Direkte Demokratie wagen

Die Kontrolle der staatlichen Aktivitäten wird immer mehr Mittelpunkt der Arbeit der Runden Tische. Am 8. Januar 1990 kommt es zu einer ernsten Konfrontation zwischen einer Mehrheit am zentralen Runden Tisch und der Regierung bezüglich der Auflösung des Geheimdienstes.

Im Vorfeld der Einberufung des Runden Tisches Anfang am 7. Dezember standen im Mittelpunkt des Interesses der InitiatorInnen die Punkte «Vorbereitung freier Wahlen» und «Verfassungsreform».[1] Eine Analyse der Themen der Runden Tische ab Dezember betont, dass «die Fragen der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sowie die Untersuchung von Amts- und Machtmissbrauch eine erhebliche, zum Teil dominierende Rolle» spielten.[2] Die Themen der regionalen und lokalen Runden Tische waren von den konkreten Problemlagen bestimmt – so in den nördlichen Bezirken (jetzt Mecklenburg-Vorpommern) von Fragen zur Landwirtschaft oder in der Region Leipzig-Halle-Bitterfeld von ökologischen Problemen. Verbunden war dies mit der wachsenden Bedeutung der Kontrollfunktion gegenüber den staatlichen Organen. Diese Funktionen waren von den InitiatorInnen nicht benannt worden, ergaben sich aber auch der Dynamik der Ereignisse. Auch wenn der zentrale Runde Tisch wie auch die sich an anderen Orten gründenden Runden Tische nicht repräsentativ im Sinne des Parlamentarischen war, vertraten sie sehr wirkungsvoll die «öffentliche Meinung» in all ihrer Gegensätzlichkeit, Weisheit und Beschränktheit.

Daneben bestanden auf der DDR-Ebene mehrere thematische Runde Tische:

  • Frauenpolitische Runde Tisch
  • Runder Tisch der Jugend
  • Runder Tisch des Sports
  • Militärpolitischer Runder Tisch
  • Umweltpolitischer/Grüner Runder Tisch
  • Entwicklungspolitischer Runder Tisch
  • Runder Tisch der Sorben.[3]

Schon am 21.12.1989 hatte die DDR-Regierung allen am Runden Tisch vertretenen Organisationen umfangreiche Arbeitsmöglichkeiten garantiert.

Aus der Presse im Januar 1990 lässt sich kein klares Bild seiner Tätigkeit gewinnen, zu vielfältig sind die Aktivitäten. In den meisten Darstellungen dominieren die Auflösung des MfS und mehr oder weniger begründete Angriffe auf die Regierung. Die Berichte zu den 16 Sitzungen des Gremiums zwischen dem 7. Dezember 1989 und 12. März 1990 zeigen aber, dass es tatsächlich um so gut wie alle gesellschaftlichen Bereiche ging.[4] Natürlich nutzen ambitionierte Gruppen das Forum des zentralen Runden Tisches, um sich in Vorbereitung auf die für den 6. Mai 1990 vorgesehenen Volkskammerwahlen in Stellung zu bringen. Manfred Stolpe sprach schon am 8. Januar von einem zwischen Ost und West «verzahnten Wahlkampf». Vor allem in den Minderheitenvoten zu einzelnen Beschlüssen setzen sich die in den programmatischen Debatten der neu entstehenden oder sich den neuen Bedingungen anpassenden Parteien und Organisationen der Monate Oktober bis Dezember 1989 schon sichtbaren strategischen Gegensätze fort. Insoweit ist im Januar auch schon klar, dass er keine Zukunft haben wird.

Gregor Gysi, ebenfalls Teilnehmer einer Reihe von Sitzungen des Runden Tisches, charakterisierte dessen Entwicklung folgendermaßen:

«Er trug dazu bei, den alten Repressionsapparat aufzulösen, die Öffentlichkeit politischer Prozesse herzustellen, war Kommunikationszentrum und Kontrollinstanz, beförderte die Gesetzgebung, übernahm Planungsaufgaben, sicherte die Vorbereitung freier und geheimer Wahlen und stellte so das Dach dar, unter dem sich ein wesentlicher Teil der Parteienformierung vollzog. Es gab weder ernsthafte Bemühungen, die Macht zu übernehmen, noch bestand eine echte Chance dafür.»[5]

Er opponierte, so Gysi weiter, «nicht nur gegen die in der DDR bestehenden Machtstrukturen» sondern stellte «in ihrer radikal- und basisdemokratischen Orientierung auch Traditionen bundesdeutscher Politik und Machtausübung in Frage».[6]

Allerdings ist die Angelegenheit komplizierter. Die von Gysi benannte «Parteienformierung» war bei weitem nicht so unschuldig, wie seine Beschreibung es nahelegt. Die Parteienformierung vollzog sich unter starkem Einfluss von Parteien der Alt-BRD. Spätestens mit der Schaffung der Allianz für Deutschland am 05. Februar 1990 verzichtete ein Teil des Runden Tisches faktisch auf ein von der Alt-BRD verschiedenes Gesellschaftsmodell, ganz unabhängig von den Verlautbarungen. So ist der Runde Tisch auch als Moment der Konstituierung einer neuen, dem politischen System der BRD (alt) verpflichteten Oberschicht zu verstehen. Schon in der Rede Hans Modrows auf der 14. Volkskammertagung am 11.01.1990 kommt die Spannung zwischen den Interessen und Ambitionen der verschiedenen Akteure dieser Wochen zum Ausdruck:

«Wer da meint, ein Ministerpräsident und sein Kabinett könnten unter dem Vetorecht einer politischen Gruppe arbeiten, ist zweifellos schlecht beraten. Gleiches gilt für ultimative Forderungen, wann und wo ich binnen einer Stunde zu erscheinen hätte. Und was nun die angebliche Legitimität der Regierung betrifft, ich kann mich nicht entsinnen, durch einen Staatsstreich Ministerpräsident geworden zu sein! Die allgemein anerkannte politische Verabredung besagt, daß diese Regierung — falls sie nicht aus zwingenden Gründen eher zurücktritt — bis zur Konstituierung eines am 6. Mai neugewählten Parlaments und der darauf folgenden Wahl einer neuen Regierung im Amt bleibt und tätig ist.»

Am konsequentesten vertrat die Vereinigte Linke einen radikal eigenständigen Weg. Am 03.02.1990 erklärte sie ihren Austritt aus der Regierung Modrow, nachdem der Ministerpräsident, nach der Darstellung der VL, ohne Konsultation des Runden Tisches, das Konzept «Deutschland einig Vaterland» verkündet hatte.

Gysi hebt als Bleibendes der Runden Tische die direktdemokratischen Momente hervor und formuliert entsprechende Konsequenzen für die Veränderung des gegenwärtigen politischen Systems:

«Demokratie heute bedarf neben der Qualifizierung der parlamentarischen Arbeit auch der Ergänzung durch außerparlamentarische, problem- und strukturorientierte Formen demokratischer Selbst- und Mitbestimmung. Die Spannbreite reicht dabei von der Aufnahme weiterer Formen direkter Demokratie wie Volksbefragung und Volksentscheid in das Verfassungsrecht über die Einberufung von «Runden Tischen» oder «Sachparlamenten» bis hin zur verfassungsrechtlichen Festschreibung von Bürgerbewegungen als Rechtssubjekte und damit der juristischen Aufhebung des Parteienmonopols.»[7]

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs.)


[1] Hahn, André (1998). Der Runde Tisch: das Volk und die Macht - politische Kultur im letzten Jahr der DDR, Berlin: verlag am park, S. 59

[2] ebenda S. 45

[3] ebenda S. 48

[4] Dokumentiert u.a. in Herles, Helmut/Rose, Ewald (Hrsg.) (1990). Vom Runden Tisch zum Parlament, Bonn: Bouvier, die Originalunterlagen sind abrufbar unter: www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DA3-26498/index.htm

[5] Gysi, Gregor (1998). Vorwort, in: Hahn, Andre: Der Runde Tisch: das Volk und die Macht - politische Kultur im letzten Jahr der DDR, Berlin: verlag am park, S. 7-8

[6] ebenda S. 8

[7] ebenda S. 9