Machtvakuum

Am 9. Oktober 1989 demonstrieren 70.000 Menschen in Leipzig für eine demokratische Erneuerung der DDR, staatliche Gewaltanwendung blieb diesmal aus. Das machte den Weg frei für die Entstehung einer Massenbewegung gegen das bisherige politische System.

Die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober spiegelten die ganze Widersprüchlichkeit der Entwicklung wieder. Die Präsenz einer großen Zahl ausländischer Delegationen zeigt die Rolle der DDR als Vermittlerin und solidarische Partnerin in vielen Konflikten der Zeit. Es gelingt ein letztes Mal, wenn offensichtlich auch schon unter Schwierigkeiten, zehntausende Mitglieder der FDJ für einen Fackelzug zu Ehren der DDR zu mobilisieren. Die NVA zeigt sich auf der Parade diszipliniert und der Partei- und Staatsführung verpflichtet. Aber auf der Manifestation wird auch nach Gorbatschow gerufen – eine deutliche Ansage, dass der Kurs der DDR-Führung nicht mehr mitgetragen wird und Reformen verlangt werden. Wenige Meter neben dem Ort der Feierlichkeiten kommt es zu gewalttätigen Übergriffen der Sicherheitskräfte auf Gegen-Demonstranten. Die nächsten Wochen werden die (zeitweise) Vereinigung der sich hier zeigenden Strömungen bringen.

Vorgehen gegen Demonstranten am 7. Oktober 1989 in Berlin. CC BY-SA 3.0, Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0924-010 (ADN / Robert Roeske)

Während die Idee einer anderen DDR mehr und mehr Menschen, unabhängig von ihrer bisherigen politischen Orientierung ergreift, verbinden sich die verschiedenen Projekte zur Schaffung neuer politischer Organisationen schon mit weiterreichenden Überlegungen strategischer Natur. Im Mittelpunkt steht vor allem die Forderung nach der Durchsetzung bürgerlicher Freiheitsrechte, wie sie sich etwa in einer Gemeinsamen Erklärung verschiedener Oppositionsgruppen vom 4. Oktober widerspiegelt. Konsens ist auch, vielleicht verblüffend, die Wiedereinführung der Länder. Daneben gewinnen aber andere Fragen zunehmend an Gewicht – die Frage des Verhältnisses zur BRD, die nach der Rolle von Markt und Plan, nach dem sozialistischen Eigentum, nach der Rolle der Gewerkschaften, nach der Zukunft von Sozialleistungen, Subventionspolitik und Preisen. Im Zeitraum weniger Wochen kommen alle Probleme in Gesellschaft, Wirtschaft, im Sozialen, in der Kultur usw. in der Presse zur Sprache. In vielen Veranstaltungen diskutierten BürgerInnen, Mitglieder verschiedener Parteien, Parteilose über die Zukunft des Landes.[i] In vielen Orten kommt es immer wieder zu Demonstrationen.

Auf der programmatischen Ebene bleiben schon hier rätesozialistische Vorstellungen, wie sie die Vereinigte Linke in ihren Mindestanforderungen für die Gestaltung einer freien sozialistischen Gesellschaft in der DDR im September formuliert hatte, in der Minderheit. Die Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP) sprach sich schon Anfang Oktober in ihren „Grundpositionen zur Erarbeitung des Parteiprogramms“ für eine „ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft mit demokratischer Kontrolle wirtschaftlicher Macht“ aus und gibt damit die Richtung der Diskussion in den meisten der entstehenden oder sich neu orientierenden Parteien und Vereinigungen vor. Verfolgt man heute die Diskussionen vom Oktober bis in den Dezember, so wird die Absage nicht nur an staatliches, sondern überhaupt gesellschaftliches Eigentum immer stärker, die Frage nach der Zukunft der Planung immer schwächer, der Gesichtspunkt der Selbstständigkeit der DDR wird erst mit dem Gedanken einer Vertragsgemeinschaft oder Konföderation zurückgenommen, bis die Forderung des Anschlusses dominant wird. Die Blockparteien begannen sich immer schneller von der SED abzusetzen und die eigenen Interessen ihrer Klientel zu artikulieren – anfangs noch unter dem Gesichtspunkt eines sozialistischen Projektes, dann zunehmend auf einen marktwirtschaftlichen Kurs einschwenkend. So bezeichnet sich die CDU in einem Positionspapier, das am 28.10.89 in der „Neuen Zeit“ veröffentlicht wurde, noch als „Partei der DDR“ und „Partei des Sozialismus“. Die Bauernpartei (DBD) unterbreitete zwei Tage zuvor Vorschläge zu einer Wirtschaftsreform, die auf die Verbindung von Planung und Markt orientierten (Bauern-Echo Nr. 252/1989 S. 3) Zu dieser Zeit – also bis Ende November – knüpften die diskutierten Konzepte an Debatten an, die auch an Hochschulen und Instituten bezüglich der Reform des Wirtschaftsmechanismus geführt wurden und die auf eine bessere Verknüpfung von Plan und Markt orientierten. Es war vor allem die tiefgehende politische Diskreditierung von Staat und SED und aller damit zusammenhängenden Institutionen und Personen, die diese Debatten ins Leere laufen ließen.

Mehr und mehr wurde das von der BRD aufgebaute Bild einer sozialen Marktwirtschaft (nicht ihre Realität) zum Subtext politischer Programmatik. Eine am 14. Dezember gegründete „Fortschrittliche Volkspartei“ erklärte, dass ihr Hauptziel ein Wahlbündnis aller Kräfte der DDR sei, die „weitere Experimente mit Modellen sozialistischer Planwirtschaft ablehnen“ und trat für die Einheit Deutschlands ein. Nur eineinhalb Monate später wird die „Allianz für Deutschland“ gegründet, die die Volkskammerwahlen im März 1990 gewinnt und dann das Ende der DDR maßgeblich gestaltet.

Angesichts dieser Verschiebungen erscheint die Entmachtung Honeckers am 17. Oktober fast schon marginal. In einer Sitzung des Politbüros stellte Willi Stoph den Antrag, Honecker von seinen Funktionen abzulösen. Dem waren geheime Gespräche zwischen verschiedenen Mitgliedern des Politbüros vorausgegangen – es war letztlich eine Verschwörung, keine offene Diskussion, die zum Sturz Honeckers führte.[ii] Allerdings wurde die von Honecker verfolgte Linie durch keine grundlegend neue ersetzt. Damit war der Misserfolg vorprogrammiert. Die Zeit bis zum Rücktritt der Regierung Stoph am 7. November wird daher gelegentlich auch als Machtvakuum charakterisiert, oder, wie Hans Modrow schreibt: „Wir waren alle in dieser Situation überfordert, nicht nur Krenz.“[iii]


[i] Die Atmosphäre dokumentiert sehr gut: Lühr, H.-P. u.a. (1990). Die wirkliche Bewegung. September/November 1989: Wir sind das Volk. Hoffnung `89 (2 Teile), Halle (Saale)/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag

[ii] Vgl. zum Verlauf der Ereignisse Hertle, Hans-Hermann (Hrsg.) (2014). Das Ende der SED: die letzten Tage des Zentralkomitees 6., durchges. u. aktual. Aufl., Berlin: Links, S. 49ff.

[iii] Dürkop, Oliver/Gehler, Michael/Modrow, Hans (Hrsg.) (2018). In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, Innsbruck Wien Bozen: StudienVerlag, S. 203.