Ein Sammelband zur Geschichte der «ostdeutschen» Antifa in den letzten 30 Jahren fragt nach historischen Entwicklungslinien, nach Impulsen von Antifa-Mobilisierung und -Organisierung, nach Militanz-Verständnis, Aktionsfeldern oder Debatten- und Kritikpunkten der Antifa-Bewegung in Ostdeutschland – und nach ihrer ganz besonderen Situation, aus den Grenzen des DDR-Staatsantifaschismus (heraus) wachsen zu müssen.
Die «erste große Party nach dem Mauerfall» wird es gewesen sein, erzählt Antifa-Aktivist Paul den Herausgeber*innen im Interview für einen ihrer Texte für «30 Jahre Antifa in Ostdeutschland». Damals sei er im Berliner Mehringhof in Kreuzberg 61 mit Westberliner*innen ins Gespräch gekommen und habe neugierig gefragt, «ob sie sich für die DDR oder [für] Ostberlin interessiert [hätten], als die Mauer noch stand. Die Antwort: ‚Gar nicht, Kuba war uns näher.’» Und Paul? Ist aus allen Wolken gefallen, sagt er heute, als er hörte, dass die paar Meter zwischen Kreuzberg und Prenzlauer Berg länger sein sollten, als der Atlantik breit.
So stellt sich, wer den etwas mehr als 200 Seiten starken Sammelband in der politischen Buchhandlung irgendwo zwischen Düsseldorf, Dortmund, Freiburg, Passau, Kiel oder Helmstedt findet, vielleicht auch zuerst die vermeintlich naheliegende Frage: Warum setzen sich Menschen hin und schreiben ein Buch über die Geschichte der Antifa in Ostdeutschland? Über etwas, was lange Jahrzehnte her ist und verdammt weit weg. Weiter als Kuba! Die Antwort ist simpel: Weil es die «Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung» sind – so der Untertitel des Buches –, die auch für uns hier und heute wichtig sind, wenn wir an morgen denken und uns fragen, wo wir lokal, wo wir freundschaftlich-konstruktiv vernetzt in Deutschland, wo wir international verbunden stehen oder stehen könnten. Wenn wir uns Gedanken darüber machen wollen, wie «Antifa» heute möglich und relevant sein und (wieder) werden kann. Heute, in Zeiten, in denen Neonazis unter dem Banner von «White Supremacy», «Combat 18», den «Jeune Nationaliste Révolutionnaire», von freien Kameradschaften oder Nazi-Parteien von «Chrysi Avgi» bis «Der III. Weg» Menschen angreifen, die ihnen nicht in ihr Weltbild passen. Sei es in Neukölln, in Dresden, München oder Wuppertal, in Athen, Paris oder im US-amerikanischen Charlottesville.
Es kann zweifellos nur gut sein, wenn wir einen fundierten und kritischen Blick zurückwerfen und dabei anerkennen, dass die radikale westlich sozialisierte Linke einen Teil der eigenen Bewegungsgeschichte bislang gar nicht aufmerksam bearbeitet haben. Allzu oft haben wir uns (noch) nicht bewusst gemacht, wie auch andernorts und unter ganz anderen Voraussetzungen erfolgreiche Entwicklungen ausgesehen haben, was aus welchen Gründen anders gelaufen ist als in unserem ‚eigenen’ Kiez und welche Debatten oder Konflikte wir selbst so oder ähnlich erinnern und uns heute noch wundern, wieso wir uns in Analyse und politischer Praxis häufig so aufreiben mussten – zum Beispiel an Fragen von Sprechpositionen oder hegemonialer ‚Männlichkeit’. Und all das greifen die 12 Autorinnen und Autoren auf.
Gemeinsam gegen Rechts, oder?
So finden wir in «30 Jahre Antifa in Ostdeutschland» wichtige Beiträge zu einem bisher unerforschten und nahezu unbekannten Teilgebiet der Geschichte sozialer Bewegungen. Die insgesamt elf Beiträge beschäftigen sich auf ganz unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Blickwinkeln mit selbstorganisiertem Antifaschismus von circa 1987 bis 2016 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR beziehungsweise der fünf neuen Bundesländer.
Einleitend werden der Staatsantifaschismus und die tabuisierte Existenz von Neonazis in der DDR dargestellt. Danach folgen Studien, die entweder einzelne Städte (wie Guben, Potsdam oder Ost-Berlin), verschiedene politische Standpunkte (»Antideutsche«) oder allgemeiner die Dimensionen der antifaschistischen Praxis und Organisierung in den 1990er und 2000er Jahren reflektieren. Diese geriet ab dem Antifa-Sommer 2001 ins neu entstandene Kräftedreieck von Zivilgesellschaft, Staat und antifaschistischer Bewegung. Beim Lesen der Texte wird zugleich immer wieder vor allem auch die immense Bedeutung alternativer Orte deutlich, seien es Bürgerbüros, besetzte Häuser, kirchliche Einrichtungen oder (unabhängige) Jugendzentren, gerade in kleineren Städten.
Formal wechseln sich eher akademische Artikel mit solchen ab, die aus biographischen Interviews mit Zeitzeug*innen, also an den Auseinandersetzungen und Organisationsprozessen Beteiligten, stammen. Gerade die zitierten Interviewpassagen dokumentieren eindrücklich, wie antifaschistische Aktivität oftmals erst als Reaktion auf Nazi-Angriffe entsteht. Aber auch die Widersprüche werden deutlich, wo die Organisierung andere Ausgangspunkte hat. So werden besetzte Häuser (in Potsdam sind es zeitweise fast 80) schnell zum Ziel von Nazi-Attacken. Die Freiräume werden in Reaktion auf die Angriffe – zum Schutz – in »Käfige« (S. 55) umgebaut. Und jenseits der eigenen Räume? Wie verhält es sich da? Gleich mehrere Beträge zeichnen die Überheblichkeit der « West-Antifa» ausführlich nach. Deren Blick über die abgerissene «Mauer» auf die Ost-Antifa war, so zeigen die Autor*innen, der aus einer Defizitperspektive. Und zumindest in den 1990er Jahren agierten westdeutsche Antifa-Strukturen auch dementsprechend, wie manche Beiträge umfassend dokumentieren – und zu Recht kritisieren.
Zum Schluss finden sich zwei fundierte Artikel über feministische Antifa-Politik beziehungsweise Frauen in der Antifa einerseits und einer über das nicht immer konfliktfreie Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und radikaleren Antifa-Strömungen im Leipzig der letzten Jahre andererseits.
Der Band bietet viele Perspektiven auf ein wichtiges, wenn auch tendenziell tristes Thema; zeigen die Beiträge doch die Existenz eines verfestigten nazistischen Milieus in weiten Teilen der Gesellschaft. Das preiswerte Buch zeigt aber auch die Kraft selbstorganisierter Initiativen. Initiativen die, wenn sie etwas Kontinuität entwickeln können, auch Wirkungsmacht haben. Mit den Beschreibungen und konstruktiven Rückblicken im Gepäck sind sich Leipzig und Dresden, Köln, Düsseldorf, Hamburg oder Berlin im gemeinsamen Sinne vielleicht doch nicht mehr so fern. Auch wenn Kuba immer noch hinter dem Atlantik liegt.
Christin Jänicke/Benjamin Paul-Siewert (Hrsg.): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung; Dampfboot Verlag, Münster 2017, 209 Seiten, 20 EUR
Das Erscheinen dieses Buches (Inhaltsverzeichnis als PDF) wurde von der RLS finanziell gefördert.