Eine Betrachtung zu Russlands Wachstumskräften
Dieser Text basiert auf einem Referat für ein Seminar in der „Moskauer Hochschule für Wirtschaft und Soziales“ am 4.5.2004 in Moskau unter dem Thema: „Russland wohin?“ Das Seminar wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützt.
Seit zwanzig Jahren befindet sich Russland in der Krise. Von Europa wird es als kranker Mann der Globalisierung wahrgenommen.
Wie seinerzeit Oswald Spengler vom „Untergang des Abendlandes“ sprechen manche Leute in und außerhalb Russlands heute gern vom „Untergang Russlands“, wobei unklar bleibt, was damit gemeint ist: das sowjetische Russland, das zaristische, das gegenwärtige – oder überhaupt Russland? Ich möchte dem die Beobachtung entgegensetzen, dass in Russland neue Kräfte entstehen, dass die russische Krise als Wachstumskrise zu verstehen ist und Russland die Chance hat, zum Impulsgeber von Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft zu werden, die über die aktuelle Krisenbewältigung in Russland und auch über Russland hinaus Bedeutung haben.
Beginnen wir mit den Fakten:
Die nackten Daten sind natürlich bedrückend: 26% der russischen Bevölkerung leben heute unter dem Existenzminimum , die demografische Entwicklung ist rückläufig; von 1990 bis heute hat Russland trotz Zuwanderung aus früheren sowjetischen Siedlungsgebieten 4,7 Millionen Menschen verloren; bis zum Jahr 2015 wird ein weiterer Rückgang der Bevölkerung um 8,5 Millionen Menschen erwartet. Städte, ganze Regionen schrumpfen (im Gegensatz zu Moskau und einigen wenigen Metropolen, in die jene Menschen drängen, die vor der Armut flüchten); die Bevölkerung lebt zu 60% von der Datscha, dem Hofgarten oder dem eigenen Feldstückchen vor der Stadt. Das Staatsbudget stützt sich im Wesentlichen auf die Einnahmen aus dem Export der natürlichen Ressourcen Öl, Gas, Holz usw.: Deindustrialisierung, Dequalifizierung, Depopularisierung, Demoralisierung und Atomisierung sind die Schlagworte für diese Entwicklung.
Sie entspricht den Prognosen, die der Internationale Währungsfonds (IWF) bei Einsetzen der Perestroika vorbrachte; ja, genauer, sie entspricht den Zielen, die der IWF Ende der 80er Jahre für eine Gesundung der seiner Ansicht nach aufgeblähten Sowjet-Wirtschaft vorgab: Schrumpfung lautete das entscheidende Stichwort in dem Bericht, den der IWF und die Weltbank 1989 anfertigten und den sie 1991 gemeinsam vorlegten. Der Bericht war die Grundlage, auf der Jegor Gaidar und Boris Jelzin 1991 ihre Strategie der „Schocktherapie“ aufbauten. Teile des IWF-Berichtes gingen wörtlich in das Privatisierungsprogramm der Regierung Gaidars ein. Kern des Programms war die Entkollektivierung, insofern IWF und Gaidar die Sowjet- und Kolchosstruktur der Produktion wie der Agrarwirtschaft Russlands als Haupthindernis einer effektiven Produktionsentwicklung betrachteten. Damit knüpften sie zugleich an den Positionen Pjotr Stolypins vom Anfang des Jahrhunderts an. Die Ergebnisse der Gaidarschen Gewaltkur brachten jedoch, wie die Zahlen zeigen, das Gegenteil des Erhofften: Russland, könnte man sagen und viele sagen es, ist auf den Stand eines Entwicklungslandes zurückgefallen.
Und dennoch: Trotz scharfer Versorgungsengpässe Ende der achtziger und Anfang der 90er, trotz der Schießereien am Weißen Haus `93 und selbst, wenn man den Krieg in Tschetschenien bedenkt, führte die Krise bisher zu keiner Hungerkatastrophe, das Land verfiel nicht in einen Bürgerkrieg und es nahm keine Zuflucht zu neuen imperialen Abenteuern. Schritt für Schritt ging es stattdessen den schweren Weg der Transformation. Unter Gorbatschow, wenn ich daran erinnern darf, bedeutete das: Rückzug aus Afghanistan als äußeres Zeichen für die Beendigung der expansiven Phase Russlands, Grenze des quantitativen Wachstums, Stichwort: Intensivierung statt Tonnenideologie. Unter Jelzin bedeutete es: Imitation westlicher Modelle, insonderheit der neo-liberalen Wachstumsideologie; faktisch führte dieser Weg zur unkontrollierten Ausplünderung des Landes durch einheimische und ausländische Privatisierer. Unter Putin heißt es heute: Rückbesinnung auf die eigene Kraft, die – bei aller notwendigen Kritik an dem autoritären Führungsstil des jüngsten Präsidenten und berechtigten Warnungen vor dessen möglichen Folgen – in den Jahren seit seinem Amtsantritt zu erkennen ist.
Rückbesinnung auf die eigene Kraft - damit meine ich nicht etwa, um es unmissverständlich zu sagen, die Wiederkehr von Expansionismus, diktatorischem Zentralismus, Militarismus und dergleichen als angeblich für Russland nicht anders mögliche Existenzweisen von Staat und Gesellschaft – nein, damit meine ich die Rückbesinnung auf die historisch gewachsenen Überlebenskräfte der russischen Bevölkerung, allgemein gesprochen, die gemeinschaftliche Selbstversorgung auf der Basis der Naturreichtümer und der reichen Geschichte des Landes. Diese Strukturen konnten sich, aller Erwartung zum Trotz, in den ersten Jahren der Präsidentschaft Putins erholen.
Die wichtigsten Aspekte des russischen Reichtums und seiner Kraftreserven möchte ich kurz benennen:
- Die geografische Weite Russlands
- Seine natürlichen Ressourcen an Land und Bodenschätzen
- Seine ethnische, d.h. auch genetische Vielfalt
- Seine historischen Wurzeln aus drei Kulturkreisen: Wikinger, Hunnen/Mongolen, Byzantiner, die sich auf dem Boden der slawischen Bauerngesellschaft zu einer geschichtsbildenden eigenen Kultur verbunden haben.
- Seine starke Bauernschaft
- Die historische Dynamik als Integrationsknoten zwischen Asien und Europa
- Die besonderen sozial-ökonomischen Strukturen des russischen Raumes, die sich aus der Wechselwirkung zwischen all diesen Elementen entwickelten: Die Dualität von höfischem Zentralismus zum einen und Dorf zum anderen in der Zeit des Zarismus; die zentral gesteuerte Industrialisierung in enger Verbindung mit Selbstversorgung auf Grundlage der agrarischen Gemeinschaftsstrukturen in der Zeit nach der Revolution.
Im Modernisierungstaumel der Reformer Ende der 80er, besonders Anfang der 90er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts wurden diese Voraussetzungen missachtet, die Reichtümer vergeudet, zerstört und reduziert. Unter Boris Jelzin wurde wieder einmal eine Phase der nachholenden Imitation eingeleitet, in der Russland sich ausschließlich auf den Westen orientierte: Russlands Rolle als Integrationsknoten wurde aufgegeben, seine Ressourcen der privaten Ausbeutung übereignet und, was das Wichtigste ist, die kollektive Lebens- und Arbeitsorganisation als rückschrittlich und uneffektiv angegriffen und bis an die Grenze der Zerstörung der Produktion und besonders auch der agrarischen Grundlagen des Landes desorganisiert.
Darin glich die Phase der „Schocktherapie“ und das sich daran anschließende Chaos früheren Phasen der Modernisierung, die immer mit einer Auflösung der gewachsenen Gemeinschaftsstrukturen und Einführung westlicher Lebensnormen begannen. Ich denke hier an die Zwangs-Modernisierung Peters I., im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, an die Bauernbefreiung durch Alexander II., 1862, an die Stolypinschen Reformen vor dem ersten Weltkrieg, an die Zwangsindustrialisierung der Bauern mit anschließender Kollektivierung durch Stalin. Alle diese Ansätze endeten nach einer vorübergehenden Krise stets mit erneuter Formierung der historisch gewachsenen Strukturen, das heißt, sowohl der dörflichen und regionalen Gemeinschaften als auch des Moskauer Zentralismus.
Der Grund ist klar und wird selbst von Kritikern dieser Strukturen immer wieder bestätigt: Die Grundorganisation der russischen Gesellschaft und des russischen Staatswesens, das heißt, allmächtiges Zentrum auf der einen, sich selbst versorgendes, selbstverwaltetes Dorf auf der anderen, hat sich allen einseitigen Fehlentwicklungen zum Trotz (Despotie des Zentrums oder Anarchie des Dorfes) als die für diesen geografischen Raum und diese ethnische und kulturelle Vielfalt optimale Form des Lebens und in Zeiten der Bedrohung auch des Überlebens herausgebildet. Sie hat sich in einer mehr als tausendjährigen Geschichte in die sozioökonomische Struktur des russischen Raumes materiell und mental eingeschrieben. Die viel beschworene russische Selbstgenügsamkeit hat hier ihre Wurzeln. Sie resultiert aus der Möglichkeit, auf der Basis gemeinschaftlicher Selbstversorgung schwerste Krisen relativ lange zu überstehen – und sei es auf dem niedrigsten Niveau einer jahrelangen Smuta.
Nicht anders war es jetzt bei dem neuesten Modernisierungsanlauf: Zwar wurde das Volksvermögen privatisiert, zwar wurden die Sowchosen- und Kolchosen zu Aktiengemeinschaften erklärt, zwar folgten gut 400.000 Familien anfangs dem Ruf, eine private Bauernwirtschaft zu gründen, eine produzierende Mittelschicht entstand daraus jedoch ebenso wenig wie ein privat wirtschaftendes Bauerntum, vielmehr eine Differenzierung in wenige Reiche, die sich den Zugriff auf die nationalen Reichtümer sicherten, und eine faktisch enteignete, desorganisierte und verarmende Mehrheit der Bevölkerung.
Im Westen, wo die Grundlagen der Selbstversorgung durch die Industrialisierung längst zerstört sind, wäre eine solche Entwicklung gleichbedeutend mit einer Katastrophe. In Russland konnte sich die verarmende Mehrheit der Bevölkerung auf ihre Datschen und Gärten zurückziehen – in der dörflichen Gemeinschaft, in der Datschengemeinschaft und selbst in der desolaten Form der individuellen Versorgung zerstörter und verfallener Sowchosen, Kolchosen oder Dörfer. So überlebten die Menschen die Versorgungskrise Ende der 80er und Mitte der 90er Jahre und so leben sie bis heute, idem sie die ausbleibenden oder bis heute dürftigen Löhne, Gehälter, Stipendien und Pensionen mit den Produkten ihrer Selbstversorgung kompensieren. Nicht anders Wirtschaft und Staat insgesamt, die nur durch die hohen Preise für Öl, Gas, Wald usw. überleben. In diesem Zustand kann die russische Wirtschaft und Gesellschaft zwar keine Effektivität im Sinne der heute geltenden neo-liberalen Wachstumskriterien entwickeln, aber sie kann sehr lange überleben, länger jedenfalls als das die westlichen Ökonomien könnten, die bei Ausbleiben industriell gefertigter Lebensmittel oder beim Wegfall von Zulieferungen aus agrarischen Ländern sehr schnell zusammenbrechen würden.
Von der Minderheit der gut Verdienenden bis Superreichen muss man in diesem Zusammenhang nicht reden. Sie bilden nur die bekannte Ausnahme zur Regel, zumal sie in vielen Fällen nur aus den Überschüssen leben, die sie aus dem Export der Ressourcen erzielen.
In dieser aktuellen Grundkonstellation der gegenseitigen Ergänzung einer zurückgefahrenen Produktion einerseits und der Natural-, bzw. Selbstversorgung andererseits liegt aber nicht nur die Kraft des bloßen Überlebens, in ihr wird ein Potential sichtbar, das geeignet ist, die gegenwärtige russische Wachstumskrise in eine Entwicklung umzuwandeln, die über die frühere sowjetische wie auch über die kapitalistische Art des Wirtschaftens hinausweist. Nicht Marktwirtschaft, wie von den Reformern in Ost und West erwartet, ist an die Stelle der früheren sowjetischen Planwirtschaft getreten, sondern etwas Neues, bisher noch Unbekanntes, noch nicht ausreichend Untersuchtes, eine Mischung, eine Synthese, welche die bisherigen Polaritäten von Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, von Kapitalismus oder Sozialismus, Industrieproduktion oder Selbstversorgung hinter sich lässt: Neue Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung der Menschen sind entstanden, aber die künstliche Ankurbelung der Produktion durch künstlich erzeugte Bedürfnisse funktioniert nicht. Die Symbiose von Lohnarbeit und Selbstversorgung bildet vielmehr einen sozial-ökonomischen Puffer aus, der es möglich macht, nur das zu kaufen, also notwendigerweise auch nur das zu produzieren, was wirklich gebraucht wird. Das ist entwicklungshemmend und entwicklungsfördernd zugleich; hemmend im Sinne neo-liberaler Wachstumsorientierung, födernd für die Herausbildung neuer Wege der Arbeits- und Lebensorganisation. Die Elemente dieser neuen Realität bedürfen einer dringenden Erforschung.
Voraussetzung für die Weiterentwicklung der entstandenen Übergangsformen ist allerdings, dass die geschrumpfte Produktion intensiviert, die alten Anlagen nicht nur auf niedrigem Niveau weiter abgenutzt werden, sondern die Selbstversorgung bewusst organisiert und gefördert wird, die Ressourcen nicht nur ausgebeutet werden, sondern ihr Gebrauch kultiviert und gemeinschaftlich kontrolliert wird. Unter solchen Umständen bekommt der Terminus „Entwicklungsland“ eine neue Bedeutung. Darin bedeutet Entwicklung nicht mehr, den sog. entwickelten kapitalistischen Ländern hinterherlaufen zu müssen, darin ist die Abstützung auf Selbstversorgung kein Rückschritt ins Mittelalter, sondern Ausdruck einer in die Zukunft gerichteten Dynamik. Die Rede ist von einem Entwicklungsland neuen Typs, das Ansätze für eine Wirtschafts- und Sozialordnung von morgen zeigt, deren Entwicklung nicht nur für Russland, sondern für die Welt insgesamt von Bedeutung ist.
In Russlands Reichtum, in der Stärke seiner Selbstversorgungsstrukturen liegt aber auch seine große Schwäche, nämlich die tief verwurzelte, Jahrtausende alte Überzeugung, die bereits den Charakter einer Menschheitsweisheit trägt: Russland ist groß! Russland ist weit! Wir haben für immer von allem mehr als genug – unendlich viel Land, unerschöpfliche Ressourcen, eine Vielfalt an Menschen.
Tatsächlich sind die Zeiten der unbegrenzten Ressourcen heute auch für Russland vorbei. Die größte Herausforderung für Russlands Menschen liegt heute vermutlich darin, diese Grenzen zu erkennen, zu akzeptieren in neues Bewusstsein zu transformieren und vom bisherigen Raubbau an natürlichen Reichtümern wie an Grund und Boden zur kontrollierten Nutzung und Entwicklung und Pflege überzugehen. Dies ist, aus meiner Sicht, die eigentliche Revolution, die sich heute in Russland ereignet, bzw. ereignen muss – und nicht nur in Russland. In Russland ist sie lediglich besonders akut, weil die von seiner Führung zur Zeit betriebene nachholende Modernisierung die Grenzen der bisher unerschöpflich scheinenden Ressourcen besonders krass hervortreten lässt. Russland, das weiß erkennbar auch seine gegenwärtige Führung, ist nur überlebensfähig, wenn es seine Ressourcen teuer und zum langfristigen Nutzen der Gemeinschaft verkauft und das heißt, wenn es sie kontrolliert.
Hier kommen wir in den Bereich, in dem sich Fragen an die künftige Politik Wladimir Putins und seines Kommandos sowie an die sog. russische Elite stellen: Sind sie bereit und fähig, die Entwicklung neuer wirtschaftlicher Orientierungen, die das Diktat neo-liberaler, weiterhin expansiv ausgerichteter Konsumorientierung in Frage stellen, in Russland nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern? Oder werden sie im Namen der Kapitalisierung des Landes, seiner Monetarisierung und der künstlichen Schaffung des dafür notwendigen Konsums den sozialen Krieg gegen die Strukturen der Selbstversorgung und die daraus resultierende Selbstgenügsamkeit der russischen Bevölkerung eröffnen?
In den ersten vier Amtsjahren Wladimir Putins schien es so, als wollten er und sein Kommando sich in einem Schaukelkurs zwischen Stimulierung einer abgespeckten Produktion und Erhaltung der gewachsenen Selbstversorgungsstrukturen bewegen. Praktisch lief das auf die Entstehung der jetzt gegebenen symbiotischen Misch-Beziehung zwischen Beidem hinaus. Seit den Wahlen Anfang des Jahres 2004 sieht es aber so aus, als habe die Führung des Landes sich in der Absicht, einen inneren Markt zu schaffen, doch zu einer Kriegserklärung gegen die Selbstversorgung mit dem Ziel der Monetarisierung der Gesellschaft entschieden. Der Angriff auf das System der Vergünstigungen ist symptomatisch dafür. Wenn dies tatsächlich so durchgezogen wird, wie es nach den Wahlen 2004 begonnen wurde, sind schwere innere Konflikte für Russland unvermeidbar, denn dies würde bedeuten, die bestehenden Strukturen der Selbstversorgung, von denen das Volk lebt, radikal zu desorganisieren, um sie im Sinne eines konsumorientierten funktionierenden Produktions- und Geldkreislaufs, den es bisher nicht gibt, völlig neu wieder aufzubauen. Das Ergebnis dieser Versuche, davon bin ich überzeugt, kann nur eine soziale Katastrophe sein, an deren Ende sich die Suche nach neuen Beziehungen zwischen Produktion und Selbstversorgung umso dringender einstellt als jetzt, allerdings vermutlich zu schlechteren Bedingungen. Ich würde mir wünschen, dass es ohne diese Umwege ginge.
Kai Ehlers