Publikation Staat / Demokratie - Stadt / Kommune / Region Die gekaufte Stadt?

Der Fall Marburg: Auf dem Weg zur «Pohl-City»?

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Februar 2016

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Der reichste Bürger der Stadt Marburg, Ehrenbürger und Ehrenprofessor, Dr. jur. und Dr. hc. mult. Reinfried Pohl, Gründer und Chef der Deutsche Vermögensberatung AG (DVAG), hatte – nach Absprache mit dem Oberbürgermeister (OB) – der Stadt vier Millionen Euro gespendet, um einen Schrägaufzug zum Marburger Schloss zu finanzieren, in dessen Nachbarschaft sich ein von Pohl übernommenes – historisch renommiertes – Restaurant (»Bückingsgarten«) befindet. Es kam wegen der Spende und vor allem des Nichteinbezugs des grünen Koalitionspartners durch den SPD-OB zu einem kurzzeitigen Konflikt innerhalb der »rot-grünen Koalition«, die Marburg regiert. Die Zweckbindung der Spende wurde schließlich aufgehoben. Der Spender war jedoch angesichts des öffentlichen Disputes gekränkt. Schließlich beschloss die »Stadtverordnetenversammlung der Universitätsstadt Marburg« (gegen die Stimmen der LINKEN): Sie »nimmt die Spende an und dankt dem Marburger Ehrenbürger Herrn Dr. Reinfried Pohl ausdrücklich für den mit der Spende zum Ausdruck gebrachten Bürgersinn und das soziale Engagement, ohne das vieles in unserer Stadt und an der Philipps-Universität nicht möglich wäre«. Die Spende wurde für verschiedene Zwecke verwandt, ein Aufzug gehörte nicht dazu.

Im politischen Raum wird seit geraumer Zeit – unter dem Stichwort der »Post-Demokratie« (Colin Crouch) – über den Zusammenhang zwischen den sozialen Spaltungen und der Krise der Demokratie diskutiert. Im Verfall des Ansehens der »politischen Klasse« und z.B. der sinkenden Wahlbeteiligung drückt sich einerseits die Abwendung von breiten Teilen der Unterschichten (und des »Prekariats«) von demokratischer Partizipation aus. Auf der anderen Seite nimmt der direkte Einfluss von Wirtschaftseliten und von milliardenschweren Oligarchen auf die politischen Entscheidungsträger und -verfahren zu. Schließlich fürchten viele ExpertInnen, dass nach der großen Krise von 2008 die Weltwirtschaft und das globale Finanzsystem – angesichts der riesigen Schuldenberge und neuer spekulativer Blasen – keineswegs vor neuen Einbrüchen geschützt ist. Die riesigen Vermögen der AkteurInnen auf den Finanzmärkten können bei konjunkturellen Einbrüchen, privaten und staatlichen Insolvenzen, erzwungenen Schuldenschnitten, aber auch als Folge politischer Veränderungen und Krisen schnell entwertet werden. Gleichzeitig müssen die KundInnen der Versicherungswirtschaft fürchten, dass ihre Anlagen in Lebensversicherungen und andere Vermögenswerte durch solche Krisen abgewertet oder gar »verbrannt« werden. Auch hier hat die Unsicherheit seit der großen Krise zugenommen.

Der »Fall Marburg« scheint auf den ersten Blick von solchen globalen Problemen und Widersprüchen weit entfernt. Er ist aber unvermeidlich in diese Entwicklungen eingebunden – schon deshalb, weil das DVAG Imperium auf das Engste mit den Erfolgen und den Risiken der Finanzmärkte – vor allem der Versicherungswirtschaft – verbunden ist. Dennoch überwiegt bis heute der Eindruck der glücklichen Fügung für die kleine Stadt, die von ihrem Ehrenbürger, seiner Frau, seiner Familie und der Firma DVAG beschenkt wurde und wird.

Dieses Buch schaut zum einen hinter die Kulissen der DVAG und seines Firmengründers Pohl, beleuchtet korporative Unternehmenskultur, Spendendenpraktiken und Gewerbesteuerzahlungen der DVAG. Zum anderen wird im Allgemeinen der Frage nachgegangen, ob es gemeinsame Muster des Konsums, der Macht- und Kapitalakkumulation durch Philanthropie, der Ideologie und des Einflusses auf Politik und Kultur gibt und ob auch ein gemeinsames Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung vorliegt. Zum Thema Rentenversicherung und Privatisierung der Altersvorsorge wurde zudem ein eigenen Beitrag aus der Sicht der IG Metall beigesteuert. Die hohen Spendenbeiträge, die von der DVAG an die Politik fließen, stehen mit solchen politisch-staatlichen Entscheidungen in einem engen Zusammenhang.

Die gesamte Publikation im PDF.

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Das gedruckte Buch ist bei  VSA: Verlag erhältlich.

Sebastian Chwala, Frank Deppe, Rainer Rilling, Jan Schalauske (Hrsg.)
Die gekaufte Stadt?
Der Fall Marburg: Auf dem Weg zur »Pohl-City«?
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
272 Seiten | 2016 | EUR 16.80
ISBN 978-3-89965-683-1

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