Der 2011 in Nordrhein-Westfalen (NRW) zwischen CDU, SPD und Grünen geschlossene Schulkonsens sollte die Luft aus dem Streit um die verschiedenen Schulformen nehmen. Er schreibt das Nebeneinander von gegliederten Schulen und Formen des gemeinsamen Lernens fest. Sekundarschulen konnten eingerichtet werden und die Bedingungen für Gesamtschulgründungen wurden etwas erleichtert. Die Landesregierung machte keine schulpolitischen Strukturvorgaben: Die Gemeinden müssen selbst entscheiden, ob sie stärker auf Gesamtschulen, Sekundarschulen
oder auf Gymnasien und Realschulen setzen.
Mit dem Schulkonsens wollten die beteiligten Parteien der Tatsache Rechnung tragen, dass die Gemeinden nicht mehr in der Lage sind, flächendeckend Hauptschulen anzubieten, die die Landesverfassung bis dahin zwar vorschrieb, von Eltern und SchülerInnen aber nicht mehr nachgefragt wurden. Damit wurde die Schullandschaft in Nordrhein-Westfalen und in der ganzen Republik noch unübersichtlicher: Neben den
klassischen drei weiterführenden Schulformen gibt es Gesamtschulen, berufliche Gymnasien, Berufskollegs, Gemeinschaftsschulen, Verbundschulen und Sekundarschulen, dazu noch nach wie vor die Förderschulen.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die vorliegende Studie in Auftrag gegeben, um für das Land Nordrhein-Westfalen sowie exemplarisch an einer Stadt und einem Landkreis zu untersuchen, wie sich durch den Schulkonsens und die «Politik der Ermöglichung» die Schullandschaft seitdem verändert hat.
So unabweisbar es ist, dass sich Schulen und schulpolitische Strukturen unter dem Druck der demografischen Entwicklung und der wachsenden Qualifikationsanforderungen verändern – für uns steht der Anspruch im Vordergrund, allen Menschen die größtmöglichen Lebensperspektiven zu eröffnen, die sie sich in der und durch die Teilnahme an gesellschaftlicher Tätigkeit in- und außerhalb der Arbeit schaffen können.
Die größten Bildungschancen für alle Gesellschaftsschichten eröffnet eine gemeinsame Schule für alle Kinder und Jugendlichen. Sie müsste sich auf die Schülerschaft in ihrer ganzen Heterogenität von heute einstellen und die unterschiedlichen kulturellen, sozialen und sprachlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten berücksichtigen. Eine Gesamtschule in diesem Sinne würde die im Schulkonsens angestrebte individuelle
Förderung am besten verwirklichen können. Von dieser Zielvorstellung sind wir jedoch weit entfernt.
Der Schulkonsens ist ein deutlicher Schritt in die Richtung eines zweigegliederten Schulsystems, das das Gymnasium unangetastet lässt. Die Frage, ob ein zweigegliedertes Schulsystem ein Schritt in Richtung der einen Schule für alle ist oder aber im Gegenteil Exklusion verfestigt, kann nicht mit einer solchen Studie beantwortet werden. Ebenso bleiben didaktische Fragen offen: wie beispielsweise eine «Schule der Vielfalt» einer immer heterogeneren Schülerschaft gerecht werden kann.
Wie sieht allgemeine Bildung, die Verbindung von praktischem und theoretischem Lernen, von Schule und Gesellschaft heute aus – all diesen Fragen muss sich eine demokratische, fortschrittliche Bildungspolitik stellen.
Die künftige Schulentwicklung wird in politischen Auseinandersetzungen entschieden. Auch wenn sich die Landesregierung NRW mit dem Schulkonsens um politische Entscheidungen gedrückt hat, geht die Entwicklung hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem. Eltern und Schülerschaft wollen eine Schule, die zum Abitur führt. Die einen bevorzugen den traditionellen Weg über das Gymnasium, doch immer mehr werden die Vorzüge einer Gesamtschule erkannt, die den unterschiedlichen Begabungen und Interessen der SchülerInnen besser gerecht werden kann. Noch werden Gesamtschulen nicht in ausreichender Zahl angeboten – jedes Jahr müssen Kinder abgewiesen werden. Solange es noch unterschiedliche allgemeinbildende Schultypen gibt, die zum Abitur führen, wäre ein Abschulungsverbot für die Gymnasien notwendig. Damit
würde nicht nur die Hierarchisierung von Gymnasien und Gesamtschulen durchbrochen. Gymnasien wären auch veranlasst, sich intensiver um die Förderung aller ihrer SchülerInnen zu kümmern. Langfristig wäre damit eine gemeinsame Schule aus Gesamtschule und Gymnasium vorstellbar.
Wir hoffen, mit der vorliegenden Studie einen Beitrag zu einer zukunftsorientierten Bildungspolitik leisten zu können. Die schulpolitische Debatte fokussiert heute auf zweifellos wichtige Einzelfragen: Ganztagsschule, Inklusion, Sinn und Unsinn eines achtjährigen Gymnasiums (G8). Diese Aspekte werden in der Studie gestreift, unser Hauptaugenmerk liegt aber bewusst auf der Strukturfrage – die in jüngster Zeit gar nicht mehr zur Debatte stand –, um damit den Stillstand zu durchbrechen, der diesbezüglich in der Schulpolitik momentan herrscht.
Karl-Heinz Heinemann, Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW e. V., und die Begleitgruppe der Studie: Chris Brückner, Jürgen Helmchen, Norbert Müller, Anne Ratzki, August 2016
Die Autoren:
Marc Mulia arbeitet als Studienrat in der AG Schulforschung an der Ruhr-Universität Bochum.
Er war zehn Jahre als Lehrer in Duisburg beschäftigt und arbeitete von 2011 bis 2014 als pädagogischer Mitarbeiter im Regionalen Bildungsbüro Duisburg.
Peter Proff ist Mitarbeiter der Ratsfraktion der Partei DIE LINKE. in Krefeld.
Er hat an der Universität Duisburg Sozialwissenschaften studiert und sich in seinem Studium und als AStA-Vorsitzender vor allem mit Hochschulpolitik beschäftigt.