Kaste korrupt ist? Oder weil die sozialen Errungenschaften für den Kapitalismus auf seinem Weg nach vorn überflüssig geworden sind: öffentliche Gesundheit, öffentliche Bildung, alles überflüssig? Die Unzufriedenheit muss gerichtet werden. Aber auf wen? Man muss auch darauf antworten, wie produziert wird, wie verteilt und wie konsumiert wird. Es geht nicht nur um die Konstruktion eines dichotomen politischen Feldes und eines Gegners – der »Kaste«. Es geht auch um eine Alternative oder um Alternativen, die es mit den herrschenden Strukturen hinter der politischen Klasse aufnehmen können.

Das Gespräch fand am 19. November 2014 in der spanischen Fernsehsendung Fort Apache von Pablo Iglesias, dem Generalsekretär von Podemos, statt. Die deutsche Übersetzung wurde zuerst in der LuXemburg  veröffentlicht.

Aus dem Spanischen von Anna Matthias


Anmerkungen

1 Die »Kaste« wurde von Podemos als ein zentraler Begriff ihrer politischen Strategie geprägt. Er dient zur Bestimmung des Gegners und erfüllt als populistisches Element die Funktion, dass sich viele mit ihren Anliegen darauf beziehen können. (Anm. d. Übers.)

2 Das Gespräch wurde vor den Kommunalwahlen im Mai 2015 in Spanien geführt. Zur Situation nach den Wahlen vgl. Candeias, Mario 2015: Demokratische Rebellion und ders: Zwischen Marke und verbindender Partei.