«Für mich war die ganze Aktion, der ganze Streik ein Wendepunkt. Für vieles». So erinnert Mitat Özdemir sich an die Streiktage im Sommer 1973. Der 1948 in der Türkei geborene war zur Zeit des Streiks bei Ford in Köln in den Wohnheimen des Konzerns als Sozialbetreuer tätig. Er erwähnt auch die Kraft, die nicht nur ihm der Streik für sein Leben, im Grunde bis heute, gab.
Aber sind solche Erinnerungen Teil des offiziellen Gedächtnisses der Bundesrepublik, Erinnerungen von damals «Gastarbeiter» genannten Migrant*innen? Erst recht fehlt die Erinnerung an Arbeits- und andere Kämpfe von Migrant*innen, und eine Debatte darüber, welche Wirkung und Folgen diese auf die Gesellschaft hatten und haben.
Die Tagung «Gelingende und misslingende Solidarisierungen» Anfang September in Düsseldorf widmete sich den Fragen von «Anerkennungskämpfen der Migration», von Gemeinsamkeiten und Interessenkonflikten zwischen «einheimischen» und eingewanderten Arbeiter*innen. Zum einen wurde an die stark, aber keineswegs ausschließlich migrantisch geprägten «spontanen» Streiks nicht nur des Sommers 1973 erinnert (vgl. dazu den Beitrag von Simon Goeke). Genauso ging es zum anderen um die Wirkungen dieses Engagements von Einwanderer*innen auf die Gewerkschaften (vgl. dazu die Beiträge von Nihat Öztürk und Christiane Benner). Nicht zuletzt stellt sich die Frage, inwieweit sich heute auch für aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen produktiv daran anknüpfen lässt.
Ziel war es, Themen, Zugänge und Zielgruppen zu verbinden: Historische Erinnerung und die Würdigung von Zeitzeug*innen im Austausch mit Forschenden und Interessierten; Geschichts- und Erinnerungsfragen mit Gewerkschaftsthemen; Migrationsfragen mit aktuellen Arbeits- und Klassenthemen.
Die zweitägige Veranstaltung begann am Freitagabend mit einer Begrüßung durch Nuria Cafarao und Salvador Oberhaus von der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und einem Grußwort von Andres Lara, einem spanischen Arbeiter bei Opel Bochum, der dort in den Betriebskämpfen 1972 einer der Aktivisten war. Anschließend präsentierten Mesut Bayraktar, Günfer Cölgeçen, Burçin Keskin, Lily Frank, Kutlu Yurtseven, Kaptan Bayraktar und Svenja Hauerstein die «Gastarbeiter-Monologe».
Bilder von Tag 1
Frei von Widersprüchen und Ambivalenzen ist die Geschichte der gewerkschaftlichen Migrationspolitik nie gewesen, so Nihat Öztürk, ehemaliger Bevollmächtigter und Geschäftsführer der IG Metall Düsseldorf-Neuss, in seinem Beitrag, der den zweiten Tag der Konferenz eröffnete. Schwankend zwischen einem Bekenntnis zum traditionellen Internationalismus und den Interessen ihrer alteingesessenen Mitglieder, hatten die Gewerkschaften gut dokumentierte Vorbehalte gegen die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte.
Beidem, der Solidarität ebenso wie den Vorbehalten, widmete sich Öztürk in seinem Beitrag. An dessen Ende führte er eine dritte Dimension der Einheitsgewerkschaft – neben der politisch-weltanschaulichen Pluralität und der Branchenzugehörigkeit – ein: eine «Vielfalt in der Einheit» einer ethnisch und kulturell vielfältigen Einheitsgewerkschaft.
«Wir sind alle Fremdarbeiter!» war der Beitrag von Simon Goeke, Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter für Migrationsgeschichte am Stadtmuseum München, überschrieben, in dem er eine vergleichende europäische Einordnung vornahm. Die Streiks bei Pierburg in Neuss und bei Hella in Lippstadt, bei Ford in Köln und anderswo zeigten, so Goeke, deutlich wie stark die westdeutsche Industrie auf die Migrant*innen angewiesen war und wie sehr die Gewerkschaften, obwohl sie sich früh engagierten, dieser Entwicklung immer noch hinterherhinkten. Mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 erhielten endlich alle ausländischen Beschäftigten auch die Möglichkeit in den Betriebsrat gewählt zu werden. Ihre Forderungen konnten nicht weiterhin ignoriert werden, ohne das Prinzip der universalistischen Einheitsgewerkschaft damit in Gefahr zu bringen. Die Streiks 1973 machten aber deutlich, dass das noch nicht auf allen Ebenen verstanden worden war. Gleichzeitig scheint es, führte Goeke aus, auf mehreren Ebenen simultane Entwicklungen in den europäischen Zuwanderungsräumen im Streikzyklus von 1969 bis 1973 gegeben zu haben. Viele der nationalen Gewerkschaftsverbände in Europa integrierten die Forderungen der Migrant*innen und organisierten sie nunmehr wesentlich erfolgreicher. Und viele Migrant*innen blieben aktiv und kämpften weiterhin für eine bessere Repräsentation und ein Ende der politischen Bevormundung. So wie Migration und Einwanderung zu einer europäischen Erfahrung wurde, so wurde Anfang der 1970er Jahre auch der Kampf von Migrant*innen um Gleichberechtigung und Anerkennung zu einer europäischen Erfahrung.
Bernd Jürgen Warneken, emeritierter Kulturwissenschaftler aus Tübingen, würdigte 2016 mit Fraternité! Schöne Augenblicke in der europäischen Geschichte den Streik bei Pierburg in Neuss in einer Reihe mit dem Revolutionsfest der Französischen Revolution und «Tagen der Internationale». Mit Antonia Annoussi, Petra Deiter, Zvezdana Maksimovic, Christine Cichy und Cigdem Kaya-Boztemur lasen fünf Kolleginnen, einige von ihnen Betriebsrätinnen und Vertrauensleute der IG Metall bei Pierburg sowie eine ver.di-Sekretärin, Passagen aus dem Pierburg-Kapitel; Kolleginnen, die einen je deutsch-griechischen, deutsch-polnischen, deutsch-türkischen, deutsch-spanischen und deutsch-jugoslawischen Familienbezug haben.
Bilder von Tag 2
Moderiert von Michaela Kuhnhenne von der Hans-Böckler-Stiftung ging Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall, die auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall Ende Oktober für das Amt der Ersten Vorsitzenden vorgeschlagen und kandidieren wird, kurz auf die historische Entwicklung seit den Anfängen der gewerkschaftlichen Organisierung von Arbeitsmigrant*innen ein. Im Weiteren stellte sie die Ergebnisse je einer quantitativen und qualitativen Studie des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin (BIM) vor. Die beiden Studien beschreiben eindrucksvoll die Erfolge der IG Metall bei der Organisierung von Migrant*innen und deren Vertretung in betrieblichen Mitbestimmungs- und gewerkschaftlichen Entscheidungsgremien.[1]
Im zweiten Teil ihrer Präsentation berichtete Christiane Benner über aktuell laufende und geplante Projekte zur Organisierung und Inklusion von «neuen» migrantischen Gruppen. Besonders die zielgruppenspezifische und vielfach muttersprachliche Ansprache und die Versuche der Multiplikatoren-Gewinnung in den Reihen dieser neuen Einwanderer*innen knüpfen an bewährte Methoden an, die in der IG Metall bereits seit Beginn der 1960er Jahren erprobt wurden, als der langjährige IGM-Vorsitzende Otto Brenner den jüdisch-linkssozialistischen Emigranten Max Diamant nach Deutschland zurückholte und zum ersten Leiter der «Abteilung Ausländische Arbeitnehmer» machte [2].
Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Arbeits- und Industriesoziologie in Göttingen, stellte anfangs klar, dass Solidarität zwar eine zentrale Forderung, Grundlage und versuchte Praxis der Arbeiter*innenbewegung in Geschichte und Gegenwart war und ist, erfolgreiche und stabile Solidarisierungen jedoch historisch-empirisch im Kapitalismus eher die Ausnahme als die Regel gewesen seien: Spaltung ist der Normalzustand, Einheit die Ausnahme. Die kapitalistische Globalisierung, insbesondere seit den 1990er Jahren, habe einerseits die erprobten Formen von Solidarisierungen erheblich erschwert und geschwächt, andererseits aber auch neue internationale Handlungsmöglichkeiten eröffnet. In diesem Kontext bekomme migrantische Arbeit eine zusätzliche Bedeutung. Manche Probleme gelten dabei übergreifend für «migrantische» wie «nicht-migrantische» Arbeitende, etwa der Rückgang von Tarifbindungen, Outsourcing etc. Andere Aspekte sind spezifisch für migrantische Arbeit und erschweren so eine gemeinsame Interessenvertretung, was durch eine aktive «Teile und Herrsche»-Politik in großen Konzernen gefördert werde. Trotz aller Schwierigkeiten bleibt eine Solidarisierung, gerade auch zwischen «migrantischen» und «nicht-migrantischen» Beschäftigten, aber ein richtiges und wichtiges Anliegen. Sie ist ein Ziel an sich und eröffnet, so Mayer-Ahuja, ein utopisches Potential. Als bloßer Apell wird die Solidarisierung von «Einheimischen» und «Hinzukommenden» kaum gelingen. Aufbauend auf gemeinsamen Arbeitserfahrungen und solchen aus Arbeitskonflikten besteht jedoch eine Chance zur erfolgreichen Solidarisierung.
Den Abschluss der Tagung bildete ein von Nuria Cafaro moderiertes Erzählcafé mit Zeitzeug*innen: Irina Vavitsa, ehemalige Betriebsrätin bei Hella in Lippstadt, und Dieter Braeg, ehemaliger Betriebsrat bei Pierburg, Mitat Özdemir, ehemaliger Arbeiter bei Ford und seit 1972 Sozialarbeiter, sowie Peter Bach, ehemaliger Arbeiter im Motorenwerk bei Ford und Streik-Aktivist berichteten eindrucksvoll von ihren Erfahrungen.
Damit Erfolge gelingen können, sind Solidarisierungsbedingungen entscheidend, die verbindende Kämpfe erlauben. In Neuss bei Pierburg gelang dies, bei Ford in Köln nicht. Doch sollte dieser Unterschied von gelungener und gescheiterter Solidarisierung nicht zu einer weiteren Dichotomie werden; auch aus dem Scheitern können wertvolle Schlussfolgerungen gezogen werden.
Text: Florian Weis und Bernd Hüttner
[1] Serhat Karakayali und Celia Bouali, 2021, Migrantische Aktive in der betrieblichen Mitbestimmung, Working Paper Forschungsförderung, 228: 1-52.
[2] Reiner Tosstorff, Sozialist und Gewerkschafter zwischen Russland, Deutschland und Mexiko. Max Diamant (1908-1992), in: Riccardo Altieri/ Bernd Hüttner/ Florian Weis (Hrsg.), «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten.» Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken (Band 2), Berlin 2022, S. 77ff.
Diese Dokumentation wird im Oktober um weitere Video- und Textbeiträge ergänzt.
Vorträge zum Download
Mitschnitte
Migrantische Kämpfe um Anerkennung und die Rolle der Gewerkschaften
Hoch die internationale Solidarität?
«Wir sind alle Fremdarbeiter!»
Fraternité!
Die zweitägige Tagung am 1./2. September 2023 in Düsseldorf wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW in Kooperation mit der Hans-Böckler-Stiftung, der Otto-Brenner-Stiftung, der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt, der IG Metall (Vorstandsresort Migration und Teilhabe sowie Geschäftsstelle Düsseldorf-Neuss), der German Labour History Association und dem Institut für soziale Bewegungen der Ruhruniversität Bochum durchgeführt.
Diese Dokumentation wird im Oktober um weitere Video- und Textbeiträge ergänzt.