Dokumentation Vergessene Juden

Eine Konferenz über jüdisches Leben in Tunesien

Information

Zeit

14.08.2022

Veranstalter

Victor Meuche,

Themenbereiche

Nordafrika

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Vergessen, verdrängt und dennoch vorhanden – so lässt sich eine kürzliche Konferenz zu jüdischem Leben in Tunesien zusammenfassen. Veranstaltet durch das Jüdische Komitee der Stadt Nabeul und das «Laboratoire du Patrimoine de la Faculté des Lettres» («Labor für Kulturerbe der Fakultät für Geisteswissenschaften») der Universität Manouba, widmete sich die Tagung dem «patrimoine pluriel du Cap-Bon», also dem vielfältigen kulturellen Erbe der tunesischen Halbinsel Kap Bon. Mehr als 60 Forscher*innen, Student*innen, Aktivist*innen und Gäste nahmen an der Konferenz teil.

Jüdische Spuren und Stätten

Ende der 1940er Jahre lebten noch über 100.000 Jüdinnen und Juden in Tunesien, heute sind es bedeutend weniger: Schätzungen sprechen von nur noch 1.000 bis 2.500, die genaue Zahl ist aber unbekannt. Die größte jüdische Gemeinschaft findet sich auf der Insel Djerba. Die dortige Synagoge wurde 2002 von der Terrorgruppe al-Qaida angegriffen. Beim Anschlag starben 19 Tourist*innen, darunter 14 aus Deutschland.

Viele der jüdischen Stätten Tunesiens, wie Synagogen und Friedhöfe, sind in einem desolaten Zustand. Die kulturpolitischen Akteur*innen agieren mit Blick auf dieses Erbe, das vom Konflikt um Palästina überschattet wird, oft zurückhaltend. Dieses Problem wurde in einem Vortrag vom Juristen Walid Zdini erörtert, der sich als Vize-Präsident der Soliman City Maintenance Association für die Rettung des jüdischen Friedhofs in Soliman, einer Kleinstadt im Südwesten des Kap Bon, einsetzt.

Mounir Fantar referierte zur Synagogenruine der Stadt Kelibia, deren Mosaike semitische Symbolik enthalten und auf eine ehemalige jüdische Gemeinde in der Spätantike verweisen. Der Archäologe demonstrierte damit die kulturelle Vielfalt im Kap Bon, welche sich bis in das fünfte Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Jüdisch-muslimisches Zusammenleben sei lange von religiöser Toleranz geprägt gewesen, unterstrich Historikerin Ibtissem Khadraoui. So sei das Heiligtum des Rabbiners Yaacoub Slama in Nabeul nicht nur Pilgerziel für jüdische Personen, sondern auch ein Ort der Begegnung zwischen Islam und Judentum gewesen.

Biographische Spuren

Vorgestellt wurde auch das Buch «Les célèbres chanteurs tunisiens juifs» von Fakher Rouissi. Die biografische Zusammenstellung verdeutlicht, dass jüdisch-tunesische Musikschaffende wegweisend für den Erfolg tunesischer Musik im 20. Jahrhundert waren. Nicht nur, weil sie angesichts prekärer sozio-ökonomischer Bedingungen Trost und Kraft für die Hörenden spendeten, sondern auch, weil sie Tabus brachen und zur Emanzipation der tunesischen Frau beitrugen.

Regisseurin Amira El Mufti ergänzte das Kulturprogramm mit einem Kurzfilm-Portrait. Dessen Protagonist Albert Chiche, der sich selbst als  «letzten Juden von Nabeul» bezeichnet, leitet das Jüdische Komitee der Stadt. Chiches Engagement für das Erbe in Nabeul wird hochgeschätzt, allerdings zeigte El Muftis Film auch die Schattenseiten: jüdische Erinnerungsorte sind immer wieder Ziel von Vandalismus. Dennoch setzt sich Chiche für die jüdische-tunesische Geschichte ein, so wurde ein «Raum der jüdisch-nabeulischen Erinnerung» eingeweiht, welchen Chiche der Stadt Nabeul gewidmet hat.

Öffentlichkeit zu schaffen, das ist angesichts einer zunehmenden Infragestellung jüdischer Kultur in Tunesien entscheidend. Zuletzt hatte Tunesiens Präsident Kais Saied immer wieder seine Sichtweise Tunesiens als einheitliche, arabisch-muslimische Nation (Umma) verbreitet. Die niedrigschwellige und interdisziplinäre Fachtagung hat dazu beigetragen, die Koexistenz von Judentum und Islam und das diverse kulturelle Erbe der Region Nabeul wieder in den Vordergrund zu rücken. Vor diesem Hintergrund ist auch die Unterstützung des Nordafrika-Büros der RLS zu verstehen, deren Schwerpunktthemen Geschichte, Erinnerung und Identität sind.

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