Zwei Fragen
Am 7. Dezember konstituierte sich unter Vermittlung der Kirche der Runde Tisch. Die DDR-Gesellschaft gab sich damit ein anderes politisches System, die führende Rolle der SED endete.
Anfang Dezember 1989 sind zwei Fragen auf das engste verknüpft: „Ist eine andere Demokratie möglich“ und „Ist eine andere Partei möglich“. Obwohl die Zahl der Austritte rasant steigt ist die SED immer noch eine große Partei und viele ihrer Mitglieder teilen die Forderung nach einer Demokratisierung des politischen Systems. In der Bevölkerung ist, anders als heute suggeriert, die Idee einer eigenständigen Entwicklung der DDR immer noch präsent, wenn auch als starke Minderheitenmeinung. Die neue Opposition ist hinsichtlich der Zukunft der DDR bereits gespalten. Es musste also eine Form gefunden werden, in der diese widersprüchlichen Tendenzen zu zeitweiligen Kompromissen geführt werden konnten. Die Regierung Modrow und die Volkskammer konnten diese Funktion nur begrenzt erfüllen. Es war etwas Anderes nötig.
Ist eine andere Demokratie möglich?
Dieses Andere entstand mit den Runden Tischen. Es ist bezeichnend für die Situation, dass schon in ihrer Entstehungsphase über die Autorenschaft gestritten wurde. In Reaktion auf der Aussage von Egon Krenz, das Politbüro der SED habe die Einrichtung eines Runden Tisches vorgeschlagen reklamierte „Demokratie jetzt“ die Idee für sich. In der Führung der SED vollzog sich nach dem 4.11. eine Positionsveränderung dahingehend, dass innerhalb weniger Wochen die „Betroffenheit“ über die Großdemonstration in Berlin (so Egon Krenz in einem Schreiben an die Mitglieder des Politbüros und die Abteilungsleiter des ZK) durch das Bekenntnis zu Runden Tischen abgelöst wurde. Am 22.11. wird den Bezirks- und Kreissekretären in einem Fernschreiben mitgeteilt, dass das Politbüro die Zeit für gekommen halte, dass sich „die in der Koalitionsregierung vereinten politischen Kräfte des Landes an einem „Runden Tisch“ zusammenfinden.“[1] Wichtiger dürfte sein, dass die Form an vielen Stellen gleichzeitig, schlichtweg aus der Fragilität der Kräfteverhältnisse entstand. Runde Tische wurden an vielen Orten und auf vielen Ebenen eingerichtet.
Die Tätigkeit des Zentralen Runden Tisches (ursprünglich Rundtischgespräch) ist ausführlich und nachvollziehbar an den im Internet zugänglichen Akten bzw. in anderen Publikationen dokumentiert.[2] Oft wird suggeriert, die Runden Tische seien in erster Linie ein Schritt zur deutschen Einheit gewesen. Auf die dezentralen Tische kann das schon des Gegenstands wegen, jenseits der Intentionen der Beteiligten, nicht zutreffen. Auch für den Zentralen Runden Tisch ist das anzuzweifeln. Vor allem ab Januar 1990 wird er bei der Diskussion um eine neue Verfassung für eine neue DDR, bei der Bestimmung von Grundlinien verschiedener Politikbereiche und bei der Abwicklung des Ministeriums für Staatssicherheit eine wichtige Rolle spielen. Schon im Februar wird sein Gewicht immer geringer. Lediglich in Bezug auf dem Umgang mit dem ehemaligen DDR-Geheimdienst bleibt er für die sich herausbildende neue Oberschicht und die bundesdeutsche Seite von Interesse.
Neben den immer schärfer werdenden Auseinandersetzungen um die Auflösung MfS wird ab November mit wachsender Vehemenz die Frage nach Privilegien und Amtsmissbrauch von SED-Kadern und Funktionären anderer Organisationen gestellt. Befeuert wird dies durch Medienberichte über die exklusiven Lebensbedingungen SED-Funktionären in Wandlitz. Dort war für die führenden Funktionäre ein eigenes Wohngebiet mit entsprechender Infrastruktur und privilegierter Versorgung geschaffen worden. Die Führung der SED beantwortet diesbezügliche Fragen nur zögerlich, was zu zunehmender Kritik in Partei und Gesellschaft führt. Eine grundlegende Reform der Partei wird zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die Erneuerung der DDR. Demokratisierung der Gesellschaft UND der Partei müssen zusammenlaufen. Roland Wötzel, damals ein entscheidender SED-Akteur in Leipzig informierte in einem Telefongespräch, dass die Empörung in der Partei groß sei, er auch aufgefordert wurde, sich von den aufgedeckten Praktiken zu distanzieren. Ohne diese Distanzierung sei der für Leipzig geplante Runde Tisch kaum durchzuführen.[3]
Ist eine andere Partei möglich?
Seit November, viel zu spät, wächst der Druck seitens der Parteimitglieder auf die Parteiführung, einen konsequenten Erneuerungsweg einzuschlagen. Trotz der Verluste an Mitgliedern und eines sich allmählich auflösenden Parteiapparates ist die Partei nach wie vor ein Machtfaktor. Allerdings beginnen sich die Türen zu den wesentlichen Entscheidungsprozessen zu schließen – die Modrow-Regierung ist eine Koalitionsregierung und die Exekutive löst sich dementsprechend von den alten Parteibindungen. SED und Staat müssen entflochten werden.
Die wachsende Kritik, die zunehmenden Proteste und der anhaltende Vertrauensverlust zeigen, dass eine bloße inhaltliche Neubestimmung, wie sie auf der 10. Tagung des ZK (8. bis 10. November) versucht wird, nicht ausreicht. Es ist auch eine grundlegende strukturelle Erneuerung notwendig. Es geht um eine «Rückeroberung der Partei» durch die Mitglieder, wie es von der „WF-Plattform“ formuliert wird. Diese Plattform ist eines von verschiedenen Projekten, mit denen Mitglieder der Partei versuchten, einen Kurswechsel zu erzwingen. In einem Interview wird folgende Charakteristik gegeben:
«Es haben sich da Genossen zusammengefunden aus Sorge um die Partei und die sich einig sind: Wir müssen etwas zur Vorbereitung des Parteitages tun. Es gibt zu wenig Konzeptionen, Thesen, die aber diskutiert werden müßten. Wir, das sind Arbeiter, Angestellte, Kulturschaffende, Wissenschaftler, Armeeangehörige, Ärzte, Journalisten aus verschiedenen Grundorganisationen des Landes, dabei sind Wissenschaftler von der Humboldt-Uni Berlin und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, um einige zu nennen.»
Die Schwerpunkte der Diskussion im Vorfeld des am 8./9. und 16./17. Dezember stattfindenden Sonderparteitages[4] waren vielfältig. Hervorzuheben sind vielleicht folgende Punkte:
- Amtsmissbrauch und Bereicherung seitens einiger führender Köpfe der Partei sowie Fragen des Parteivermögens und der Finanzierung der Partei.
- Fehlende innerparteiliche Demokratie und Machtkonzentration bei einzelnen Personen bis hin zu Ansätzen von Personenkult, Dominanz von angestellten Funktionären gegenüber Mitgliedern und gewählten Funktionären – was bedeutet das für die Organisationsweise?
- Der Umgang mit der eigenen Geschichte und den Opfern von Repressionen, die Rolle des Stalinismus in der kommunistischen Bewegung.
- Wo soll sich die Partei künftig organisieren – nur in den Wohngebieten oder auch in den Betrieben und Einrichtungen? Was bedeutet das alles für den Charakter der Partei – ist sie eine Arbeiterpartei oder eine Partei der Werktätigen?
- Was ist ein zukunftsfähiges sozialistisches Modell des Wirtschaftens? Wie soll sozialistisches Eigentum aussehen?
- Wie verhält sich die Partei zu Rechtstaatlichkeit und Parteienpluralismus?
Symbolträchtig wird Gregor Gysi zu seiner Wahl ein Besen überreicht – verbunden mit der Forderung, die gerade erst beginnende Erneuerung der Partei konsequent durchzuhalten. Während die Fragen des Amtsmissbrauchs relativ schnell geklärt werden können, werden die Finanzen die Partei noch auf Jahre beschäftigen. Schon in den Wochen zuvor waren erste Immobilien der Partei als Ferieneinrichtungen u.ä. für die Öffentlichkeit zugänglich geworden. Mit den Vorschlägen für ein neues Statut und einem Diskussionsangebot «Für einen alternativen demokratischen Sozialismus» werden im Vorfeld des Parteitages, gestützt auf die Initiativen «von unten» sowohl die organisatorische als auch die programmatische Erneuerung eingeleitet. Dieser Prozess wird sich über mehrere Jahre hinziehen. Auf dem Parteitag selbst setzt Michael Schumann mit seinem bis heute diskutierten und umstrittenen Referat «Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System!» den Ausgangspunkt.[5]
Nicht zuletzt die Verflechtungen, auch und gerade die finanziellen, von Staat und Partei sind ein wesentlicher Grund, warum in der Partei auch die Forderung nach ihrer Auflösung gestellt wird. Der Bericht, den die Untersuchungskommission der zweiten Tagung des Sonderparteitages (16.-18.12.) vorlegt, scheint die Aussichtslosigkeit einer Erneuerung zu bestätigen und macht für die Masse der Parteimitglieder deutlich, wie tief die Kluft zwischen Teilen der Partei und der Gesellschaft geworden war.[6]
Wie tief diese Kluft tatsächlich ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Zerfall der Partei nach dem Sonderparteitag fortschreitet und auch kein Akzeptanzgewinn in der Gesellschaft erreicht wird. In einem Bericht zur Lage an das Präsidium des Parteivorstandes heißt es, dass jetzt verstärkt «leitende Kader der Kombinate und Betriebe und Einrichtungen des Staatsapparates, der Gewerkschaft und der Schutz- und Sicherheitsorgane aus den Reihen der Partei» austreten...[7]
Trotzdem: Die mit dem Sonderparteitag gleichzeitig einsetzenden Prozesse der Kritik der eigenen Vergangenheit und der Schaffung eines neuen Organisationstyps bei gleichzeitigem Eingreifen in die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ist in der deutschen Parteienlandschaft einmalig. Wie viel Allgemeines in dieser Erfahrung steckt, wird sich in den Folgejahren zeigen – und auch, wie schnell dieses Allgemeine vergessen werden kann.
(Mit freundlicher Unterstützung der Tageszeitung neues deutschland und ihres online-Archivs.)
[1] Bundesarchiv (Hrsg.) (1989). DY 30/IV 2/2.039/314 Einschätzungen zur Lage in der DDR und innerhalb der SED Bd. 2, Berlin, S. 23 und 33–34 sowie 41, abrufbar unter: https://tinyurl.com/tttkn4g
[2] z.B. Herles, Helmut/Rose, Ewald (Hrsg.) (1990). Vom Runden Tisch zum Parlament, Bonn: Bouvier oder Hahn, André (1998). Der Runde Tisch: das Volk und die Macht - politische Kultur im letzten Jahr der DDR, Berlin: verlag am park
[3] Bundesarchiv (Hrsg.) Wichtig für die Politbürositzung, in: DY 30/IV 2/2.039/314 Einschätzungen zur Lage in der DDR und innerhalb der SED Bd. 1, S. 91,ähnlich auch S. 103-104, abrufbar unter: https://tinyurl.com/rsjeuww
[4] Vgl. PDS (Hrsg.) (1990). Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS 8./9. und 16./17. Dezember 1989; Materialien, Berlin: Dietz Verlag sowie Hornbogen, Lothar/Nakath, Detlef/Stephan, Gerd-Rüdiger (Hrsg.) (1999). Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS : Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin ; [mit einer CD ausgewählter Original-Mitschnitte], Berlin: Dietz Verlag
[5] Schumann, Michael/Adolphi, Wolfram/Bisky, Lothar (2004). Michael Schumann - Hoffnung PDS: Reden, Aufsätze, Entwürfe 1989 - 2000, Berlin: Dietz, S. 33-56.
[6] Bereits am 1.12. wurde in der Volkskammer ein Bericht zu Korruption und Amtsmitßbrauch, vorgelegt von Heinrich Toeplitz, debattiert.
[7] Kommission Organisation und Parteileben – Parteiinformation (1989). Vorlage für das Präsidium des Parteivorstandes [der PDS]. Informationen zur aktuellen Lage in der DDR. Stand: 14.12.1989 – 8.00 Uhr, in: PDS-PV-331 Informationen an das Präsidium des Parteivorstandes der PDS (Dez. 1989 – Aug. 1990) Band 1, Berlin: Archiv Demokratischer Sozialismus (ADS)