Retten, was zu retten ist

Am 6. März 1990 verabschiedete die Volkskammer eine Reihe von Gesetzen, die bis heute viele Ostdeutsche ihre Bedeutung behalten haben. Forderungen des Runden Tisches entsprechend wurde ein Gesetzespaket zum Schutz der Eigentums-, Mieter- und Nutzerrechte der DDR-BürgerInnen verabschiedet. Mit der Gründung der Treuhandanstalt und weiteren Beschlüssen wurde gleichzeitig der Weg zur Privatisierung der DDR-Wirtschaft freigemacht.

Am 1. März gab die Regierung der DDR eine Erklärung zur Eigentumsfrage[1] ab, in der der Schutz der Eigentums-, Mieter- und Nutzerrechte der DDR-BürgerInnen gefordert wurde. Gleiches sollte für die Ergebnisse der Bodenreform gelten. In den Darstellungen wird oft unterschlagen, dass diese Erklärung von allen MinisterInnen getragen wurde. Nach der Veröffentlichung wurde durch BRD-Medien behauptet, dass die Erklärung ein Alleingang Modrows gewesen sei; und in der Chronik der Bundesstiftung Aufarbeitung kommt diese, für viele Menschen bedeutsame, Episode nicht vor. Die Bodenfrage war brisant; sie konnte DDR-BürgerInnen völlig unabhängig von ihrer politischen Position schmerzhaft treffen. Auch beinharte EinheitsvertreterInnen wussten, dass sie ohne ein klares Bekenntnis zu den Interessen der DDR-BürgerInnen in dieser Frage schnell an Zustimmung verlieren würden – und sicher waren viele von ihnen auch potenzielle Betroffene einer neuen Enteignungswelle – diesmal von der anderen Seite. Die Eigentumsfrage hatte aber auch eine viel weitergehende Dimension. Hans Modrow sagt dazu:

«Warum war ich am 1. März dafür, dass wir in unserer Regierung eine Entscheidung treffen, dass die Enteignungen, von der sowjetischen Militäradministration von 1945 bis 1949 getroffen, rechtens bleiben? Wenn das Unrecht war, ist die Rote Armee eine Räuberbande. Die kam und hat Leute enteignet und dann geht sie nach Hause. Die eine Siegermacht ist die Räuberbande, die drei anderen nicht? … Ich bin immer von der Frage ausgegangen, wenn die Bodenreform einmal nicht mehr gültig ist: ‚Was ist dann mit Potsdam und mit den Übersiedlungen?‘ Ich hatte Boden bei den Polen oder bei den Tschechen, die müssen mit das geben, wenn ich mein Bodenreformland zurückgeben muss… Wir waren in einem Denken, welches nicht alleine nur die deutsch-deutschen Beziehungen angeht. Wir waren in einem Denken, das einen anderen Rahmen setzte…»[2]

Ende März unterstützte die Sowjetunion diese Position Modrows ausdrücklich.

Es ist eine Binsenweisheit, dass die viereinhalb Jahrzehnte seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Eigentumsverhältnisse auf dem Gebiet der DDR tiefgehend umgewälzt hatten. Das betraf natürlich an erster Stelle die Wirtschaft: Die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher auf der Grundlage des Volksentscheides in Sachsen 1946, Enteignungen durch die sowjetische Besatzungsmacht, die Bodenreform, weitere Enteignungen wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Straftaten und schließlich die Umwandlung von halbstaatlichen und privaten Betrieben im Jahr 1972 waren Etappen dieser großen Umbrüche. Aber auch im Alltagsleben spielte die Eigentumsfrage eine Rolle. Eigenheime, Wochenendgrundstücke und Schrebergärten waren zum Teil auf Grundstücken gebaut, die durch Enteignungen oder Ankauf in staatlichen Besitz gelangt waren. Was würde passieren, wenn ehemalige EigentümerInnen nun im neuen Deutschland ihre Ansprüche geltend machen würden?

Die Sitzungen des Zentralen Runden Tisches am 19. und am 26. Februar hatten sich ausführlicher mit den Eigentumsfragen beschäftigt. In einem Material der Arbeitsgruppe Wirtschaft werden «unverzügliche Gesetzesinitiativen» und die Einbeziehung von Schritten «zum Erhalt der Existenz und des Eigentums der landwirtschaftlichen Produzenten aller Eigentumsformen» in die deutsch-deutschen Verhandlungen gefordert. Es geht u.a. um die «Sicherung der Ergebnisse der Bodenreform und damit des privaten Eigentums der Genossenschaftsbauern und -gärtner an Grund und Boden als deren Hauptproduktionsmittel» und die «Sicherung der Nutzungsrechte der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter einschließlich Wochenendsiedler an Grund und Boden». Der Runde Tisch erzielte dazu zwar keine «konsensfähige Erklärung», aber die Materialien und Standpunkte der Arbeitsgruppe Wirtschaft und der TeilnehmerInnen des Runden Tisches wurden zur Berücksichtigung an das Präsidium der Volkskammer übergeben.[3] In der Stellungnahme des Runden Tisches zu einer Erklärung Modrows zu den Ergebnissen seines Besuches in der BRD beauftragte dieser die Regierung, in den Verhandlungen «die Eigentumsrechte von Bürgern der DDR an Grund, Boden und Gebäuden zu gewährleisten.»[4] Diesen partei- und strömungsübergreifenden Forderungen wurde wenige Wochen später durch ein Gesetzespaket Genüge getan: die LPG-Gesetze[5] und das Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude («Modrow-Gesetz»)[6], auf dessen Grundlage der Kauf von Immobilien durch Gewerbetreibende und Privatpersonen (Eigenheime, Gärten und Erholungsgrundstücke) möglich wurde.

Ein zweites Forderungspaket zu Eigentumsfragen wurde auf der 14. Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 26. Februar verabschiedet. Das betraf die «Umwandlung der Rechtsform volkseigener Betriebe».[7] Der Runde Tisch forderte Regierung und Volkskammer auf, die diesbezüglichen Arbeiten zu beschleunigen, wobei die «Rechte und Besitzstände der Bürger der DDR» dabei gesichert werden müssten.[8] Bereits am 12. Februar war der Vorschlag der Schaffung einer «Kapital-Holding-Treuhandgesellschaft» eingebracht worden, auf den sich mehrere TeilnehmerInnen des Runden Tisches auch bezogen. Dass die Betriebe zu privatisieren sind war kein Streitpunkt. Quer zu dieser Grundintention lag die gleichzeitig geäußerte Idee, an die DDR-Bürger Anteilscheine zu vergeben und sie an den Kapitalerträgen in der einen oder anderen Form Anteil haben zu lassen. Ob das wirklich ernst gemeint war, sei dahingestellt – das Agieren der Parteien der ab 18. März dann herrschenden «Großen Koalition» lässt jedenfalls Zweifel aufkommen.

Davon abgesehen erfüllte die Modrow-Regierung auch diese Aufforderung des Zentralen Runden Tisches. Am 8. März wurden im Gesetzblatt der DDR gemeinsam der Beschluss zur Gründung der Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Treuhandanstalt) und die Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften vom 1. März 1990 veröffentlicht. [9] Wenige Tage später, am 6. und 7. März, wurden das Gewerbegesetz[10] und das Gesetz über die Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen und über Unternehmensbeteiligungen[11] verabschiedet. Bereits am 25. Januar war die Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung in der DDR[12] erlassen worden. Damit waren Anfang März, noch vor den Volkskammerwahlen, wirtschaftspolitisch die Weichen gestellt. Planwirtschaftliche Ansätze waren getilgt, wie es den Intentionen der Mehrheit am Runden Tisch entsprach. Noch schützte das Arbeitsgesetzbuch der DDR und das neu erlassene Gewerkschaftsgesetz die Beschäftigten. Schon am 11.03.90 erklärte aber der Geschäftsführer der DDR-SPD Ibrahim Böhme:

«Das Gewerkschaftsgesetz werden wir nach der Wahl als erstes zur Disposition stellen. Das Recht auf Arbeit in der Sozialcharta und das Aussperrungsverbot halte ich für unattraktiv und investitionshemmend.»[13]

In der nicht sehr umfangreichen Literatur zur Wirtschaftspolitik der Modrow-Regierung finden sich eigentümliche Deutungen dieser Aktivitäten, die, und das sollte immer wieder betont werden, auf Forderungen des Zentralen Runden Tisches zurückgingen. Schon vor diesem Hintergrund ist das wirtschaftspolitische Handeln der Modrow-Regierung keinesfalls als Versuch eines «dritten Weges», des «Machterhaltes» der SED bzw. SED/PDS oder der Verschiebung von Vermögen zu deuten. Dabei wird der SED/PDS ab Dezember eine Handlungsfähigkeit zugeschrieben, die sie nicht mehr hatte. Die Netzwerke, aus denen sich in den Folgemonaten die Leitungskader in Unternehmen, im Staatsapparat oder in der Treuhandanstalt rekrutieren, hatten sich bereits von der Partei gelöst oder lösten sich in diesem Prozess von ihr und orientierten sich zu einem erheblichen Teil politisch neu. Wir können also bestenfalls die Prozesse auf dieser individuellen Ebene als vorweggenommene Unterwerfung unter und die Anpassung an das absehbare neue System interpretieren.[14] Generell sind diese Analysen vor allem aus dem Blickwinkel der Rechtfertigung der in den Folgejahren ablaufenden Prozesse geschrieben, mithin hochideologisch. Die Bewertung des Handelns der Modrow-Regierung wird dabei gelegentlich als «fehlerhaft», weil sich nicht von vornherein der «marktwirtschaftlichen Vernunft» unterwerfend, charakterisiert, verbunden mit einer Idealisierung des bundesdeutschen Modells.

(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs)


[1] Regierung der DDR (1990). Erklärung der Regierung der DDR zu den Eigentumsverhältnissen (1. März 1990), in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hrsg.): Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III/Band 8a - 1990, Bonn: Deutscher Bundes-Verlag, 131–133.

[2] Dürkop, Oliver/Gehler, Michael/Modrow, Hans (Hrsg.) (2018). In Verantwortung: Hans Modrow und der deutsche Umbruch 1989/90, Innsbruck Wien Bozen: StudienVerlag, S. 302f.

[3] Herles, Helmut/Rose, Ewald (Hrsg.) (1990). Zur weiteren Entwicklung der Landwirtschaft, in: Vom Runden Tisch zum Parlament, Bouvier-Forum. Bonn: Bouvier, 172–184, S. 175 abrufbar unter: http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DA3-26498/index.htm

[4] Herles, Helmut/Rose, Ewald (Hrsg.) (1990). Stellungnahme zur Erklärung von Ministerpräsident Dr. Modrow, in: Vom Runden Tisch zum Parlament, Bouvier-Forum. Bonn: Bouvier, 166–172, S. 169, abrufbar unter: www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DA3-26498/index.htm

[5] Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften - LPG-Gesetz -. Vom 6. März 1990; Gesetze über die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform. Vom 6. März 1990; Gesetz über die Übertragung volkseigener landwirtschaftlicher Nutzflächen in das Eigentum von LPG vom 6. März 1990. In: Gbl. der DDR Teil 1 Nr. 17

[6] Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude vom 7. März 1990 Gbl. der DDR Teil 1 Nr. 18

[7] Herles, Helmut/Rose, Ewald (Hrsg.) (1990). Zur Umwandlung der Rechtsform volkseigener Betriebe, in: Vom Runden Tisch zum Parlament, Bouvier-Forum. Bonn: Bouvier, 222–237, abrufbar unter: www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DA3-26498/index.htm

[8] Herles, Helmut/Rose, Ewald (Hrsg.) (1990). Zur Umwandlung der Rechtsform volkseigener Betriebe, in: Vom Runden Tisch zum Parlament, Bouvier-Forum. Bonn: Bouvier, 222–237, S. 222; abrufbar unter: http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DA3-26498/index.htm

[9] Gbl. der DDR Teil 1 Nr. 14 vom 8. März 1990, S. 107f.

[10] Gbl. der DDR Teil 1 Nr 17 vom 16. März 1990, S. S. 138-140.

[11] Gbl. der DDR Teil 1 Nr 17 vom 16. März 1990, S. 141-144.

[12] Gbl. der DDR Teil 1 Nr. 4 vom 30. Januar 1990, S. 16-18.

[13] Pro und contra freies Unternehmertum, Neues Deutschland vom 12.03.1990, S. 5.

[14] Zu der westdeutsch geprägten Interpretation vgl. Overmann, Marcus/Heering, Walter/Baron, Udo (1998). Zwischen Reformdruck und Machtsicherungsstrategien: zur Wirtschaftspolitik der Regierung Modrow, Hagen: ISL-Verl.