«In den letzten Jahren hat sich in der Türkei ein kollektiver Zorn in der Gesellschaft entwickelt. Und dieser Zorn ist jetzt ausgebrochen», so Begüm Özden Firat, Dozentin für Soziologie an der Mimar Sinan Hochschule in Istanbul und Aktivistin in Migrationsnetzwerken und Anti-Gentrifizierungsinitiativen. Eine Einschätzung, die Gökhan Biçici, Journalist und Redakteur beim Fernsehsender IMC TV und Meltem Oral, Aktivistin in Kampagnen gegen Neoliberalismus auf der zweiten Veranstaltung der Reihe «Platz der Träume – Rüyalar Meydani» teilten. Am Mittwoch, den 21.8.2013 nahmen in Berlin an der Diskussionsveranstaltung über 350 Personen teil, viele davon aus der kurdisch-türkischen Community Berlins. Auch hier stieß die Initiative von Rosa-Luxemburg-Stiftung, Attac und der Interventionistischen Linken auf großes Interesse, wie auch schon bei der Auftaktveranstaltung am 18.8.2013 in Hannover, zu der mehr als 150 TeilnehmerInnen kamen. Die Proteste gegen die Bebauung des Gezi-Parks Ende Mai/Anfang Juni waren nur der Ausdruck dieses ausgebrochenen Zorns, der aber viel tiefer liegt und seine Ursachen in der Entwicklung der türkischen Gesellschaft in den letzten ca. zehn Jahren hat.
Über diese Hintergründe sowie über die Vertreibung der Geringverdienenden aus den Innenstädten, über Marginalisierung und Gentrifizierung, über die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, über die Umverteilung von unten nach oben und über die Kultur des Almosenverteilens, die seit der Herrschaft der AKP unter dem aktuellen türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan Einzug gehalten hat, berichteten die drei AktivistInnen sowohl sehr prägnant als auch sehr persönlich. Denn in der einen oder anderen Weise sind alle von dieser Entwicklung betroffen: Sei es als Studentin an den Universitäten, die fast vollständig unter Kontrolle der Regierungspartei geraten sind, sei es als Journalist, der massiven Repressionen ausgesetzt war und verhaftet wurde oder sei es als feministische Aktivistin. Alle drei Gäste aus der Türkei vermittelten an diesem Abend im vollbesetzten SO36 in Berlin-Kreuzberg ihre Erfahrungen mit der Strategie der türkischen Regierungspartei, die politische Hegemonie in allen Gesellschaftsbereichen zu erreichen. Dazu gehört, dass laut den ReferentInnen aktuell in der Türkei eine Kriegserklärung der AKP an die alten politischen Eliten gilt. Der Kemalismus, der lange Jahrzehnte das Land entscheidend prägte, soll entscheidend geschwächt werden. Alles das geht mit einer massiven Unterdrückung der gesamten politischen und gesellschaftlichen Opposition einher.
Dabei argumentierten Begüm Özden Firat, Gökhan Biçici und Meltem Oral keineswegs politisch blauäugig. Das Erdoğan immer noch eine Mehrheit des türkischen Volkes hinter sich weiß, gestanden sie zu. Aber zum ersten Mal seit vielen Jahren gibt es eine Chance auf Veränderung in der Türkei, so Gökhan Biçici. Die massive und unermüdliche Beteiligung an den Protesten im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz, die Vielstimmigkeit des Protestes, die unendlich phantasievollen Formen des Protestes wurden vor allem von jungen Türken und Türkinnen getragen. Das ist ein, auch für die drei AktivistInnen wesentlicher Punkt, der Hoffnung macht, dass Gezi-Park und Taksim nicht nur «Plätze der Träume» sind, sondern auch für ein dauerhaft verändertes politisches Bewusstsein und für neue politische Organisationsformen stehen. Ob sie damit Recht haben, wird sich schon im September zeigen. Eine Wiederaufnahme der Mai-Proteste, nicht nur in Istanbul, ist schon angekündigt.
Stefan Thimmel, Berlin
Die Gäste:
Gökhan Biçici ist Programmredakteur beim Nachrichtenkanal İMC TV, Redaktionsmitglied des Onlineportals EmekDunyasi und diesjähriger «Pressefreiheit»-Preisträger des türkischen Journalist_innenverbandes.
Meltem Oral ist Aktivistin in Kampagnen gegen Neoliberalismus, Rassismus, Homophobie etc. und von Beginn an an den Protesten im Gezi-Park beteiligt.
Begüm Özden Fırat ist Autorin und Dozentin für Soziologie an der Mimar Sinan Hochschule für bildende Kunst in Istanbul, politisch aktiv in Migrationsnetzwerken und organisiert im Netzwerk Müştereklerimiz («Unsere Commons»).
Mehr Informationen: rosalux.de/platz-der-traeume
Es begann mit dem Protest gegen den Bau eines Einkaufszentrums, wurde zum Ereignis und veränderte das politische System der Türkei. Eine scheinbar unbedeutende Besetzungsaktion brachte binnen weniger Tage Hunderttausende auf die Straßen, erst in Istanbul, dann in unzähligen Klein- und Großstädten in der Türkei. Brutale Überfälle der Staatsgewalt und das Schweigen der offiziellen Medien riefen noch mehr Menschen auf die Plätze. Die mutige und phantasievolle Bewegung dauert an, lässt sich nicht einschüchtern, nicht beirren.
Fünf Aktivist_innen der ersten Besetzungsaktionen sprechen über die Perfidien eines Systems, das sie schon ins Wanken gebracht haben: Die Enteignung des öffentlichen Raums, die Vertreibung der «gefährlichen Armen» aus der Innenstadt, die Gentrifizierung, die besondere Mischung aus kapitalistischer Modernisierung und autoritärer Islamisierung. Unsere Gäste sprechen aus dem vielstimmigen Protest, seinen neuen Formen der Begegnung und Partizipation, aus der Erfahrung einer Demokratie ohne Polizei. Sie erzählen, wofür sie kämpfen.