Kollisionen

Das politische Sommertheater im Jahr 1990 sind die Auseinandersetzungen über das Wahlrecht der ersten gesamtdeutschen Wahlen. Die SPD konnte ihre Vorstellungen nicht durchsetzen, drohte mit dem Austritt aus der Regierung, beschließt aber am 27.07. doch den Verbleib. (zur Chronik)

Die Regierung der DDR und die Regierungsparteien boten im Sommer 1990 ein eigentümliches Bild. Nimmt man die Verheißungen des Herbst 1989 zum Ausgangspunkt, so wäre eine Fülle demokratischer Innovationen zu erwarten gewesen. Das Thema war aber schon mit den Vereinbarungen des Vertrages zur Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom 18. Mai abgeschlossen. Die westdeutsche Seite hatte schon den 2. Dezember als Wahltag für das neue gesamtdeutsche Parlament festgelegt. Was also tun, wenn man als Regierung sowohl in zeitlicher, als auch in sachlicher Hinsicht praktisch keinen Gestaltungsspielraum mehr hat? Man konzentriert sich darauf, sich von den anderen Parteien mit Blick auf das absehbar Kommende – also einer subalternen Stellung in einer vergrößerten BRD – abzusetzen sowie einflussreiche Partner für die Zukunft zu finden. Es boten sich Themen an, die zwar die Richtung der Entwicklung nicht mehr beeinflussen würden, dafür aber propagandistische Wirkungen entfalten könnten. Solche Themen waren z.B. das Datum des Beitritts oder die Beschimpfung der politischen Kontrahenten, vornehmlich der PDS. Die Forderung von SPD und Liberalen, im gesamten Gebiet der neuen Bundesrepublik die 5%-Hürde gelten zu lassen, richtete sich, und so wurde es auch offen gesagt, gegen die PDS. Der Kritik seitens der früheren Bürgerbewegungen, die ja auch kaum Möglichkeiten hätten, in den neuen Bundestag einzuziehen, versuchte die SPD mit dem Angebot der Kandidatur auf ihren Listen zu begegnen. Von einigen Fragen, etwa der nach der Wahrung von Eigentumsrechten der noch-DDR-BürgerInnen oder der Anerkennung von Berufsabschlüssen, hing aber auch die politische Zukunft der sich nun für neue Verhältnisse profilierenden PolitikerInnen ab.

In dieser unübersichtlichen Situation vollzogen sich auch Umgruppierungen in den einzelnen Parteien selbst. Mehrere prominente Mitglieder der Deutschen Sozialen Union verlassen die Partei. Dazu gehören auch Hans-Wilhelm Ebeling, Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Innenminister Peter-Michael Diestel. In der Bauernpartei und im Demokratischen Aufbruch wird über die Fusion mit der CDU diskutiert. Kurt Wünsche vom Bund Freier Demokraten trat ebenfalls aus seiner Partei aus, blieb aber Justizminister. Der Minister für Regionale und Kommunale Angelegenheiten Manfred Preiß und Axel Viehweger, Minister für Bauwesen, Städtebau und Wohnungswesen, verblieben trotz des Austritts des BFD aus der Regierung in ihren Ämtern. Vom Ausland aus wird diese Entwicklung mit Verwunderung betrachtet. Der Züricher Tagesanzeiger wird in einer Pressemeldung so zitiert:

«Eine ‚totale Kapitulation‘ der DDR im deutschdeutschen Vereinigungsprozeß konstatierte der Züricher «Tages-Anzeiger» am Wochenende in einem Leitartikel. Spätestens seit dem Einzug der D-Mark sei die DDR zu einem ‚Anhängsel der Bundesrepublik Deutschland verkommen, deren Berater im Hintergrund in allen wichtigen DDR-Ministerien die Fäden ziehen ... Tatsächlich ist es der neuen Regierung von Anfang an nicht gelungen, im DDR-Chaos Ordnung zu schaffen ... Die widersprüchlichen Entscheide und Aussagen vieler Minister und die kabarettreifen Vorstellungen des Parlamentes verstärken im Gegenteil das allgemeine Durcheinander. Dazu kommt, daß sich die Volkskammer, fast wie in alten Zeiten, zum Kopfnicker-Gremium entwickelt hat.»

Während die Regierungsparteien auf eine Vereinigung mit ihren westdeutschen Entsprechungen setzten, boten die westdeutschen Grünen VertreterInnen des ehemaligen DDR-Bürgerbewegungen Plätze auf ihren Listen an. Ende Juli entstand dann die Linke Liste/PDS als Personenbündnis für die Bundestagswahlen 1990.

Abseits dieser parlamentarisch geprägten Auseinandersetzungen spitzten sich die Konflikte auch auf anderen Feldern zu. Dazu gehörte vor allem auch die Frage nach der Stellung der Frau in der vergrößerten Bundesrepublik. Die Gegner der in der DDR bestehenden Fristenregelung verstärkten ihre bereits seit Monaten laufenden Angriffe, so auch im Rahmen der Diskussion um die Berliner Verfassung. Der Unabhängige Frauenverband konstatierte, dass Gleichstellungsstellen bereits wieder beseitigt oder «vollgepackt mit weiteren Bereichen wie Behinderte, Ausländer, Soziales» zu «Alibiämtern» verkommen würden.

Auch auf internationaler Ebene ist die Neugruppierung von Kräften und Interessen in vollem Gange. Die UdSSR befindet sich im fortschreitenden Zerfall. Auch die KPdSU selbst ist in sich tief gespalten. So ist es nicht verwunderlich, dass Michail Gorbatschow Mitte Juli schließlich die NATO-Mitgliedschaft der neuen BRD akzeptieren musste.

Jenseits der Hoffnungen auf die Aufgabe von Feindbildern erklärt die CSU genau in diesem Moment:

«In einem Dringlichkeitsantrag bezeichnete der CSU-Parteitag die Anerkennung der Westgrenze Polens durch den Bundestag als ‚schmerzlich, aber unvermeidbar‘. Wenn jedoch in einem zusammenwachsenden Europa die Grenzen immer mehr an Bedeutung verlören, müsse auch eine Rückkehr der Deutschen in ihre Heimat möglich sein.»

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs)