Im August 2023 jähren sich zum fünfzigsten Mal die spontanen Streiks beim Autozulieferer Pierburg in Neuss und bei Ford in Köln, die bereits damals eine recht große Aufmerksamkeit erfuhren, vor allem aber in den folgenden Jahrzehnten wegen des weit überproportionalen Anteils von Migrant:innen unter den Streikenden und ihres – vor allem bei Ford in Köln – „inoffiziellen“ Charakters für eine neuere politische und wissenschaftliche Debatte und einen (post-)migrantischen Aktivismus eine geradezu symbolische Bedeutung erlangten.
Die Erinnerung an die Streiks von 1973 war in den letzten Jahren vor allem davon geprägt, migrantischen Widerstand, migrantische (Arbeits-)Kämpfe und migrantische Akteur:innen sichtbar zu machen, in den Mittelpunkt zu rücken und zu würdigen. Auch lassen sich die Kämpfe von 1973 einem längeren zeitlichen Bogen von Arbeitsauseinandersetzungen zuordnen, der beispielsweise vom Spätsommer 1969 („Septemberstreiks“) bis 1974 (erfolgreicher ÖTV-Streik) datiert werden kann.
Die Streiks in dieser Phase der bundesrepublikanischen Geschichte lassen sich bei näherer Betrachtung nicht dichotomisch als „wilde“ Streiks gegen die DGB-Gewerkschaften und ihre „legalen“ Arbeitskämpfe beschreiben, sondern zeigen eher ein widersprüchliches Wechselspiel denn einen schroffen Gegensatz. Der vorwiegend von Frauen getragene Streik in Neuss, der sich gegen die faktisch ausschließlich Frauen diskriminierende Lohngruppe 2 richtete, war auch deshalb erfolgreich, weil sich die Mehrheit von Betriebsrat und lokaler IG Metall solidarisch verhielten. Für heutige linke Kämpfe könnte dies ein Hinweis sein, nicht zu sehr über Forderungen an Staat und die Gesetzgebung zu operieren, sondern stärker auf die Entwicklung und Durchsetzung aktiver solidarischer Praxen in der Arbeitswelt zu setzen.
Damit dies gelingen kann, sind Solidarisierungsbedingungen entscheidend, die verbindende Kämpfe erlauben. In Neuss gelang dies, in Köln nicht. Doch sollte auch dieser Unterschied von gelungener und gescheiterter Solidarisierung nicht zu einer weiteren Dichotomie ausgebaut werden; auch aus dem Scheitern können wertvolle Schlussfolgerungen gezogen werden.
Wir, das sind die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Otto-Brenner-Stiftung, die Hans-Böckler-Stiftung, die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, die IG Metall (Vorstandsressort Migration und Teilhabe), die IG Metall Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss, das Institut für soziale Bewegungen in Bochum sowie die German Labour History Association, nehmen für unsere Tagung am 1. und 2. September in Düsseldorf den Jahrestag zum Anlass und fragen: Was macht die Faszination dieser Streiks von 1973 aus, und wie sie sind heute aus geschichtswissenschaftlicher sowie aktivistischer Perspektive einzuschätzen? Inwieweit lässt sich aktuell produktiv daran anknüpfen?
Den Auftakt zur Tagung bildet ein Kulturprogramm zum Thema am 1. September ab 17 Uhr im DGB-Haus Düsseldorf. An selber Stelle beginnt am Samstag um 10 Uhr die Tagung. Gewerkschafter:innen, Zeitzeug:innen, Wissenschaftler:innen und politisch Aktive aus unterschiedlichen Spektren kommen in verschiedenen Formaten ins Gespräch. Außerdem wird aus dem Kreise der Veranstalter:innen eine Publikation im Sommer erscheinen.
Programm
Freitag, 1. September:
17:30 Uhr: Ankommen
18:00 Uhr: Begrüßung und Einführung
- Nuria Cafaro, Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und Dr. Salvador Oberhaus, Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW
18:10 Uhr: Grußwort von Andres Lara (Sevilla) Spanischer Arbeiter bei Opel Bochum und Aktivist der betrieblichen Auseinandersetzungen 1972.
18:20 Uhr: Gastarbeiter-Monologe von Mesut Bayraktar
Gekommen, um zu gehen, doch geblieben. Ein Theaterstück. Eine szenische Lesung. Vier Figuren. Zusammengenommen, ein Chor. Eine Stunde und dreißig Minuten. Auf Grundlage von authentischen Quellen und dichterischer Fiktion.
- Text und Szenische Einrichtung: Mesut Bayraktar
- Mit: Günfer Cölgeçen, Burçin Keskin, Lily Frank, Kutlu Yurtseven
- Musik: Kaptan Bayraktar | Video: Svenja Hauerstein
Die Lesung dauert 90 Minuten. Im Anschluss besteht die Möglichkeit zum Austausch.
20:30 Uhr: Ende
Samstag, 2. September
10:00 Uhr: Begrüßung
- Dr. Michaela Kuhnhenne, Hans-Böckler-Stiftung
10:10 Uhr: „Migrantische Kämpfe um Anerkennung und die Rolle der Gewerkschaften - eine kritische Zwischenbilanz“
- Nihat Öztürk, Vorstandsmitglied der Gewerkschaftsintiative "Gelbe Hand" und ehemaliger Erster Bevollmächtigter der IG Metall Düsseldorf-Neuss.
10:40 Uhr: Vortrag und Diskussion: „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ – 1973 als europäischer Höhepunkt migrantischer Kämpfe?
- Dr. Simon Goeke, Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Migrationsgeschichte am Münchner Stadtmuseum.
- Moderation: Dr. Salvador Oberhaus, Historiker, Stellvertretender Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW
12:15 Uhr bis 13:00 Uhr: Mittagspause
13:00 Uhr: Vortrag und Diskussion: „Organisation und Teilhabe migrantischer Arbeitnehmer:innen in der IG Metall – eine Erfolgsgeschichte“
- Mit Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG Metall
- Moderation: Dr. Michaela Kuhnhenne, Hans-Böckler-Stiftung
14:00 Uhr: „Fraternité. Schöne Augenblicke in der europäischen Geschichte.“ Eine szenische Lesung aus dem Werk von Bernd-Jürgen Warneken
14:30 Uhr: Vortrag und Diskussion: „Hoch die internationale Solidarität? Migrantische Beschäftigung zwischen Fragmentierung und dem Kampf um die Erweiterung des 'Wir'“
- Mit Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie von Arbeit, Unternehmen, Wirtschaft an der Universität Göttingen.
- Moderation: Dr. Florian Weis, Historiker, Referent für Antisemitismus und jüdisch linke Geschichte und Gegenwart / Klassen in der Rosa-Luxemburg-Stiftung (Berlin)
16:00 Uhr: Kaffeepause
16:15 Uhr: Gelingende und misslingende Solidarisierungen: Die spontanen Streiks bei Hella (Lippstadt), Pierburg (Neuss) und Ford (Köln) 1973 und ihre Wirkungen
Nuria Cafaro, Historikerin und Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW begrüßt Irina Vavitsa, ehemalige Betriebsrätin bei Hella, und Dieter Braeg, ehemaliger Betriebsrat bei Pierburg, Mitat Özdemir, ehemaliger Arbeiter bei Ford und seit 1972 Sozialarbeiter in einem Kölner Ford-Wohnheim sowie Peter Bach, ehemaliger Arbeiter im Motorenwerk bei Ford und Streik-Aktivist im Erzählcafé. Zum Einstieg zeigen wir ein Interview mit Hasan Doğan, Aktivist beim Ford-Streik.
18:45 Uhr: Ausklang der Veranstaltung
Live-Übertragung am 2. September ab 10 Uhr
Kooperationspartner*innen:
Rosa-Luxemburg-Stiftung (Bund und NRW), die Otto-Brenner-Stiftung, die Hans-Böckler-Stiftung, die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, die IG Metall (Vorstandsressort Migration und Teilhabe sowie Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss), das Institut für soziale Bewegungen in Bochum sowie die German Labour History Association
Standort
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Rosa-Luxemburg-Stiftung Nordrhein-Westfalen
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Telefon: 0203 3177392