Bericht von Julia Killet
Um eine soziale und ökologische Europäische Union zu gestalten, bedarf es grundlegender politischer Veränderungen. Im Juni 2009 wählen die BürgerInnen der Europäischen Union erstmals in Zeiten einer weltweiten Finanzmarktkrise das Europäische Parlament. Unter dem Motto „Für ein soziales Europa. Perspektiven für die Überwindung der Krise“ lud die Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW in Zusammenarbeit mit der RLS-Bundesstiftung, dem RLS-Club Düsseldorf, WISSENTransfer, transform europe, Forum Soziales Europa und Attac Düsseldorf zur kritischen Diskussion ein.
In seiner Begrüßungsrede stellte Florian Weis, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der RLS fest, dass sich die Debatten über die EU im breiten linken Spektrum thematisch verschoben haben: „Ging es vor der Krise vor allem um die Frage der Verfassung und der Militarisierungstendenzen in der EU, stehen nun ökonomische Probleme im Zentrum: Wir stellen fest, dass in dieser Krise eher national reagiert wird, dass sich die Solidarität zwischen Mittel- und osteuropäischen Ländern in Grenzen hält und darüber hinaus die alte Kontroverse über die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen in der EU weiter hinausgezögert wird.“ Diskussionsintensive Fragen wie beispielsweise der Türkeibeitritt seien mittlerweile durch andere Aspekte überlagert.
Von einer Legitimationskrise, die sich aus der bewussten Regelverletzung der EU ergebe, sprach Andreas Fisahn. Die ließe sich etwa an der nicht bestätigten EU-Verfassung beobachten oder an den Reaktionen der EU auf die Weltwirtschaftskrise: „Der Union fehlen die Steuerungsmittel, um angemessen auf die Krise reagieren zu können. Man setzt weiter auf den neoliberalen Wunderglauben. Die Verträge der EU eignen sich nicht für eine Antikrisenpolitik.“ Perspektiven und Anknüpfungspunkte für die gesellschaftliche Linke in der EU seien: Staatliche Aufsicht der Finanzmärkte, eine Stärkung des staatlichen, öffentlichen und genossenschaftlich organisierten Eigentums, Demokratisierung der Wirtschaft durch Mitbestimmung der ArbeitnehmerInnen an betrieblichen Entscheidungen und die Stärkung der Wirtschafts- und Sozialausschüsse in der EU, die bisher nur schwache Anhörungsrechte hätten.Daran knüpfte auch Jürgen Klute an, Bundesvorstandsmitglied der Partei DIE LINKE und NRW-Spitzenkandidat zum Europaparlament: Die Deregulierungsvorschriften des Lissabon-Vertrages seien ein Teil der Grundlage für die Krise. Es gebe in der EU die klare Hierarchisierung, unternehmerische Freiheit vor soziales Recht zu stellen.
Diese Ansichten lehnte Lale Akgün, MdB (SPD), Mitglied im Europa-Ausschuss, entschieden ab. Das Gegenteil sei der Fall. Die Europäische Union würde niemals nur ein Wirtschaftsraum sein. Europa müsse ein Projekt für Frieden, Demokratie und Wohlstand sein – ein politisches und soziales Projekt bleiben. Die EU hätte sich seit ihrer Gründung als Motor des sozialen Fortschritts erwiesen. Gemeinschaftliche Rechtsvorschriften hätten den Europäern zu neuen bzw. mehr Rechten am Arbeitsplatz, auf dem Binnenmarkt und im Alltagsleben verholfen, wegweisende Gesetze die Lebensqualität der Europäer verbessert. „Es ist falsch, dem Lissabonner Vertrag die Schuld für die soziale Krise zu geben oder zu glauben, dass der Vertrag eine neoliberale Wirtschaftspolitik diktiere.“
Über die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa sprachen Richard Detje, WISSENTransfer; Trevor Evens, Koodinationskreis EuroMemo und Sahra Wagenknecht, MdEP, Mitglied im Wirtschaftsausschuss. Alle waren sich einig, dass es sich um eine Systemkrise des Kapitalismus bzw. Neoliberalismus handele. Die Eckpfeiler eines zukunftsfähigen Europas seien unter anderem eine wirksame Besteuerung der Kapital- und Vermögenseinkommen, eine europaweite Tarifpolitik zur Erhöhung des Masseneinkommens, Mindestlöhne, Mindestrenten, Verstaatlichung der Banken und eine Ausstattung der öffentlichen Finanzen. „Wer 480 Milliarden für marode Banken rausschmeißt, kann nicht mehr glaubwürdig sagen, dass er nicht 20 Milliarden für Mindestlohn oder Hartz IV-Empfänger hat“, beanstandet Sahra Wagenknecht.
Eine Veränderung ist auch in der europäischen Sozialpolitik nötig. Doch wie sieht ein europäisches Sozialmodell aus? Klaus Dräger, Fraktionsmitarbeiter der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament und im Beirat der EU-AG Attac fordert: „Die Lissabon-Strategie muss beendet und durch eine neue integrierte EU-Strategie für Nachhaltigkeit, Solidarität und soziale Integration abgelöst werden.“ Lutz Brangsch, Referent für Wirtschafts- und Sozialpolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS, argumentiert, dass die linken Bewegungen und die Gewerkschaften zu schwach seinen, sie müssten stärker einbezogen werden und sich über Sozialmodelle in ihren Staaten austauschen. „Um ein soziales Europa zu schaffen, ist eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung unerlässlich“, schließt sich auch Horst Schmitthenner, Koordinator des Forum Soziales Europa an. Unter „Europäisierung der Tarifpolitik“ versteht Thorsten Schulten, Referatsleiter Arbeits- und Tarifpolitik in Europa im WSI der Hans-Böckler-Stiftung, „einen differenzierten Strategieansatz, der die ökonomischen und institutionellen Unterschiede in Europa berücksichtigt und der politischen Struktur der EU als einem politischen Mehrebenensystem Rechnung trägt.“
Die rund 120 TeilnehmerInnen hatten die Möglichkeit, sich in den Foren Außen- und Außenhandelspolitik der EU, Grenzen – Migration – Identität, die Linke in Europa und Ökologie – Energie – Ressourcensicherung, auszutauschen.
Das Abschlussplenum stellte schließlich die Frage, ob eine demokratisch und sozial erneuerte EU ein Traum oder eine realistische Perspektive sei. Annelie Buntenbach, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes des DGB, ist der Meinung, dass die Menschen die politische Nische erkennen müssten, wo sie sich einmischen könnten, denn „die Struktur der Europäischen Union sei zu unübersichtlich“. Außerdem sei es nötig, eine soziale Fortschrittsklausel festzulegen, die Streikrecht und Tarifautonomie gewährleistet. Die wirtschaftlichen Grundfreiheiten dürften keinen Vorrang vor sozialen Rechten haben. Sven Giegold, B90/Grüne und Attac, erkennt, dass sich durch die Krise „eine enorme Chance auftut“. Denn plötzlich funktionierten Dinge, die vorher nicht möglich waren, wie etwa der Einfluss der EU auf die Steueroasen. Er betonte, dass er sich eine konkrete europapolitische Alternative nur unter der Regierungskonstellation rot / rot / grün vorstellen könne. In dieser Krise könne man nicht die Verantwortung einer großen Koalition überlassen, die es nicht einmal schaffe, Jobcenter zu reformieren und die faktisch mit dem Regieren aufgehört habe. Helmut Scholz, Mitglied des Parteivorstands der Europäischen Linken und der Partei DIE LINKE, machte darauf aufmerksam, dass die osteuropäische politische Entwicklung mitgedacht werden müsse: Ein Teil von Osteuropas, wie Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien stünde dort, wo Deutschland 1931/32 stand. Zum Schluss fasst Richard Detje, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus, zusammen: Der Kapitalismus habe sich zwar selbst zerstört, sei aber immer noch gegenwärtig. Es gebe keine neoliberale Antwort auf die Finanz-, Klima- und Hungerkrise.
Veranstalter: Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, WISSENTransfer, Rosa-Luxemburg-Stiftung, transform europe, Forum Soziales Europa, Attac Düsseldorf, Rosa-Luxemburg-Club Düsseldorf.