Russlands Abschied vom Kommunismus liegt nun bald mehr als ein Vierteljahrhundert zurück. Seit 15 Jahren ist dort derselbe Mann an der Macht. Zum Ende der laufenden Amtsperiode wird er genauso lang Staatschef gewesen sein wie vormals Leonid Breschnew in der Sowjetunion. Von Anfang an gingen im Westen die Meinungen über Wladimir Putin völlig auseinander. Ganz offensichtlich hatte sich das Land nach Putins erster Präsidentschaft von einer langen Phase des wirtschaftlichen Niedergangs und Elends, in der es beinahe zu einem Staatsbankrott gekommen wäre, einigermaßen erholt. Und ganz offensichtlich war Putin mit Russlands Rückkehr zu ökonomischem Wachstum und politischer Stabilität in der Bevölkerung immer beliebter geworden. Davon abgesehen gab es jedoch keinerlei Konsens.
Für das eine Lager, dessen Stimmen im Laufe der Zeit deutlich lauter geworden sind, basiert Putins Herrschaftssystem im Wesentlichen auf Korruption und Repression. Für sie handelt es sich bei Russland um einen neoautoritären Staat, der dem Westen grundsätzlich feindselig gegenübersteht, um eine Art Kleptokratie, die nur mühsam den Anschein von Rechtsstaatlichkeit aufrechterhält. Diese Sichtweise ist vor allem unter Journalisten weit verbreitet, aber keinesfalls auf sie beschränkt. (...)
Das andere Lager hat vor allem in der akademischen Welt mehr Gewicht. So kamen zwei der führenden wissenschaftlichen Autoritäten zum Thema postkommunistisches Russland zu einem positiven Gesamturteil über Putins bisherige Amtszeit, ohne jedoch deren Schattenseiten zu ignorieren. In seiner Studie «The Return» (2011), die sich mit den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Fall der Sowjetunion befasst, knüpft Daniel Treisman an seine bereits zuvor formulierte These an, Russland habe sich zu einem normalen Land mit mittlerem Durchschnittseinkommen entwickelt, verbunden mit den hierfür typischen Problemen: Kapitalistische Vetternwirtschaft, Korruption, große Einkommensungleichheiten, tendenziöse Medien und Wahlmanipulation. Allerdings sei die russische Gesellschaft wesentlich freier als etwa die Gesellschaften der Golfstaaten, mit denen sie oft verglichen werde, weniger gewalttätig als die Gesellschaft Mexikos, einem respektierten Mitglied der OECD, und weniger etatistisch ausgerichtet als etwa die brasilianische Gesellschaft, in der allein der Staat den Energiesektor kontrolliert. Die meisten Russen seien der Ansicht, dass sie seit 1997 mehr Freiheiten hätten, und würden zudem behaupten, zufriedener zu sein. Treisman (2011: 389) stellt daher infrage, ob «es wirklich den langfristigen Interessen des Westens» diene, Russland «eine imperiale Agenda zu unterstellen (ohne diese beweisen zu können), die autoritären Züge des gegenwärtigen Regimes zu überzeichnen, den Kreml zu dämonisieren und seine liberalen Gegenspieler zu romantisieren». (...)
«Das Wesen des Putin’schen Systems besteht darin, für ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Säulen zu sorgen», schreibt Richard Sakwa in «The Crisis of Russian Democracy» (2011a). Dieses Austarieren sei die Voraussetzung gewesen für die Herausbildung und schließlich vollständige Entfaltung dessen, was er als «das Standardpaket des Westens» bezeichnet, bestehend aus Verfassungsstaatlichkeit, liberaler Demokratie und freien Märkten. Damit wurde «das gewaltige Potenzial mobilisiert, das in den formalen Institutionen des postkommunistischen demokratischen Russlands» schlummerte. Sakwa (2011a: 250) vertritt die Hoffnung, «die mimetischen Institutionen des Standardpakets» würden «schrittweise ein relativ autonomes Eigenleben entwickeln», und der Rechtsstaat werde es schaffen, «die Willkür des Verwaltungsapparats [zu] überwinden».
Mehr im PDF.