Im Hamsterrad

Am 19. August 1989 rannten DDR-Bürger*innen bei einem Picknick an der Grenze zwischen Ungarn und Österreich in den Westen. Warum konnte eine Massenabstimmung mit den Füßen eine solche politische Kraft entfalten?

19. August 1989: DDR-Bürger*innen drängen sich bei Sopron in Ungarn durch das offene Gatter über die Grenze nach Österreich. Herbert Knosowski / Reuters

Eric Hobsbawn meint, dass immer noch nicht ganz klar sei, warum die „Massenabstimmung mit den Füßen zu einem derart wichtigen Bestandteil der Politik im letzten Jahrzehnt dieses [d.h. des 20.] Jahrhunderts werden konnte“.[1] Hobsbawm verweist auf Faktoren, wie Bürokratismus, das „Nicht-Wahrnehmen-Wollen“ der verlorenen Akzeptanz in den Massen durch die Führung. Allerdings sind das auch wieder erklärungsbedürftige Erscheinungen. Denn das alltägliche Leben war ja keines im permanenten aktiven oder passiven Widerstand – es sei denn, die auch heute so oft anzutreffende Gleichgültigkeit gegenüber Politik wird als Widerstand gedeutet. Für einen Großteil der Bevölkerung schloss Kritik keinesfalls gesellschaftliches Engagement aus. Und gesellschaftliches Engagement, oder auch die Beschäftigung im Partei- oder Staatsapparat, bedeutete nicht automatisch Karrierismus und Sucht der Unterdrückung anderer. Es ging ganz einfach um ein besseres Leben. Nimmt man die Bewertungen des Lebens in der DDR nach 1990 zum Ausgangspunkt, so wird immer wieder betont, dass die Gemeinschaftlichkeit am Arbeitsplatz und in anderen Vereinen oder Organisationen von den Menschen als bewahrenswertes Gut bzw. als Verlust empfunden wird. Das Individuelle und das Gesellschaftlich wurde vor allem durch Formen kollektiver Organisation (in Massenorganisationen und Arbeitskollektiven) zusammengebracht. Das politische System, das diese Gemeinschaftlichkeit absicherte, war aber das Gleiche, das die Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen beschränkte. In der herrschenden Geschichtsauffassung wird der letztgenannte Aspekt immer wieder betont – der erstgenannte spielt kaum eine Rolle. Interessant ist aber die Wechselwirkung zwischen beiden Seiten. Diese Beziehung wurde vor allem über die Massenorganisationen und die vor allem auf kommunaler Ebene gegebenen Möglichkeiten der demokratischen Beteiligung vermittelt. Selbstorganisation und „organisiert-werden“ standen hier in einem komplizierten Wechselverhältnis.

Praktisch die gesamte Bevölkerung war auf irgendeine Art und Weise in Massenorganisationen mehr oder weniger aktiv.[2] Selbst die SED war mit zuletzt über 2 Mio. Mitgliedern mehr eine Massen-, denn eine Kaderorganisation. Die Aktivitäten und die Versammlungen aller der damit verbundenen Gremien nahmen bei gesellschaftlich Aktiven einen nicht unwesentlichen Teil von Freizeit und Energie in Anspruch. Einer der großen Widersprüche des Realsozialismus bestand zwischen den vielfältigen Formen, in denen man sich gesellschaftlich engagieren konnte (und sollte) und der Unmöglichkeit, auf diesem Wege bestimmte brennende Probleme gesellschaftlich zu diskutieren und unter Abwägung verschiedener Varianten zu lösen. Die Kluft zwischen Engagement und Ergebnis wurde im Laufe der Zeit immer frustrierender. Dabei hatten einige der Organisationen durchaus auch ein großes ökonomisches Gewicht – z.B. die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) oder der Verein der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter (VKSK). Kleingärtner zu sein war eine anspruchsvolle Aufgabe – und ein volkswirtschaftlicher Faktor:

„Die inzwischen mehr als 1,5 Millionen Mitglieder der größten Freizeitorganisation unserer Republik setzen sich zum Ziel, neben rund 400 000 Tonnen Obst und Gemüse unter anderem 1,5 Milliarden Eier, 35 000 Tonnen Kaninchenfleisch, 1,5 Millionen Schlachtgänse und 6500 Tonnen Honig an den Handel zu verkaufen. Darüber hinaus erhält die Verarbeitungsindustrie rund zwölf Millionen Felle und 2400 Tonnen Wolle.“[3]

Noch im September 1989 vermerkte eine Pressemeldung, dass der Weg vieler Kleingärtner zu den Aufkaufstellen für ihre Produkte führe.

Der FDGB war ein entscheidender Faktor für die Versorgung mit Urlaubsplätzen, bei der Finanzierung von kulturellen Aktivitäten und bei der Organisation der Sozialversicherung. Und hinter diesen Aktivitäten stand tausendfaches individuelles Engagement. In den Plandiskussionen, die praktisch die gesamte Wirtschaft erfasste, wurden ökonomische Prozesse und Widersprüche diskutiert, wobei die Ergebnisse, so sie nicht den Vorstellungen der höheren Ebenen entsprachen, schlichtweg übergangen wurden. Die Wohnbezirksausschüsse der Nationalen Front (WBA) nahmen verschiedene soziale Funktionen wahr – etwa die Beurteilung der Dringlichkeit der Versorgung mit Wohnraum. Und schließlich waren Massenorganisationen, also die Gewerkschaften (FDGB), die Freie Deutsche Jugend (FDJ), der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) und der Kulturbund (KB) in der Volkskammer der DDR vertreten. So sehr dies der herrschenden Erinnerungskultur zu widersprechen scheint – in der DDR lag ein anderes politisches System „in der Luft“, auch schon vor 1989. Die Tür zu einem politischen System jenseits des bürgerlichen Parteienstaates war eigentlich geöffnet. Der Möglichkeit nach konnte ein breites Spektrum an Interessen in staatlichen Entscheidungsprozessen eingefangen werden, nur wurde diese Möglichkeit verschenkt. Diese Breite politischer Repräsentation war ab Herbst 1989 mit einer Vielzahl von Um- und Neugründungen von Vereinigungen auch einer der Ausgangspunkte für die Gestaltung des Kommunalwahlrechts 1990. Allerdings wurde diese Erfahrung im Zuge der Verhandlungen zur „deutschen Einheit“ verworfen – und auch nicht eingefordert.

Warum erschien diese Vergeudung von Engagement akzeptabel? Warum meinten und meinen viele ehemalige DDR-BürgerInnen, man habe Demokratie erst lernen müssen – wenn es doch vielleicht richtiger wäre zu sagen – man habe eine andere Demokratie unter dem Vorzeichen der Konkurrenz lernen müssen?

Hintergrund war das Verständnis von Massenorganisationen und Masseninitiativen als Instrumente der Realisierung der politischen Linie der Partei(führung), nicht als Partner bei der Bestimmung dieser Linie. Dieses Verständnis der kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Massenorganisationen als „Vorfeldorganisationen“ wurde nie überwunden (auch in der alt-BRD nicht). Selbst der Charakter der SED war durch den Gegensatz zwischen dem Anspruch als Massenorganisation (2 Mio. Mitglieder bei einer Bevölkerung von etwas mehr als 16 Mio.) und dem auf eine Avantgarde-Funktion gekennzeichnet.

Der Führungsanspruch der SED, der durch mehr oder weniger offene Eingriffe des Parteiapparates in die Angelegenheiten anderer Organisationen realisiert wurde, begünstigte Karrierismus und Scheinaktivität. Diejenigen, die ehrlich aktiv waren, sahen sich dem Druck ausgesetzt, mehr und mehr FÜR andere zu tun, verbunden mit der Anhäufung von Mitgliedschaften und Funktionen, so dass keine Möglichkeit mehr blieb, MITEINANDER etwas zu tun – und schon gar nicht, sich mit Kritik fundiert auseinanderzusetzen. Aus der eigenen Hyperaktivität und Bemühtheit leitete sich, menschlich verständlich, ein Anspruch und ein Bedürfnis ab, richtig zu handeln, nahm das Handeln paternalistische Züge an. Die Engagierten sahen sich in einem Hamsterrad: das deklarierte, und tatsächlich originär sozialistisch-kommunistische Ziel, die breiteste Teilnahme der Massen an den Angelegenheiten der Gesellschaft und des Staates zu erreichen, wurde unter diesen Bedingungen unrealisierbar. Schließlich gerieten auch sie in den Zwiespalt, auszusteigen (sich zu „privatisieren“ oder die DDR zu verlassen) oder in offene Opposition zu den bestehenden Verhältnissen zu treten. Zwei neue Massenbewegungen entstanden – wenn auch die Motive der Beteiligten im Detail unterschiedlich waren: die der Ausreise und die der ab September beginnenden massenhaften Proteste.

Eva Kellner untersuchte Anfang der 1990er den Lebensweg zweier Frauen, beide Mitte der 1930er Jahre geboren, engagiert im Berufsleben, in bestimmten Punkten kritisch gegenüber der DDR, generell jedoch loyal. Das Ergebnis ihrer Untersuchung betont dieses Problem:

„Diese Oberflächenerscheinungen und Alltagserfahrungen des Lebens in der DDR deutet auf einen tiefen inneren Widerspruch dieses Systems hin, nicht auf den zentralen vielleicht, aber auf einen, der ihm möglicherweise den letzten Todesstoß versetzt hat: auf die politische Distanz der Herrschenden zur eigenen Bevölkerung, auf den Mangel an Vertrauen in die Loyalität des Bürgers… Der Widerspruch zwischen Individuum und System hat noch viel tiefer gelegen als nur in der Sphäre des täglichen Umgangs, als nur in der „Behandlung“ der Menschen durch die Führung der Gesellschaft, als nur im Subjektiven. Er hat seine objektiven Wurzeln in der vertikalen Struktur der Gesellschaft, in einer Struktur, die in allen Bereichen, unabhängig von Wünschen und Wollen, letztlich nur rigiden Zentralismus in der Leitung der entscheidenden Lebensprozesse hervorbringen konnte. Dieser politische Zentralismus hat, … aktives Gestalten, sich einbringen, Einfluß nehmen in der Gesellschaft usw. von oben nach unten möglich gemacht, nicht auch das Umgekehrte.“[4]

Die Inaktiven, MitläuferInnen, KritikerInnen und GegnerInnen des sozialistischen Ansatzes konnten sich in ihren Positionen bestätigt sehen, die Engagierten sahen sich diskreditiert. Ihr Sozialprestige war ausgesprochen gering. Aber warum vollzog sich diese Absonderung des Apparates – stammten doch viele der MitarbeiterInnen aus der Reihe der Aktiven in den verschiedenen Massenorganisationen?

Wenn man aus historischen Prozessen etwas Bleibendes destillieren will, dann sind es solche Fragen nach auf den ersten Blick unerklärlichen Wendungen und nach scheinbar unvereinbaren Verhaltensweisen von Menschen. Bisher stehen alle Erklärungsversuche, auch die der linken antistalinistischen Kritik, diesen Phänomenen hilflos gegenüber. Trotz der Erfahrungen des Realsozialismus scheinen linke Organisationen der Dominanz der parlamentarischen Körperschaften gegenüber der Partei, der Apparate gegenüber den Mitgliedern und Tendenzen zum Personenkult (unter dem Deckmantel der Bedeutung der Medienpräsenz) nicht entgehen zu können.

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs.)


[1] Hobsbawm, Eric (2019). Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt: wbg Theiss in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), S. 568

[2] Adolphi, Wolfram (2018). Massenbewegung, Massenorganisation Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.):, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus Bd. 9/I Maschinerie bis Mitbestimmung, 35–54, abrufbar unter: www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php

[3] ND (1989). VKSK schlägt erstmals für die Wahlen Kandidaten vor, in: Neues Deutschland vom 10.02.1989, 2

[4] Kellner, Eva (1997). Lebensläufe in der DDR und was sie uns verraten an Motiven und Werten der handelnden Menschen, in: Elm, Ludwig/Keller, Dietmar/Mocek, Reinhard (Hrsg.): Ansichten zur Geschichte der DDR Bd. VII - Alltag I, Ansichten zur Geschichte der DDR. Bonn, Berlin: Verlag Matthias Kirchner, 13–44, S. 34-37