Ein Staats- und Parteiverständnis scheitert

7. Mai 1989: Die manipulierten Kommunalwahlen als Initialzündung des Systemsturzes. Beitrag von Lutz Brangsch

Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist offensichtlich gestört. Das war 1989 so. Und das gilt heute wieder.

(aus einer Erklärung ehemaliger DDR-Oppositioneller vom Dezember 2001)

Die «guten» Wahlergebnisse in der DDR hatten schon immer Verwunderung ausgelöst. Sie waren, jenseits der Möglichkeit der Fälschung, aber durchaus erklärbar: die Art der Aufstellung der Kandidaten und die Zusammenstellung der Wahlliste schloss Kampfkandidaturen aus; eine Streichung von Kandidaten von der Liste im Wahlakt war wohl theoretisch, praktisch aber nicht ohne die Gefahr, später Repressionen ausgesetzt zu sein, möglich, da das Benutzen der Wahlkabine nicht obligatorisch war; und die Ergebnisse wurden mit weitgehender Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen.

Die durch die Verfassung gewährleisteten demokratischen Wahlen (Art. 21) wurden so ausgehöhlt – begründet wiederum mit dem in der Verfassung ebenfalls fixierten Anspruch der Führungsrolle der SED (Art. 1) und dem Charakter des Staates als «politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land», die als Diktatur des Proletariats interpretiert wurde. Daneben traten verschiedene Wege der systematischen Repression gegen potentielle Nein-WählerInnen und WahlverweigerInnen. Auch konnte man in der DDR bis 1989 nicht von einer organisierten Opposition sprechen. All dies, wie auch die Fälschungen selbst, sind in den letzten Jahren hinreichend dokumentiert. (z.B. https://www.demokratie-statt-diktatur.de/stasi-und-die-menschenrechte/freie-wahlen/?nn=4755424)

Wahlplakate für die Kommunalwahlen 1989 Foto: tridesign / Wilfried Klink

Innerparteilich waren die Wahlbeteiligung und die Zahl der JA-Stimmen zu einem Wettbewerb verkommen, der sich völlig von den Problemen und Widersprüchen der Realität gelöst hatte. Peter Porsch, viele Jahre dann Vorsitzender der PDS bzw. Linken in Sachsen und Mitglied des sächsischen Landtages, beschreibt sein Erleben der Kommunalwahl in seiner Eigenschaft als Sekretär der SED-Grundorganisation der Sektion Germanistik und Literaturwissenschaften an der Universität Leipzig wie folgt:

«Nach Schließung des Wahllokals, in dem unter anderen auch noch die Studierenden der Sektionen Theologie und Kultur- und Kunstwissenschaften wählten, kam es zu Unstimmigkeiten bei der Auszählung, die einige Anwesende monierten. Aus diesem Grund wurde zweimal ausgezählt und das Ergebnis mit … 75 Prozent Zustimmung für die Kandidatinnen und Kandidaten der Nationalen Front festgestellt… Mit Verspätung wegen der doppelten Auszählung kam ich in die Kreisleitung… Schell fragte man mich … nach dem Ergebnis im Wahllokal und schnell antwortete ich «75 Prozent, das soll uns erst wer nachmachen!» Das Knarren in den Gesichtern des 1. Kreisparteisekretärs und der Mitglieder des Sekretariats war deutlich zu hören, als sie unvermittelt wegen dieser Nachricht erstarrten. Sie passte so gar nicht zu dem zu verkündenden und offensichtlich schon vorher festgelegten Wahlergebnis… Die knapp 99 Prozent waren am nächsten Tag dennoch verkündet. Woher aber nahmen sich die Verantwortlichen das Recht dazu?» (Porsch, Peter (2010). Kontroversen und Geschichten, in: Herbst 1989. «Wir sind das Volk» - DIE LINKE und der Herbst ’89 in Sachsen. Reader zur Konferenz am 28. März 2009 in Dresden-Hellerau, Dresden: Landesvorstand der Partei DIE LINKE. Sachsen / Verein für Linke Bildung und Kultur für Sachsen e.V., 37–39, S. 38)

Was stand hinter dieser Anmaßung auf der einen und dem Vertrauens- und Akzeptanzverlust auf der anderen Seite? Die anhaltend hohe Zahl von legalen oder illegalen Ausreisen in BRD war ein äußeres Zeichen. Eine Untersuchung von Peter Förster unter Jugendlichen kam zu dem Ergebnis, dass von 1985 bis zum Oktober 1988 die Rate der Identifikation von Lehrlingen mit der DDR in der Kategorie «starke Ausprägung» von 51% auf 18% fiel, dafür in der Kategorie «mit Einschränkungen» von 43 auf 54 Prozent und in der Kategorie «kaum/nicht» von 6 auf 28 Prozent stieg. (Förster, Peter/Roski, Günter (1990). DDR zwischen Wende und Wahl: Meinungsforscher analysieren den Umbruch 1. Aufl., Berlin: Links-Druck-Verl.) Zahlreiche Studien verwiesen in den 1980er Jahren auf die Schwächen des entstandenen Systems im Kernbereich der Legitimation einer nachkapitalistischen Ordnung, in der Sozial- und Umweltpolitik.

Entgegen dem Anspruch wurde vor allem die Sozialpolitik immer ressorthaft betrieben und blieb, wie die von Gunnar Winkler veröffentlichten Studien aus den Jahren 1985-1989 zeigen, trotz aller Erfolge hinter den Ansprüchen des Abbaus sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zurück. (Winkler, Gunnar (2018). Friedliche Revolution und deutsche Vereinigung 1989 bis 2017. Bd. 1. [1985-1989] 1. Auflage., Berlin: Trafo) Die in diesen Studien ermittelten Daten waren der Führung der bekannt, wurden aber unter Verschluss gehalten, waren nicht offen diskutierbar. Weder in der Öffentlichkeit, noch in der SED oder anderen Parteien und Organisationen war das möglich. Der Widerspruch zwischen dem von offizieller Seite gezeichneten Bild und der täglichen Realität wurde immer offensichtlicher. Die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft war nicht nur «gestört”, sie wurde von entscheidenden Teilen der Apparate nicht gewollt.

Die Wahlfälschungen waren ein Teil dieser Verhinderungsstrategie, die Distanzierung von den Versuchen Gorbatschows, die Entwicklung der Sowjetunion mit den Strategien der Perestroika (Umbau), Glasnost (Transparenz) und Uskorenie (Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung) auf eine neue Grundlage zu stellen, eine andere. Über 40 Jahre waren Parteien und Organisationen intern wie auch gegenüber der Gesellschaft kommunikationsunfähig geworden. So blieben Versuche der Neubewertung von demokratischen Werten, wie sie etwa in dem gemeinsam von Vertretern der SPD und der SED erarbeitete Dialogpapier «Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit» (1987) zum Ausdruck kam, jenseits der akademischen Diskussion, auf der gesellschaftsstrategischen Ebene, folgenlos. Allerdings, so vermerkt Rolf Reißig, einer der Mitautoren des Papiers, habe die «Politik des Dialogs …, anders als die der Konfrontation, entscheidend zur Zivilisierung des epochalen Ost-West-Konflikts und zur Öffnung der geschlossenen Ost-West-Strukturen beigetragen, partiell die politische Kultur in der DDR und selbst die innerhalb der SED verändert, dort das demokratisch-sozialistische Potenzial gestärkt und schließlich zum friedlichen Verlauf des zunächst nichtintendierten Umbruchs 1989 beigetragen.»

Wie immer man die Prozesse im Detail bewerten mag - die Ergebnisse dieser Politik bestätigten eindrucksvoll Rosa Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki: «Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt.» (Luxemburg, Rosa (1974). Zur russischen Revolution, in: Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 4 August 1914 bis Januar 1919, Berlin: Dietz Verlag, 332–365, S. 360)

Das Bedürfnis, «Fehlgriffe» zu korrigieren führte nach den Wahlen vom Mai 1989 zu einer zunehmenden Politisierung auch von Menschen, die sich bis dahin als ZuschauerInnen verstanden hatten. Die Auseinandersetzungen um die Wiederherstellung des «schäumenden Lebens» und der «gestörten Kommunikation» zog sie in eine dramatische Entwicklung – seien sie für oder gegen die DDR, für oder gegen einen Sozialismus gewesen. Staat und SED erwiesen sich diesem «schäumenden Leben» nicht gewachsen…