FAQ: Kleine kritische Institutionenkunde
Häufig gestellte Fragen zur Europäischen Union
1 — Warum diese FAQ?
Spätestens alle fünf Jahre, wenn die Wahlen zum Europaparlament anstehen, aber auch bei Krisen und Auseinandersetzungen zur Zukunft der Europäischen Union, diskutieren eine Menge «ExpertInnen» — und viele von uns hören oft nur zu. Vom Binnenmarkt zum Fiskalpakt, von der Troika über die Economic Governance bis zu den europäischen Verträgen und ihrer (un-)möglichen Reformierbarkeit — viele sehen sich gar nicht in der Lage, an den Debatten teilzunehmen und selbst politisch mitzumischen. Diese Wahrnehmung ist nicht bloß mangelndem Wissen, Ohnmachtsgefühlen oder Verunsicherung geschuldet, sondern ein tatsächliches Problem: Die EU ist ein komplexes Gefüge von Institutionen, Verfahren und Verträgen. Zugleich gibt es zahlreiche Beispiele, in denen mächtige Player dieses Gefüge einfach umgehen und das undemokratische Gesicht der EU offen zutage tritt. Aber die Auswirkungen der EU-Politik auf das Leben der Unionsbürger*innen (sowie all derer, die keinen legalen Status in der EU haben) sind konkret und allerorten zu spüren. Und nicht wenige Menschen wollen sich grenzübergreifend und von unten in europäische Politik einbringen. Und tun es bereits.
Es braucht Informationen zu den zentralen Organen der EU, ihren Funktionsweisen und den politischen Handlungsspielräumen.
Ohne sich über das Terrain der EU Illusionen zu machen, können klare Analysen und strategische Einschätzungen dabei helfen, dass Interessierte sich selbstbewusster und kenntnisreicher in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um ein anderes Europa einmischen — sei es in persönlichen Gesprächen, bei politischen Kampagnen oder in der Bildungsarbeit. Es braucht Informationen zu den zentralen Organen der EU, ihren Funktionsweisen und den politischen Handlungsspielräumen — eine kritische Institutionenkunde.
Diese Sammlung von «Häufig gestellten Fragen zur EU» will genau das leisten. Es geht uns nicht um die hundertste Darstellung, was welche Institution macht und wie die Gesetzgebung funktioniert. Als Grundlage ist das wichtig, aber bei weitem nicht genug. Eine kritische Institutionenkunde muss auch danach fragen, wie die ökonomischen und ideologischen Grundlagen der europäischen Politik aussehen und ob, beziehungsweise wie sie verändert werden können – in den Parlamenten, auf den Straßen, in den Kommunen, in europäischen Bewegungen und Netzwerken.
Die EU steckt in einer ihrer gravierendsten Krisen, und die Gründe sind vielfältig: Der Aufstieg der radikalen Rechten in vielen europäischen Ländern, die ganz Europa aufgezwungene Kürzungspolitik, die menschlichen Katastrophen an den Außengrenzen der EU, die Reformunfähigkeit der europäischen Regierungen — um nur einige zu nennen. Der Bestand der europäischen Integration an sich wird inzwischen infrage gestellt, der Brexit ist nur ein Beispiel dafür. Angesichts dieser Entwicklung sind innerhalb linker Parteien und Bewegungen die Positionen zur EU oftmals umstritten: Sie reichen von der kompromisslosen Ablehnung der EU etwa aufgrund ihrer autoritär durchgreifenden, neoliberalen oder auch militaristischen Politik einerseits, bis zum kämpferischen Plädoyer für ein demokratisches, friedliches und soziales Europa andererseits. Oft werden diese Auseinandersetzungen auf ein einfaches «für oder gegen den Austritt aus der EU», manchmal gar auf ein «für oder gegen Europa» reduziert. Das greift zu kurz. Stattdessen wollen wir mit dieser Institutionenkunde die Grenzen ebenso wie die Möglichkeiten für Veränderungen kritisch ausloten, nicht nur im Europaparlament, sondern auch in Kampagnen und vor Ort.
Wenke Christoph & Anne Steckner
2 — Worin besteht das Gemeinschaftliche bei der EU?
Einige Staaten Europas haben sich in zu einer Union zusammengeschlossen. Sie haben sich einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung sowie gemeinsame Regeln und Institutionen gegeben. Jeder EU-Mitgliedsstaat hat damit zugunsten des gemeinsamen Projektes auf einen Teil nationaler Souveränität verzichtet. Es stellt sich die Frage: Was haben sie davon?
Die kurze Antwort lautet: Als Teil eines größeren Zusammenhangs sind EU-Mitglieder mächtiger als sie es alleine wären. Jeder einzelne europäische Staat für sich wäre kaum in der Lage, größeren Industrienationen wie den USA oder China auf Augenhöhe gegenüber zu treten. Als Teil eines riesigen Binnenmarkts dagegen hat er die Möglichkeit, auf der Bühne der Welt als gewichtiger ökonomischer Akteur mitzuspielen. Jedem Kapital, das nach Europa kommt und dort investiert, kann das Angebot gemacht werden, seine Waren auf einen Markt mit über 500 Millionen Einwohnern zu verkaufen, ohne Zölle oder große Beschränkungen. Auch im internationalen Handel müssen die europäischen Staaten nicht mehr einzeln auftreten. Die EU agiert in Handelsgesprächen als großer Player und ist so in der Lage, Bedingungen zu verhandeln, die kein Staat allein erreichen könnte.
Die Union ist für ihre Mitgliedsstaaten ein Mittel in der Konkurrenz nach außen.
Nicht aufgehoben ist damit aber gleichzeitig die ökonomische Konkurrenz nach innen, also zwischen den EU-Staaten. Im Gegenteil: Binnenmarkt und Abbau der Handelsschranken setzen diese Konkurrenz frei. In ihr gehen Unternehmen und ganze Branchen unter. So entstehen europäische Global Player, die auf dem Weltmarkt konkurrieren können.
Im Kern ist die EU also ein Set von gemeinsamen Regeln und Institutionen, die das zwischenstaatliche Verhältnis ihrer Mitglieder regeln – und so die Bedingungen ihrer Konkurrenz untereinander. Gewinne und Verluste dieser Konkurrenz bilanziert jeder Staat für sich. Ausgleichende Finanzströme gibt es kaum. Dies führt zu einer Aufteilung der EU-Staaten in relative Gewinner und relative Verlierer, in Zentrum und Peripherie. Die Gewinner, das sind Gläubigerstaaten wie Deutschland, Belgien oder die Niederlande. Die Verlierer sind Schuldnerstaaten wie Griechenland, Portugal und Spanien.
Diese Aufteilung unterminiert den Bestand der EU. Denn für die «Verliererstaaten» stellt sich die Frage, ob die Vorteile der EU-Mitgliedschaft die Nachteile überwiegen, ob sich ihre Unterwerfung unter die EU-Regeln also noch lohnt. Analog dazu stellt sich für die «Gewinnerstaaten» die Frage, ob die Union mit den Schuldnerstaaten für sie eine zu große Last ist.
Antonella Muzzupappa
3 — Wie funktionieren die zentralen Organe der EU?
Schaut man in die Gründungsgeschichte der EU-Institutionen, wird das Rüstzeug für den kritischen Blick auf sie gleich mitgeliefert. Die Institutionen, in denen sich die Regierungen und Minister*innen der Mitgliedsstaaten zusammenfanden, um den Binnenmarkt zu regulieren, entstanden schon Ende der 1950er Jahre: Der Europäische Rat, der Rat der Europäischen Union, und die Europäische Kommission. Das Europaparlament als repräsentative demokratische Institution existiert erst seit 1979.
Der Europäische Rat ist das höchste EU-Organ. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten treffen vier Mal im Jahr zu den sogenannten EU-Gipfeln zusammen. Der Europäische Rat beschließt keine EU-Gesetze, sondern trifft grundsätzliche politische Richtungsentscheidungen, in der Regel im Konsens zwischen den Regierungen.
Im Rat der Europäischen Union treffen die Minister der Mitgliedsstaaten zusammen. Faktisch handelt es sich also um zehn verschiedene Räte, für Außenpolitik, Finanzen, Umwelt usw. Der Ministerrat ist gemeinsam mit Kommission und Parlament für die Gesetzgebung zuständig. Entscheidungen fallen meisten nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit: sowohl die Mehrheit der einzelnen Mitgliedsstaaten als auch die Mehrheit der durch sie vertretenen EU-BürgerInnen muss gewährleistet sein. Anders als bei den grundlegenden Verträgen der EU ist in der Gesetzgebung das Prinzip der Einstimmigkeit nur in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Steuerpolitik notwendig.
Die EU-Kommission setzt die Politik um, überwacht die Anwendung des EU-Rechts in den Mitgliedsstaaten und darf als einzige Institution Gesetzesinitiativen einbringen.
Die Kommission ist eine Art eingesetzte Regierung mit Ministerialbürokratie: Sie setzt die EU-Politik um, überwacht die Anwendung des EU-Rechts in den Mitgliedsstaaten und darf als einzige Institution Gesetzesinitiativen einbringen. An der Spitze der Kommission stehen der Kommissionspräsident und die KommissarInnen, je einE KommissarIn pro Mitgliedsstaat. Der Präsident wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen und vom Parlament gewählt. Das Parlament muss der Kommission als Ganzes zustimmen und kann sie per Misstrauensvotum stürzen – was aber noch nie passiert ist.
In das Europaparlament wählen die EU-Bürger*innen alle fünf Jahre 751 Abgeordnete. Die Anzahl der Abgeordneten pro Land richtet sich nach dessen Einwohnerzahl, von sechs Abgeordneten bspw. aus Zypern bis 96 Abgeordnete, die Deutschland als bevölkerungsreichstes EU-Land stellt. Im Gesetzgebungsprozess braucht es in fast allen Fragen die Zustimmung des Parlaments. Das Parlament darf selbst aber keine Gesetze einbringen. Dieses sogenannte Initiativrecht hat nur die Kommission (vgl. Frage 5).
Neben diesen vier politischen Institutionen wurden u. a. drei weitere entscheidende Institutionen durch die europäischen Verträge geschaffen: Die Europäische Zentralbank (EZB), die für die Geldpolitik der Euroländer zuständig ist. Der Europäische Gerichtshof (EUGH) als oberstes EU-Gericht. Er soll gewährleisten, dass das EU-Recht überall umgesetzt und gleich ausgelegt wird. Und der Europäische Rechnungshof. Diese Institutionen arbeiten relativ autonom. Sie werden in ihrer strategischen Ausrichtung aber vielfach von den stärkeren Mitgliedsländern geprägt.
Wenke Christoph und Konstanze Kriese
4 — Verträge, Verordnungen, Richtlinien – wie funktioniert die Gesetzgebung in der EU?
Die Europäischen Verträge regeln die Ziele der EU, die Aufgaben ihrer Institutionen, die Entscheidungsfindung sowie das Verhältnis zwischen der EU und ihren Mitgliedsländern. Sie werden von den Vertreter*innen aller EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt und müssen dann in jedem Staat von den nationalen Parlamenten oder per Referendum ratifiziert werden. Schon eine Ablehnung in einem einzigen Staat gilt als Veto. Dieses Prinzip ist eine sehr hohe Hürde für Vertragsveränderungen (vgl. Frage 13).
Auf Grundlage der Europäischen Verträge, die als Primärrecht der EU gelten, erfolgt die Gesetzgebung zwischen Kommission, Ministerrat und Parlament, deren Instrumente als Sekundärrecht verstanden werden. Es umfasst unterschiedliche Vorschriften: Verordnungen sind direkt anwendbare und bindende EU-Gesetze. Sie müssen in allen Mitgliedsstaaten gleichermaßen umgesetzt werden. Richtlinien hingegen verpflichten Mitgliedsstaaten, eigene Gesetze zu erlassen, um das Ziel der Richtlinie zu erfüllen. Beschlüsse sind verbindliche Rechtsakte, die für ein oder mehrere EU-Länder, Unternehmen oder Einzelpersonen gelten – etwa EU-Beschlüsse zu Unternehmensfusionen. Empfehlungen und Stellungnahmen sind hingegen nicht rechtsverbindlich.
Die allermeisten EU-Rechtsvorschriften werden nach dem «ordentlichen Gesetzgebungsverfahren» angenommen. Die Kommission bringt einen Gesetzgebungsvorschlag ein, Ministerrat und Parlament prüfen und erörtern daraufhin den Vorschlag jeweils für sich in mehreren Lesungen. Kommt in der zweiten Lesung keine Einigung zustande, wird im «formellen Trilog» in einem Vermittlungsausschuss der Institutionen ein Kompromiss gesucht, dessen Ergebnis nochmals dem Parlament vorgelegt wird.
Zum einen sind die EU-Institutionen transparenter, als man oft annimmt. Sie verwalten sogar eigene Webseiten über ihre Mythen, etwa zur «Gurkenkrümmung», den vielen EU-Beamten oder dem Gerücht von Deutschland als «Zahlmeister» der EU. Andererseits stehen diesen Informationsdefiziten handfeste und unübersehbare demokratische Defizite gegenüber. Die Defizite sind so gravierend, dass auch von linker Seite eine Reformierbarkeit der EU-Institutionen angezweifelt wird. Unterfüttert wird diese Position durch Entwicklungen wie etwa der «Griechenlandkrise». Ein demokratisch nicht legitimiertes Gremium, die Troika (EU-Kommission, EZB und IWF) verhandelte mit der Eurogruppe, ebenfalls ein nicht gewähltes Gremium, die Kredite für einen Mitgliedstaat und beschnitt so dessen Handlungsmacht in einer bis dahin unbekannten Art und Weise (vgl. Frage 8).
Die Rolle des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsdreigestirn zwischen Parlament, Rat und Kommission muss gestärkt werden.
Aus linker Sicht ist klar: Die Rolle des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsdreigestirn zwischen Parlament, Rat und Kommission muss gestärkt werden, genau wie direktdemokratische Instrumente, z.B. die europäische Bürgerinitiative. Dies alles ist jedoch kaum hinreichend, wenn der Gesetzgebungsprozess insgesamt nicht transparenter und gestaltbarer für Bürger*innen wird, angefangen bei verbindlichen Lobbyregistern und einem erweiterten Initiativrecht des Parlaments.
Wenke Christoph und Konstanze Kriese
5 — Wie demokratisch sind die EU-Institutionen? Welche Einflussmöglichkeiten gibt es auf sie?
Die EU in ihrer gegenwärtigen Gestalt ist das Ergebnis der Dominanz von Akteuren, die ihre Interessen besonders wirksam durchsetzen und institutionell absichern konnten. Nicht selten sind das mächtige Konzerne, neoliberal gesinnte Regierungen oder einflussreiche Lobbyisten der Privatwirtschaft. Ein zentrales wirtschaftspolitisches Regelungswerk ist beispielsweise die European Economic Governance, die den EU- und Eurostaaten vorschreibt, wie sie ihre Budget- und Wirtschaftspolitik gestalten müssen (vgl. Frage7). Economic Governance setzt den Mitgliedsländern einen engen Handlungsrahmen und erhebt die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Staaten zum Maßstab erfolgreicher Politik. Beteiligung durch die Bevölkerungen ist darin nicht vorgesehen.
Auch in den formalen Entscheidungsprozessen haben die Bürger*innen der EU wenig mitzureden.
Drei Institutionen bringen Gesetze gemeinsam auf den Weg: Der Rat der Europäischen Union, die EU-Kommission und das Europaparlament (EP). Nur Letzteres ist direkt von den Bürger*innen der EU gewählt. Die Mitglieder der Kommission werden von den Regierungen der EU-Staaten nominiert und vom EP bloß bestätigt. Trotz ihrer fehlenden demokratischen Legitimation darf ausschließlich die Kommission Gesetzgebungsvorschläge einbringen. Das EP hat dann nur noch die Möglichkeit, die Vorschläge der Kommission im Nachhinein zu verändern. Hier eine linke Handschrift unterzubringen, ist schwierig. Im Rat sitzen die zuständigen Minister*innen, hier werden Vertreter*innen der Exekutive plötzlich zum Gesetzgeber.
Werden sich die drei Institutionen nicht einig, muss im «formellen Trilog» ein Kompromiss gefunden werden (vgl. Frage 4). In der Praxis geschieht das aber fast immer über informelle Verhandlungen: Vertreter*innen von Kommission, Rat und dem zuständigen Ausschuss des EP treffen sich hinter verschlossenen Türen und suchen ein gemeinsames Ergebnis. Nicht nur die Öffentlichkeit, auch die meisten Parlamentarier*innen sind so von wichtigen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.
Eine wichtige Rolle in der EU-Politik spielt auch die Europäische Zentralbank (EZB). Sie hat vor allem die Aufgabe, die Preisstabilität zu sichern. Beschäftigung und soziale Kriterien sind nicht Bestandteil ihres Aufgabenfeldes. Sie kann und soll «unabhängig von der Politik» agieren. Das bedeutet, dass Banker ohne demokratische Kontrolle wesentlichen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik nehmen können.
Vieles davon ist den EU-Verträgen festgeschrieben. Obschon sie einer Verfassung gleichkommen, sind die EU-Verträge wirtschaftspolitisch nicht neutral. Vielmehr schreibt beispielsweise der Vertrag von Lissabon eine «offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb» fest. Damit werden die Binnenmarktregeln zum Kern der europäischen Integration (vgl. Frage 6). Dies zu ändern, ist kaum möglich. Für eine Vertragsänderung müssen alle Mitgliedsstaaten zustimmen (vgl. Frage 13). Eine einzige Regierung kann so jeden Fortschritt verhindern.
Martin Konecny
6 — Worin bestehen die vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes?
Der Binnenmarkt gilt als Herzstück der EU. Er umfasst vier Freiheiten:
- Freier Warenverkehr, also keine Zölle oder andere Ein- oder Ausfuhrbeschränkungen
- Dienstleistungsfreiheit, also die Freiheit von Unternehmen, Dienstleistungen EU-weit zu verkaufen
- Freier Kapital- und Zahlungsverkehr
- Personenfreizügigkeit
Personenfreizügigkeit bedeutet vor allem die Freiheit, in einem anderen Land wohnen, arbeiten und eine bestimmte Zeit um Arbeit suchen zu dürfen. Hier bestehen jedoch viele nationale Beschränkungen, die Bürger*innen anderer EU-Staaten etwa von Sozialleistungen ausschließen. So muss z. B. ein nicht erwerbstätiger EU-Bürger, der länger als drei Monate in Deutschland bleiben will, nachweisen, dass er über eine Krankenversicherung und ausreichend Geld verfügt und daher das deutsche Sozialsystem nicht in Anspruch nehmen wird.
Der einheitliche EU-Binnenmarkt ist eine Einladung an das Kapital der ganzen Welt, in Europa zu investieren.
Insbesondere durch den freien Warenverkehr haben die EU-Staaten die ökonomische Konkurrenz zwischen sich freigesetzt. Die Staaten verzichten auf spezielle Schutz- und Fördermaßnahmen für ihre nationalen Unternehmen. Damit bieten sie Europas Unternehmen einen riesigen Heimatmarkt. Die gleichzeitig verschärfte Konkurrenz auf diesem Markt soll das Entstehen großer Kapitale in der EU fördern, die auf Grund ihrer Größe in der Lage sind, global zu konkurrieren. Der einheitliche Binnenmarkt – heute der größte der Welt – ist zudem eine Einladung an das Kapital der ganzen Welt, in Europa zu investieren.
Personenfreizügigkeit, Dienstleistungs- und Kapitalfreiheit verschärfen darüber hinaus den Wettbewerb der europäischen Arbeitnehmer*innen untereinander, indem sie den EU-Unternehmen den Zugang zum Arbeitskräftereservoir der EU eröffneten. So ermöglicht es der freie Kapitalverkehr den Unternehmen, überall in der EU zu investieren, beispielsweise Produktionsanlagen an Niedriglohnstandorten zu errichten. Die Personenfreizügigkeit ermöglicht den Arbeitnehmer*innen, im Ausland zu arbeiten. Sie liberalisiert aber zugleich den EU-Arbeitsmarkt. So hat zwar jede*r EU-Bürger*in die Möglichkeit, sich in anderen Mitgliedsstaaten auf einen Arbeitsplatz zu bewerben. Andererseits treten ihm*ihr im Heimatland nun Arbeitnehmer*nnen aus anderen EU-Ländern als Konkurrent*innen gegenüber.
Mit der Dienstleistungsfreiheit können Unternehmen aus Niedriglohnstandorten EU-weit ihre Dienste anbieten, also um Aufträge konkurrieren. Dabei durften sie zehn Jahre lang ihre Arbeitnehmer*innen im EU-Ausland gemäß heimischen Bedingungen entlohnen. So erhielten zum Beispiel Bauarbeiter einer polnischen Firma, die in Deutschland tätig waren, nur polnische Gehälter, solange diese nicht unter dem deutschen Mindestlohn lagen. Die Reform der Entsenderichtlinie hat diese Möglichkeiten jedoch eingeschränkt. Nun gelten für in- wie ausländische Dienstleister ähnliche Bedingungen.
Stephan Kaufmann
7 — Was ist die Wirtschafts- und Währungsunion?
Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) ist die Ergänzung des EU-Binnenmarktes um eine gemeinsame Währung: Den Euro. Geplant war ursprünglich, dass alle EU-Staaten den Euro übernehmen. In der Realität haben nur 19 Mitgliedsstaaten den Euro eingeführt.
Warum haben sich die Staaten dazu entschieden, ihre Währung aufzugeben und den Euro einzuführen? Erstens beendete die einheitliche Währung die Schwankungen der Wechselkurse. Diese Schwankungen – zum Beispiel zwischen D-Mark und französischen Franc oder holländischem Gulden und italienischer Lira – schufen eine permanente Unsicherheit für Investoren und Unternehmen innerhalb Europas. Der Euro hingegen brachte ihnen eine sichere Kalkulationsgrundlage für grenzüberschreitende Anlagen und Einnahmen. So muss zum Beispiel ein deutscher Investor nicht mehr fürchten, dass seine Investition in Italien durch eine Abwertung der Lira gegenüber der D-Mark weniger wert ist.
Zweitens wurde mit dem Euro eine Weltwährung neben dem US-Dollar geschaffen, hinter der eine große Wirtschaftskraft steht. Diese «Macht» des Euro machte ihn zu einem Angebot an das globale Kapital zur Investition und sorgte dafür, dass das Zinsniveau in der Euro-Zone sank: Staaten wie auch private Haushalte und Unternehmen kamen billiger an Kredite.
Diese Vorteile des Euro erkauften sich die Staaten dadurch, dass sie sich den Stabilitätskriterien des Euro unterwarfen. Damit verloren sie an Freiheit zur Verschuldung – die Neuverschuldung darf nicht mehr über drei Prozent der Wirtschaftsleistung liegen, die Gesamtverschuldung des Staates nicht über 60 Prozent. Diese «Konvergenzkriterien» sind Teil der European Economic Governance, also der Regeln, anhand derer die EU-Kommission die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Euro-Staaten kontrolliert.
Diese Regeln verschärften die Euro-Staaten im Zuge der Euro-Krise und weiteten sie auf weitere Bereiche aus: Richtwerte gibt es nun nicht mehr nur für die Staatsverschuldung, sondern für eine breite Palette ökonomischer Kennziffern – von den Lohnstückkosten über Exportmarktanteile und Arbeitslosenquoten. Weicht ein Mitgliedsstaat bei diesen Kennziffern ab, kann die Kommission wirtschaftspolitische Änderungen verlangen. Kommt der entsprechende Staat dieser Vorgabe nicht nach, kann sie gegen ihn – mit Zustimmung des Europäischen Rates – Strafen verhängen.
Unter dem gegenwärtigen System zahlen vor allem die Lohnabhängigen einen hohen Preis für die Mitgliedschaft ihrer Länder im Euro.
Gerade finanziell schwächere Staaten mussten Ausgaben streichen und Steuern erhöhen, um ihre in der Finanzkrise gestiegenen Schulden abzubauen. Um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, senkten Staaten ihre Mindestlöhne, bauten Arbeitnehmerrechte und die Geltung von Tarifsystemen ab. Dem Kürzungszwang sind aber auch Regierungen wirtschaftlich erfolgreicher Länder unterworfen. Zum Beispiel Deutschland, wo notwendige Staatsausgaben unterbleiben, um Neuverschuldung zu vermeiden («Schwarze Null»).
Stephan Kaufmann
8 — Was ist mit informellen Gremien wie Eurogruppe oder Troika? Warum haben die einen so starken Einfluss auf die EU-Politik?
Die EU besteht nicht nur aus den EU-Verträgen. Sie ist ein Flickenteppich von Institutionen, Vorgaben und Abkommen auch außerhalb des Unionsrechts. Nicht wenige davon wurden einfach ins Leben gerufen, ohne sich mit demokratischen Entscheidungsprozessen aufzuhalten, und erst im Nachhinein in Gesetze gegossen. Ein Beispiel für dieses rechtswidrige Vorgehen ist die Eurogruppe, ein informelles, nicht gewähltes Gremium der EU, das die Wirtschafts- und Budgetpolitik der Eurozone koordiniert. Ihr gehören die Finanzminister aller Euro-Länder an, sowie der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Wirtschafts- und Währungs-Kommissar der EU. Die Verhandlungen in der Eurogruppe sind geheim. Obwohl formal kein Organ der EU und ohne Entscheidungsbefugnisse nahm die Eurogruppe im Zuge der «Griechenlandkrise» aber erheblichen Einfluss auf die Durchsetzung einer restriktiven Haushaltspolitik.
Wie das? Die Syriza-Regierung war 2015 mit dem Vorhaben angetreten, sich gegen die ihr auferlegten «Sparmaßnahmen» zur Wehr zu setzen, aber nicht aus der EU auszutreten. In Folge wurde sie von der Troika – ein weiteres demokratisch nicht legitimiertes Gremium, bestehend aus Vertreter*innen von EZB, IWF und EU-Kommission – und von der Eurogruppe massiv unter Druck gesetzt. Wie zeigte sich das konkret? Gegen Ende des Konflikts um das Kürzungsprogramm entschied die Eurogruppe einfach ohne den griechischen Finanzminister, das sogenannte Hilfspaket für Griechenland nicht mehr zu verlängern. Normalerweise fallen ihre Entscheidungen einstimmig, also wurden über Nacht neue Regeln erfunden. Kurz darauf hat die EZB den griechischen Banken das Geld abgedreht, um die Regierung in die Knie zu zwingen. Selbst konservative Europarechtler*innen meinen, dass das vom EZB-Mandat nicht gedeckt war.
Das Krisenmanagement der EU wurde dann – inspiriert von der deutschen Schuldenbremse – nachträglich mit dem Fiskalpakt legalisiert. Dieser Vertrag wurde außerhalb des Europarechts geschlossen, weil die Mitgliedsstaaten Großbritannien und Tschechien dem in der EU nicht zustimmten. Flugs wurde ein völkerrechtlicher Vertrag aufgesetzt, der nun die Kürzungspolitik in 25 EU-Staaten zwingend vorschreibt.
Neben Rat und Kommission liegt die Macht bei der EZB und der Eurogruppe – und bei der deutschen Regierung.
Diese Beispiele zeigen erstens, wo die Machtzentren der EU liegen: Neben Rat und Kommission bei der EZB, der Eurogruppe – und bei der deutschen Regierung. Zweitens wird deutlich, wie im Zuge des Krisenmanagements die Regierungen und Bürokratien mit umfassenden Beschluss- und Sanktionskompetenzen ausgestattet wurden, während die Parlamente geschwächt wurden. Drittens wird, wenn zur Aufrechterhaltung der neoliberalen Ordnung notwendig, bestehendes Recht von den EU-Institutionen gebeugt oder gebrochen. Macht wird über das Schaffen von Fakten ausgeübt, weder muss sie sich demokratisch legitimieren noch kann sie zur Rechenschaft gezogen werden.
Anne Steckner und Lukas Oberndorfer
9 — Wie hängen europäische und kommunale Ebene miteinander zusammen?
Wesentliche Teile des europäischen Rechts wirken sich unmittelbar auf die Kommunen aus. Rund zwei Drittel der kommunalen und fast hundert Prozent der Umweltgesetzgebung sind direkt oder indirekt durch Brüsseler Entscheidungen beeinflusst. Es gibt kaum noch kommunale Bereiche gänzlich ohne Einfluss durch europäisches Recht.
Zwar darf Europarecht nicht in das im Grundgesetz garantierte Recht der Kommunen auf Selbstverwaltung eingreifen. Trotzdem gilt natürlich auch in den Kommunen europäisches Recht. Typische Beispiele sind: Die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas, die Festlegung der Abgaswerte der örtlichen Müllverbrennung sowie die Errichtung von Umweltzonen zur Verringerung der Feinstaubwerte.
Die EU nimmt aber nicht nur auf gesetzgeberischer Ebene Einfluss auf die Kommunen. Sie finanziert auch EU-weit regionale Projekte. Mit 351,8 Mrd. Euro nimmt die Regionalpolitik, z.B. in Gestalt des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), in der jetzigen Haushaltsperiode der EU im Gesamtbudget von 1.087 Mrd. Euro den größten Einzelposten ein.
Die EFRE-Mittel haben in dieser Förderperiode (2014-2020) neue Schwerpunkte erhalten. Mit ihnen sollen vor allem kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt werden, in den Bereichen CO2-arme Wirtschaft, innovative Verkehrsprojekte und Kommunikationsinfrastruktur, Reduzierung der CO2-Emissionen und bei der nachhaltigen und umweltgerechten Entwicklung von Flächen und Landschaften insbesondere in der Landwirtschaft. Weiterhin sollen Bildungssysteme modernisiert und Schritte in eine integrativere Gesellschaft unterstützt werden. Gerade in weniger entwickelten Regionen geht es darum, durch Wachstum und Beschäftigung geographische Nachteile auszugleichen.
Statt in die Regionen zu investieren, werden die Aufwendungen für militärische Mobilität erhöht.
Für die nächste Haushaltsperiode der EU (2021-2027) könnten diese oft sinnvoll einsetzbaren Mittel allerdings zugunsten des Finanzinstruments «Connecting Europe Facility» (CEF) gekürzt werden. Unter anderem ist geplant, für 6,5 Mrd. Euro Straßen und Brücken panzerfähig zu machen, um Militärtransporte und schnelle Truppenverlegungen zu ermöglichen. Anstatt dringend notwendige Investitionen anzuschieben, um die enormen sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen den Regionen zu verringern, werden im Finanzrahmen der EU die Aufwendungen für militärische Mobilität verstärkt.
Darüber hinaus spielt aber auch die Frage eine Rolle, wie regionale Akteure in die Ausgestaltung und Umsetzung der Fonds einbezogen werden (vgl. Frage 15). Denn oft können Kommunen den bürokratischen Aufwand und den finanziellen Eigenanteil nicht leisten, und die Erarbeitung von Entwicklungsstrategien wird zunehmend zentralisiert. Hier müssten die Hürden verringert und die Rolle der Kommunen gestärkt werden, damit die Fördergelder tatsächlich dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Felicitas Weck
10 — Wie mischt die EU bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen mit?
Jährlich vergibt die öffentliche Hand in Bund, Ländern und Kommunen Aufträge in Höhe eines dreistelligen Milliardenbetrages an private Unternehmen. Diese Auftragsvergabe wird durch EU-Vorgaben geregelt. Das Vergaberecht soll dafür sorgen, dass bei der Ausführung öffentlicher Dienstleistungen umwelt-, sozial- und arbeitsrechtliche Verpflichtungen eingehalten werden. Diese sind durch Rechtsvorschriften der Union, einzelstaatliche Rechtsvorschriften, Tarifverträge oder internationale Vorgaben festgelegt. Die Auftragsvergabe möglichst transparent zu regeln, ist auch sinnvoll, um Korruption und Vetternwirtschaft vorzubeugen.
Die Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt gemäß der jeweiligen Landesgesetzgebung auf Grundlage des EU-Rechts. Hier sind mit der letzten Überarbeitung von 2014 insbesondere soziale und ökologische Kriterien gestärkt worden. Insofern ist das neue Vergabegesetz ein Fortschritt, denn Kommunen sind nicht mehr gezwungen, einen Auftrag an den Anbieter mit den niedrigsten Kosten zu vergeben. Beispielsweise müssen verwendete Baustoffe auch ökologischen Standards entsprechen. Ein Angebot, das zwar billig ist, dessen Baustoffe diesen Kriterien aber nicht entsprechen, muss die Kommune jetzt nicht mehr annehmen.
Der Einsatz von Steuergeldern darf nicht dem Prinzip «Geiz ist geil» folgen.
Das ist zu begrüßen. Der Einsatz von Steuergeldern darf nicht dem Prinzip «Geiz ist geil» folgen, sondern muss Interessen von Beschäftigten und Verbraucher*innen beachten. Allerdings ließe sich das Vergaberecht noch deutlich verbessern. Weitergehende Forderungen sind zum Beispiel die Berücksichtigung von Mindest- oder Tariflöhnen bei der Vergabe, sowie die Möglichkeit, Ausschreibungen regional zu begrenzen statt europaweit ausschreiben zu müssen.
Und noch eine Ebene grundsätzlicher: Öffentliche Güter und Dienstleistungen müssen allen Einwohner*innen der EU unabhängig von Einkommen oder gesellschaftlicher Stellung zugänglich sein. Das ist am besten zu erreichen, indem die kommunalen Unternehmen der Daseinsvorsorge erhalten und gestärkt – oder zurückgeholt werden. Verfügt eine Kommune beispielsweise über eine eigene Kläranlage fürs Abwasser, muss sie diese Dienstleistung auch nicht ausschreiben und an Private vergeben. Angesichts der Tendenz zur Privatisierung öffentlicher Infrastruktur – auch massiv von der EU vorangetrieben – ist Rekommunalisierung eine politische Entscheidung. Sie stärkt den Einfluss der ansässigen Bevölkerung auf die Versorgung in ihrer Kommune anstatt sie aus der Hand zu geben.
Felicitas Weck
11 — Die einen loben die EU als Friedensprojekt, die anderen kritisieren Militarisierung und Neoliberalismus. Ja, was denn nun?
Es gibt nicht nur eine Erzählung zur Europäischen Union. Eine der machtvollsten Erzählungen ist jene über das «Friedensprojekt Europa», die Anstrengung also, nach den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs keinen Krieg mehr in Europa zu führen. Bei aller Kritik an der EU überzeugt diese Idee des Friedensprojekts immer noch viele. 2012 erhielt die EU sogar den Friedensnobelpreis. Weil sie über 60 Jahre lang zur Entwicklung von Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten beigetragen habe, so die Begründung. Seit 1945 gibt es keine Kriege zwischen EU-Mitgliedsstaaten.
Trotzdem geht es bei der europäischen Integration mitnichten nur ums friedliche Zusammenleben. Und selbst dieses Bild ist infrage zu stellen, wenn man einen genaueren Blick auf das Agieren der EU weltweit wirft und die in den letzten Jahren rasant steigenden Rüstungsausgaben. Im neuen Verteidigungsfonds der EU sollen jedes Jahr sieben Milliarden Euro zusätzlich nur für das Militär ausgegeben werden (vgl. Frage 9). Die EU rüstet auch den Rest der Welt auf.
Allein in Deutschland wurden 2017 Rüstungsexporte im Wert von sechseinhalb Milliarden Euro genehmigt.
Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war seinerzeit auch verbunden mit dem Kalten Krieg: Westeuropa sollte als kapitalistischer Gegenpol zum Ostblock aufgebaut werden. Die wirtschaftliche Integration der europäischen Staaten spielte dabei eine Schlüsselrolle.
Von welchen Akteuren und Interessen wurde die europäische Integration vorangetrieben? Verschiedene Phasen lassen sich festmachen: In den 1950er bis 1970er Jahren waren die Staaten Westeuropas geprägt von hohem Wirtschafts- und Lohnwachstum, starken Gewerkschaften und sozialpartnerschaftlichen Ansätzen. In diesen Anfangsjahren der Integration stand die schrittweise Liberalisierung des Handels zwischen den europäischen Staaten im Mittelpunkt. Mit der durch den Ölpreisschock 1973 einsetzenden Wirtschaftskrise geriet dieses Integrationsmuster in die Krise.
Neoliberale Akteure konnten ab den 1980er Jahren ihre Vorstellung von der europäischen Integration allmählich durchsetzen: Europa sollte gegenüber der globalisierten Weltwirtschaft weiter geöffnet und «Wettbewerbshindernisse» – Sozialstaat oder Einfluss der Gewerkschaften – abgebaut werden (vgl. Frage 2). Ein wettbewerbsorientierter Umbau aller gesellschaftlichen Bereiche wurde angestrebt – auch gegen erhebliche Widerstände in den Mitgliedsstaaten. Um das neoliberale Projekt durchzusetzen, bot sich gerade die europäische Ebene an: Schwache Institutionen, eine weit weniger organisierte Zivilgesellschaft, geringere parlamentarische Kontrolle, Überrepräsentation von Lobbyinteressen. Gerade auch unsoziale Entscheidungen konnten hier einfacher durchgesetzt werden. Verankert sind neoliberale Regeln etwa in der Wirtschafts- und Währungsunion, dem Maastricht-Vertrag oder dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (vgl. Frage 7).
Wenke Christoph
12 — … und was ist mit der Idee des sozialen Europa?
Mit der schrittweisen Ausgestaltung der EU (vgl. Frage 11) wurde neoliberale Politik in den Verträgen verankert und den Institutionen zum Auftrag gemacht: Schrankenloser Handel innerhalb der EU, Einschränkung demokratischer Verfahren, über die die Mitgliedsstaaten ihre Haushaltspolitik festlegen, Liberalisierung (d.h. oft Privatisierung) öffentlicher Leistungen. Sozialpolitik wurde zwischen den EU-Staaten nicht «harmonisiert», sondern den wirtschaftspolitischen Zielen untergeordnet und in vielen Fällen auf freiwillige Koordinierung statt verbindlicher Regeln beschränkt. Somit ist sie nur Beiwerk zum neoliberalen Kern. Auch die Ende 2017 groß verkündete «Europäische Säule sozialer Rechte» ändert leider nichts daran. Weder stellt sie das Primat der Wettbewerbsfähigkeit infrage, noch wurden damit rechtlich verbindliche Standards oder soziale Rechte für UnionsbürgerInnen verankert.
Was ist also mit der Idee des sozialen Europas? Die großen Integrationsschritte der 1990er und 2000er Jahre fanden bereits in einer Phase statt, als sozialdemokratische Akteure und Gewerkschaften geschwächt waren. Beeinflusst durch Tony Blair und Gerhard Schröder glaubten seinerzeit auch SozialdemokratInnen, wirtschaftliche Liberalisierung und höhere Profite kämen am Ende allen zugute. 2012 erklärte EZB-Präsident Mario Draghi sogar das europäische Sozialmodell für gescheitert. Im Rahmen der Krisenpolitik errichteten die dominanten Mitgliedsstaaten in der EU ein Kürzungsregime, das insbesondere in den südeuropäischen Krisenstaaten Privatisierungen, Sozialkürzungen und den Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten durchgesetzt und damit Wohlfahrtsstaaten zerstört hat.
Nichtsdestotrotz: Mit Blick auf Geschichte und beteiligte Akteure war und ist die EU mehr als ein Zusammenschluss der Mächtigen. Auch der Anspruch der EU als Friedensprojekt (vgl. Frage 11) und der eines sozialen Europas haben viele Akteure, gerade auch von links, bewegt, sich europapolitisch zu engagieren. Ein Blick auf den sich verändernden Charakter des Integrationsprozesses aber zeigt, dass insbesondere neoliberale Akteure ihre Vorstellungen und Projekte in Gestalt von Deregulierung, Privatisierung und Wettbewerbsfähigkeit haben durchsetzen können.
Die europäische Integration ist ein umkämpftes Feld, in dem auch progressive Akteure immer wieder Siege erringen können.
Zugleich wäre es zu einfach, die Hände in den Schoß zu legen und die EU abzuschreiben für linke Politik. Die europäische Integration ist ein umkämpftes Feld, in dem auch progressive Akteure immer wieder Siege erringen können. Die Reform der Entsenderichtlinie ist ein Beispiel dafür: Gewerkschaften und linke Kräfte im Europaparlament konnten Lohn- und Sozialdumping durch Entsendung von ArbeitnehmerInnen entscheidend einschränken und die Rechte der Beschäftigten stärken. Die EU ist außerdem kein äußerlicher Feind, von dem man sich durch Austritt einfach lösen kann. Aus den existierenden ökonomischen und politischen Verflechtungen, Warenströmen, der gemeinsamen Währung, kann man nicht so einfach austreten und erhielte damit alle Spielräume zurück – Mitgliedschaft oder Austritt ist letztlich die falsch gestellte Frage.
Wenke Christoph
13 — Warum ist es so schwierig, die Spielregeln der EU zu ändern?
In die vielfältigen Institutionen und Abkommen der EU sind lokale, regionale, nationale und supranationale Ebenen zu einem komplexen Geflecht verwoben. Die rechtlichen Verfahrensweisen sind schwierig zu durchschauen, Brüssel bleibt für viele hochgradig abstrakt. Nur wer sich im juristischen Dschungel der EU zu bewegen weiß, kann Vorschläge einbringen, die ins bisherige Vertragsgefüge passen. Das führt zur Verrechtlichung und Bürokratisierung der Debatte. So wird umfassende Beteiligung von unten verhindert.
Die bestehenden EU-Verträge im Sinne fortschrittlicher Politik umzuschreiben oder gar grundlegend neu zu formulieren, ist nahezu unmöglich. Das in Artikel 48 des Vertrages über die Europäische Union festgeschriebene Prozedere sieht für Änderungen des Vertragswerks die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedsstaates vor. Das heißt alle Staats- und Regierungschefs sowie das EU-Parlament müssten zustimmen und danach alle Mitgliedsstaaten gemäß ihrer Verfassung ratifizieren. Anders gesagt: Das Veto eines Mitgliedslandes kann dafür sorgen, dass auch nur die kleinste Veränderung zunichte gemacht wird. Es reicht also eine einzige neoliberale Trutzburg aus, um zu blockieren – auch gegen eine Mehrheit der Bevölkerung in Europa.
Das Veto eines Mitgliedslandes kann dafür sorgen, dass auch nur die kleinste Veränderung zunichte gemacht wird.
Hinzu kommt: Innerhalb eines Landes gibt es ganz unterschiedliche Interessen. Diese können sich im Europäischen Rat aber nur als nationale Interessen artikulieren, repräsentiert durch die jeweiligen Regierungen. Französische Arbeiter*innen sitzen so im selben Boot mit französischen Großbauern und Konzernen, anstatt nach gemeinsamen Interessen mit deutschen oder polnischen Lohnabhängigen zu suchen. Dieser nationalstaatliche Flaschenhals führt zu horizontalen Konfliktachsen: «Die Deutschen/Österreicher/Belgier» müssen vermeintlich für «die Griechen/Portugiesen/Irländer» die Zeche zahlen. Vertikale Konfliktachsen, also Klassengegensätze, Geschlechterhierarchien, Rassismus und andere Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaften, werden so unsichtbar.
Wenn die bestehenden Verträge, die die grundlegenden Institutionen und Funktionsweisen der EU festschreiben, also in vielen Fällen als undemokratisch oder unsozial einzuschätzen sind, stellt sich die Frage nach einem kalkulierten Bruch mit den Spielregeln. Das kleine Portugal hat immerhin eines geschafft: Es hat sich den Kürzungsvorgaben der Troika widersetzt, einige sogar wieder zurückgenommen und stattdessen öffentliche Gelder investiert und ökonomische Impulse gesetzt. Solche und weitergehende Brüche sind auch eine Machtfrage: Die Chancen auf Veränderung gegen die gesetzten Regeln steigen mit dem Grad, in dem sich Widerstand in Teilen der Bevölkerung formiert, diese mobilisierend in den Prozess eingebunden ist und die Konflikte mit der EU offen thematisiert werden, um für eine andere Politik Gegenmacht von unten aufzubauen.
Anne Steckner und Lukas Oberndorfer
14 — Die EU scheint mir ein abgehobener Apparat im fernen Brüssel …
Vor Ort ist sehr viel Politik längst von der EU geprägt. Man muss nur die Roaming-Tarife im Mobilfunk studieren oder den Wasserhahn öffnen, und schon hat man es mit Verbraucherschutzregelungen oder mit der EU-Wasserrahmenrichtlinie zu tun.
Zugleich liegt es auf der Hand, dass sich globale Herausforderungen wie Klimaschutz, humane Flüchtlingspolitik, sozial-ökologische Wende oder gerechte Digitalisierung nicht allein nationalstaatlich bewältigen lassen. Auch die Kooperation mit Drittstaaten, internationale Handelsbeziehungen und friedliche Konfliktlösung erfordern gemeinsames europäisches Handeln.
Andererseits gibt es viele politische Entscheidungen, die trotz aller sinnvollen Verzahnung mit der europäischen Strukturpolitik auf regionaler oder lokaler Ebene besser entschieden werden können. Kommunen und Gemeinden wissen bestens, wo Probleme und Entwicklungspotentiale liegen, ganz gleich ob sie nun urbaner Großraum, ländliche Gegend oder typische Grenzregion sind. Die einen kämpfen mit Wohnungsleerstand aufgrund von Abwanderung, die anderen mit Investoren, die die Mieten in die Höhe treiben. Der soziale Ausgleich benötigt am Ende ganz verschiedene politische Antworten.
Regionale Mitbestimmung muss kein Widerspruch zu Europapolitik sein.
Regionale Mitbestimmung muss aber kein Widerspruch zu Europapolitik sein. Oft blockieren nämlich die nationalen Regierungen gute Lösungen auf europäischer Ebene. Daher ist eine bessere europäische Öffentlichkeit, gerade auch in großen Mitgliedsländern wie Deutschland und Frankreich, notwendig. Nicht selten sind es deren Regierungen, die die Erzählung vom «fernen Brüssel» bedienen, weil das vom eigenen Versagen oder der eigenen Rolle in Brüssel ablenkt. Auch bei der Brexit-Entscheidung spielte diese Art politisches Versteckspiel eine Rolle.
Mit anderen Worten: Die Politik der EU wird maßgeblich durch die Regierungen der Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat (vgl. Frage 3) geprägt, vor allem seit der Finanzkrise von 2008. Die deutsche Regierung beispielsweise hat über den Stabilitäts- und Wachstumspakt die verheerende Kürzungspolitik anderen Mitgliedstaaten oktroyiert – im Falle Griechenlands zusätzlich über die demokratisch nicht legitimierte Troika (vgl. Frage 8). Statt den Blick auf Brüssel zu verengen, gilt es, die Rolle der Bundesregierung in der europäischen Politik zu analysieren, z.B. auch die Blockadepolitik des deutschen Finanzministers bei der Bekämpfung von Steuerflucht. Um die EU zu verändern, ist der Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse in den Mitgliedsstaaten genauso entscheidend wie der politische Einsatz in Brüssel oder in den Regionen.
Konstanze Kriese
15 — … also nicht doch lieber Politik vor Ort machen?
Politik in Städten und Regionen und europäische Politik sind in vielfältiger Weise miteinander verbunden: Einerseits über die Vertretung der Regionen in den europäischen Institutionen, andererseits über den Einfluss, den die EU-Politik auf die Kommunen ausübt.
Ein wichtiges Bindeglied zwischen EU und Kommunen ist der Ausschuss der Regionen (AdR). In diesem Ausschuss sind Mitglieder aus Landes- und Regionalregierungen, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Vertreterinnen und Vertreter von Bezirken, Provinzen und Gemeinden vertreten. Der AdR nimmt Stellung zu wesentlichen Schritten in der EU-Politik, seine Berichte und Erklärungen sind voller wertvoller Erfahrungen aus den europäischen Regionen. Allerdings hat er kein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht, er kann nur Stellungnahmen abgeben. Um demokratische Prozesse europaweit auszubauen und die Mitsprache der Bürger*innen gegenüber Brüsseler Entscheidungen zu erhöhen, müsste dieser Ausschuss zu einer mit verbindlichen gesetzgeberischen Rechten ausgestatteten Kommunalkammer ausgebaut werden.
Problematisch sind die aus Brüssel kommenden Sanktionen bei der Vergabe von Regional- und Strukturfonds (vgl. Frage 9). Immer von neuem wird versucht, die Regionalpolitik an die nationalstaatliche Einhaltung der Schuldenbremse - wie sie etwa mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgegeben ist - zu binden. So können Regionen dafür bestraft werden, wenn ihre Regierung keine Kürzungspolitik betreibt. Noch verrückter wird diese völlig falsche Sanktionierung bei der Vergabe von Fördermitteln, wenn beispielsweise auch die Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien zur Bedingung gemacht wird. Das kann nämlich bedeuten, dass eine Flüchtlingsinitiative in Ungarn für die Politik Orbans bestraft wird und keine EU-Fördermittel erhält. Dies widerspricht der Selbstbestimmung in den Regionen in sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten.
Die ‹solidarischen› Städte und Gemeinden können im Widerstand zur autoritär-neoliberalen Politik eine wichtige Rolle spielen.
Ein ermutigendes Beispiel für lokale und regionale linke Politik sind die «rebellischen» und «solidarischen» Städte, die gegen unmenschliche und unsoziale Politiken der EU und der Nationalstaaten vor Ort Alternativen entwickeln. Sie erklären sich zu sicheren Häfen, setzen sich für sichere Fluchtwege und die Aufnahme von Geflüchteten ein und verbinden dies vielfach mit solidarischen Politiken vor Ort. Mehrere dieser Städte haben sich inzwischen europäisch vernetzt. Hier wäre nicht nur ein direkter Zugang der Städte zu Fonds für kommunale Integration und soziale Infrastrukturen sinnvoll. Vor allem aber können Städte und Gemeinden im Widerstand und bei der Entwicklung von Alternativen zur autoritär-neoliberalen Politik eine wichtige Rolle spielen. Das zeigen auch die Vernetzung der TTIP-freien Kommunen oder die erfolgreiche Rekommunalisierung öffentlicher Daseinsvorsorge.
Konstanze Kriese
16 — Welchen Sinn macht es überhaupt, bei den Europawahlen wählen zu gehen?
Manche sagen: «Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten». Manche sagen: «Wahlen sind der demokratische Ausdruck von Volkes Stimme». Die Angelegenheit ist komplizierter. Das Europaparlament (EP) ist das einzig direkt gewählte Organ der EU. In diesem Machtgefüge ist die Wahlbeteiligung nicht irrelevant für die Frage, mit welcher Legitimation und Rückendeckung diese Institution arbeitet. Hohe Wahlbeteiligung stärkt aber nicht nur das EP als Institution. Wenn nur wenige Menschen wählen gehen, kann das rechten und faschistischen Parteien zugutekommen, sofern sie ihre Anhänger*innen zur Wahl mobilisieren – was ihnen in letzter Zeit recht gut gelingt. Sie bauen Europa nach ihren Vorstellungen um. Wahlergebnisse sind also auch der verdichtete Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse. Hinzu kommt: Wahlbeteiligung offenbart eine soziale Schieflage. Menschen mit prekärem Job, geringem Einkommen und niedrigem Bildungsabschluss gehen oft nicht wählen. Bei sozial und ökonomisch Bessergestellten ist die Wahlbeteiligung deutlich höher. So werden ihre Interessen besser abgebildet und vertreten.
Die Abgeordneten der linken Parteien im Europaparlament sind zusammengeschlossen in der europäischen Gruppe GUE/NGL (Gauche Unitaire Européenne / Nordic Green Left). Sie setzt sich aus 52 Abgeordneten aus 14 Mitgliedsstaaten zusammen, darunter auch DIE LINKE. Die Abgeordneten in der GUE/NGL repräsentieren unterschiedliche Positionen zu europapolitischen Fragen. Sie eint die gemeinsame Vision eines sozial gerechten, friedvollen und nachhaltigen europäischen Integrationsprozesses.
Wahlergebnisse sind der verdichtete Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Im Allgemeinen bilden sich die Fraktionen im EP aus Mitgliedern der ihnen nahestehenden Europaparteien. Auch bei den Linksparteien: Seit 2004 gibt es die europäische Partei European Left (EL). Mittlerweile sind 25 Parteien und damit 500.000 Menschen Mitglied. Nicht alle Mitglieder der GUE/NGL sind Mitglied der EL und umgekehrt. Die EL ist nicht auf Parteien aus der Europäischen Union beschränkt, sondern hat z.B. auch Mitglieder aus der Schweiz, der Türkei oder Moldawien.
Im EP existiert seit langem eine informelle «Große Koalition» der europäischen Konservativen und Sozialdemokraten. Durch die Gesetzgebungsregeln im Parlament wird die Dominanz der beiden großen Parteien noch verstärkt. Andererseits gibt es im EP weder ein Koalitionsprogramm und noch den Fraktionszwang, sodass viele Entscheidungen mit wechselnden Mehrheiten getroffen werden. So können auch kleine Fraktionen wie die GUE/NGL Vorschläge erfolgreich einbringen (vgl. Frage 18).
Hierfür sind die Kooperation mit außerparlamentarischen Bewegungen sowie gute Öffentlichkeitsarbeit entscheidend: Die europaweite Kampagne gegen das Freihandelsabkommen TTIP beispielsweise wurde durch linke Abgeordnete gezielt unterstützt. Aber ohne NGOs, Aktivist*innen und Gewerkschaften, die europaweit Netzwerke und Proteste gegen TTIP organisiert haben, wäre das Abkommen heute längst traurige Realität (vgl. Frage 17).
Timo Kühn
17 — Außer meine Stimme abgeben: Was kann ich sonst tun, um die EU zu verändern?
Angesichts der starken Verankerung von Unternehmer-Interessen in den Institutionen der EU haben Wahlen nur eine begrenzte Wirkung. Wenngleich linke Parlamentarier*innen manches erreichen können (vgl. Frage 18), ist der außerparlamentarische Druck auf die Machtzentren der EU unerlässlich. Da viele Entscheidungsprozesse vor allem von Konzernlobbyisten beeinflusst werden, lässt sich dieser Übermacht nur begegnen, wenn Menschen sich von unten organisieren.
Es ist eine strategische Entscheidung, sich dabei auf jene Projekte zu konzentrieren, die das alltägliche Leben von Vielen betreffen und zugleich wesentlich sind, um Brüche im zunehmend autoritär-neoliberalen Entwicklungspfad der EU zu erzeugen. Hierfür bedarf es breiter Allianzen zwischen verschiedenen Akteuren. Ein erfolgreiches Beispiel: Die Bewegung gegen TTIP. Das Freihandelsabkommen mit den USA war ein zentrales Projekt der EU-Kommission und der Konzerne. Heute ist es Geschichte (vgl. Frage 16). Das verdanken wir nicht Donald Trump, sondern dem entschlossenen Widerstand von Millionen von Menschen in Europa und den USA. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie attac, Gewerkschaften, Umweltverbände, Konsument*innen-Organisationen, KleinbäuerInnen u.v.m. ergriffen früh die Initiative, um TTIP zu stoppen.
Von ‹Stop TTIP› lernen: Das Freihandelsabkommen war ein zentrales Projekt der EU-Kommission und der Konzerne. Heute ist es Geschichte dank eines breiten zivilgesellschaftlichen Engagements.
Der Protest gegen TTIP verband unterschiedliche Anliegen miteinander: Bürger*innen, die sich beim Essen nicht vergiften wollen, Gewerkschafter*innen, die Arbeitsrechte verteidigen, oder Gemeinden, die ihre Handlungsspielräume bewahren möchten. Der Widerstand war europaweit vernetzt und richtete sich nicht nur auf die EU-Ebene, sondern immer dorthin, wo er gerade am meisten Wirkung entfaltete, zum Beispiel an die zuständigen Minister*innen oder die nationalen Parlamente. Eine Vielzahl von Aktionsformen wurden erfolgreich kombiniert: Millionen unterschrieben die Bürger*inneninitiative gegen TTIP und CETA, Hunderttausende demonstrierten gemeinsam an europaweiten Aktionstagen. In Brüssel verzögerten Aktivist*innen durch zivilen Ungehorsam die Verhandlungsrunden. Kluge Medienarbeit machte TTIP in vielen Ländern zu einem toxischen Thema. Unternehmer*innen von Klein- und Mittelbetrieben sprachen sich gegen die vermeintlichen Segnungen von TTIP aus. Die Kommission musste immer neue Zugeständnisse machen, bis ihre Position für die US-Regierung schließlich inakzeptabel war. Noch bevor Trump gewählt wurde, war TTIP de facto gescheitert.
Zwar versuchte die Kommission, den Protest als anti-europäisch darzustellen. Doch hat die Anti-TTIP-Bewegung mehr als jede offizielle EU-Politik zur Herausbildung einer transnationalen Zivilgesellschaft beigetragen.
TTIP ist nicht das einzige Beispiel für erfolgreichen Widerstand. Ein breites Bündnis verhinderte erfolgreich die Pläne der EU-Kommission, die Trinkwasserversorgung den Binnenmarktregeln und damit dem Privatisierungsdruck auszusetzen. Diese Erfolge sind vereinten Kräften zu verdanken, die über soziale und geographische Grenzen hinweg den bestehenden Regeln ihren Gehorsam verweigern.
Martin Konecny
18 — Was konnte linke Politik denn bislang erreichen in der EU?
Es ist schwierig, aber nicht unmöglich: Beispielsweise bei parteiübergreifenden Parlamentsvorschlägen für eine neue humanere Flüchtlingspolitik, beim Schutz für Whistleblower oder bei der Debatte um das Urheberrecht und eine gerechte internationale Handelspolitik gelang es, linke Positionen in den Positionen des EP zu verankern. Auch ist es linken Parlamentarier*innen zu verdanken, dass in der EU-Leiharbeitsrichtlinie eine Öffnungsklausel verankert ist. Diese sieht vor, in den Mitgliedsstaaten Regelungen zu treffen, damit Leiharbeiter*innen vom ersten Tag an dieselbe Vergütung wie festangestellten Beschäftigten gezahlt wird. Was aber geschieht in Deutschland? Die Leiharbeitsrichtlinie wurde hierzulande so umgesetzt, dass der gleiche Lohn für gleiche Arbeit erst nach 18 Monaten greifen soll. Dies zeigt eindrucksvoll, dass die Umsetzung europäischer Vorgaben stark von den nationalstaatlichen Kräfteverhältnissen abhängt.
Eine Aufgabe linker Abgeordneter ist, die außerparlamentarischen Stimmen parlamentarisch und medial zu verstärken.
Es gibt auch Themen, bei denen linke Abgeordnete eine kritische Minderheitenposition im Parlament beziehen, insbesondere wenn sie sich gegen Aufrüstung, die Macron-Merkel-Pläne für eine Europäische Armee und die mangelnde Kontrolle von Rüstungsexporten aussprechen. Ebenso betrifft dies die Kritik an der anhaltenden Steuerflucht sowie der demokratisch nicht kontrollierten EU-Finanzpolitik – ein nicht aufgearbeitetes Kapitel seit der Finanzkrise 2008. Der Auftrag linker Abgeordneter ist hier, die außerparlamentarischen Stimmen parlamentarisch und medial zu verstärken. Durch ihre Mitarbeit im Lux-Leak-Sonderausschuss und beim VW-Diesel-Abgas-Untersuchungsausschuss konnten gravierende Missstände herrschender europäischer Politik erfolgreich öffentlich gemacht werden. Der VW-Diesel-Abgas-Untersuchungsausschuss stellte klar heraus, dass der Betrug vermeidbar gewesen wäre, also wesentliche politische Regulationen versagt haben. Eine Konsequenz aus dem Lux-Leak-Ausschuss ist immerhin, dass die EU-Kommission endlich Verbindliches zum Schutz von Whistleblowern vorlegt hat.
All dies lässt sich nicht allein durch Ausschuss- und Parlamentsarbeit bewerkstelligen. Es geht darum, in Anhörungen, Fachgesprächen, Publikationen etc. gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen, Vereinen und Verbänden Themen zu setzen und diese dann über Jahre hinweg akribisch bekannt zu machen, gerade auch außerhalb des Parlaments. Hier ist die kontinuierliche Zusammenarbeit entscheidend, ebenso mit InteressensvertreterInnen der Regionen.
Durch diesen mehrgleisigen Handlungsansatz linker Europapolitik kommt auch die undemokratische Verfasstheit der EU-Institutionen auf den Tisch (vgl. Frage 17). Weil dieses Demokratiedefizit viele Menschen – zu Recht – kritisch auf die EU blicken lässt, versucht eine in Europa gut vernetzte Neue Rechte, daraus Kapital zu schlagen. Deshalb ist es auch wichtig, mit einer visionären linken Europapolitik und vielen konkreten politischen Projekten, wie bspw. der Europäischen Arbeitslosenversicherung, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung präsent zu sein.
Konstanze Kriese
Die Autor*innen
- Wenke Christoph ist Referentin im Europareferat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
- Stephan Kaufmann arbeitet als Wirtschaftsjournalist in Berlin.
- Martin Konecny arbeitet für das handelspolitische Netzwerk Seattle to Brussels und ist Redakteur beim Mosaik-Blog.
- Timo Kühn ist Büroleiter bei dem Europaabgeordneten Martin Schirdewan. Vorher war er als Redakteur in der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag beschäftigt.
- Konstanze Kriese ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet derzeit im Europäischen Parlament für die Abgeordnete Martina Michels mit besonderem Fokus auf Kultur, Medien, Netzpolitik, Urheberrecht und zu den EU-Türkeibeziehungen. Sie betreibt einen eigenen Blog, ein kleines Archiv mit politischen Essays und Texten auf www.kasonze.de.
- Antonella Muzzupappa ist Referentin für Politische Ökonomie in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
- Lukas Oberndorfer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung EU & Internationales der Arbeiterkammer (gesetzliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer*innen in Österreich.
- Anne Steckner ist politische Bildnerin für DIE LINKE und andere Organisationen und Gruppen der gesellschaftlichen Linken.
- Felicitas Weck ist Referentin der Bund-Länder-Koordination der Linksfraktion und aktive Kommunalpolitikerin im Rat der Stadt Langenhagen.
Zum Weiterlesen:
- Attac Österreich (Hrsg.) (2017): Entzauberte Union. Warum die EU nicht zu retten und ein Austritt keine Lösung ist, Mandelbaum Verlag
- Felix Syrovatka/Etienne Schneider/Thomas Sablowski (2018): Zwischen stiller Revolution und Zerfall. Der Kapitalismus in der Europäischen Union nach zehn Jahren Krise, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Analysen 49.
- Klaus Busch/Axel Troost/Gesine Schwan/Frank Bsirske (2016): Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union, VSA Verlag.
- Axel Troost/Rainald Ötsch (2018): Chance vertan. Zehn Jahre Finanzkrise und Regulierung der Finanzmärkte – Eine Bilanz, hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Analysen 47.