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Sieben Jahre nach der Revolution lässt die erhoffte Demokratiedividende auf sich warten. Ein neues Finanzgesetz treibt viele Tunesier auf die Straße.

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Sarah Mersch,

Tunis, 13. Januar 2018: Protest gegen die steigenden Preise und Steuererhöhungen
Tunis, 13. Januar 2018: Protest gegen die steigenden Preise und Steuererhöhungen, REUTERS/Zoubeir Souissi

Mehr als achthundert Festnahmen, so lautet die Bilanz des Innenministeriums nach einer bewegten Woche in Tunesien. Im ganzen Land kam es rund um den siebten Jahrestag des politischen Umbruchs zu Protesten. Akuter Auslöser in einer von wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägten Situation war ein neues Finanzgesetz, das zeitgleich mit dem Haushalt zum Jahresbeginn in Kraft trat. Die Bewegung «Fech nestannaou» (Worauf warten wir noch), die sich hauptsächlich aus jungen Arbeitslosen und StudentInnen zusammensetzt, hatte zum Protest gegen die Maßnahmen aufgerufen. Neben friedlichen Protesten kam es dabei auch immer wieder zu Auseinandersetzungen von Demonstranten mit der Polizei und vereinzelten Plünderungen.

In Tebourba, einer verarmten Kleinstadt rund eine Stunde westlich der Hauptstadt Tunis, kam ein Demonstrant unter ungeklärten Umständen ums Leben. Während seine Angehörigen angaben, er sei bei Protesten von einem Polizeiwagen überrollt wurden, erklärten die tunesischen Behörden, dass er aufgrund bereits bestehender gesundheitlicher Probleme an Tränengas erstickt sei.

Das Gesetz, gegen das sich die Wut der Straße richtet, sieht unter anderem eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent und höhere Preise für Kraftstoffe vor. Darüber hinaus werden Immobiliengeschäfte höher besteuert, auch Unternehmen zahlen künftig höhere Abgaben auf ihre Dividenden.

«Alles ist teurer geworden. Fleisch essen wir schon lange nicht mehr, aber selbst Tomaten sind heute Luxus», schimpft die Mittdreißigerin Emna Ouini, die in Tunis demonstrieren gegangen war. Tatsächlich sind die Preise für Rindfleisch und Gemüse im vergangenen Jahr um mehr als zehn Prozent gestiegen. Die Inflationsrate lag bei mehr als sechs Prozent. Dem stand ein Wirtschaftswachstum von rund zwei Prozent entgegen – an sich eine deutliche Verbesserung im Vergleich zu den vorherigen Jahren, doch bei weitem nicht genug, um Tunesien aus der akuten wirtschaftlichen Krise zu befreien. Premierminister Youssef Chahed versprach dennoch, 2018 werde «das letzte schwierige Jahr.» Das Land befinde sich auf dem richtigen Weg, so der junge Regierungschef, der im August 2016 mit vielen Vorschusslorbeeren und einer fulminanten Antrittsrede voller Reformversprechen sein Amt aufgenommen hatte. Doch die Bevölkerung ist zunehmend weniger optimistisch. 91 Prozent stuften in einer repräsentativen Umfrage des IRI/typo3/im November vergangenen Jahres die wirtschaftliche Situation als schlecht ein. 83 Prozent glauben, Tunesien entwickle sich in die falsche Richtung.

Viele DemonstrantInnen und OppositionspolitikerInnen werfen der Regierung vor, keine klare Vision zu haben, wie sie das Land aus der Krise führen könne. Stattdessen verwalte sie nur den Status Quo und beuge sich den Vorgaben internationaler Geldgeber, allen voran des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dieser ist mit rund 2,9 Milliarden Euro einer der wichtigsten Kreditgeber des Landes. Tunesien ist auf die Gelder angewiesen, um seinen aufgeblasenen Beamtenapparat zu finanzieren. Rund die Hälfte des Staatshaushaltes fließt jährlich in Gehälter. Diesen Apparat zu verkleinern, Subventionen abzubauen und das Steuersystem zu reformieren sind einige der wesentlichen Bedingungen, an welche die Gelder des IWF geknüpft sind. Gleichzeitig haben Reformen in diesem Bereich potentiell massive Auswirkungen auf gerade ärmere Bevölkerungsschichten. Die aktuellen Proteste zeigen, welches Konfliktpotential in diesem Thema steckt.

Das tunesische Observatorium der Wirtschaft (OTE), ein nicht-staatlicher ThinkTank, warnt davor, dass das Land in eine Schuldenspirale abgleitet. Denn seit 2017 muss Tunesien eine Reihe an Krediten zurückzahlen, die vor allem in den Anfangsjahren nach dem Umbruch 2011 aufgenommen wurde. Mehr als ein Fünftel des Staatshaushalts von rund 36 Milliarden Dinar (12 Milliarden Euro) gingen für die Schuldentilgung drauf, so die Berechnungen des OTE. Ein deutliches Handelsdefizit und ein massiver Kursverfall des tunesischen Dinars über die vergangenen Jahre sorgen zusätzlich dafür, dass die Perspektiven für die tunesische Wirtschaft eher düster sind.  

Als Reaktion auf die Proteste verkündete die Regierung am Vorabend des 14. Januar ein erstes Maßnahmenpaket von rund 100 Millionen Dinar, das unter anderem eine Grundsicherung für Bedürftige und kostenlose medizinische Versorgung für Arbeitslose vorsieht. Eine Erhöhung des Mindestlohnes, auf die der tunesische Gewerkschaftsverband UGTT gedrängt hatte, wurde hingegen nicht umgesetzt.

Während die Proteste in den vergangenen Tagen etwas abgeflaut sind, mehren sich die Stimmen, die davor warnen, die Unruhen zu nutzen, um autoritäre Praktiken zu rechtfertigen. Ein Bericht der International Crisis Group bescheinigt Tunesien massive Defizite in der Anwendung und Umsetzung der 2014 verabschiedeten Verfassung. Dies könnte zu einem Rückfall in Praktiken aus der Zeit der Diktatur führen, da wichtige demokratische Garantien wie beispielsweise das Verfassungsgericht nach wie vor nicht geschaffen wurden. Amnesty International und das UN-Menschenrechtskommissariat hatten sich während der Proteste und angesichts der hohen Anzahl an Verhaftungen besorgt um den Umgang der tunesischen Behörden mit den DemonstrantInnen gezeigt und dazu aufgerufen, das Demonstrationsrecht zu garantieren.

Mit den Kommunalwahlen, die mehrfach verschoben wurden und nun Anfang Mai stattfinden sollen, steht für die Regierung die nächste Nagelprobe an. Während einige BeobachterInnen darin einen ersten Schritt für eine konkrete Umsetzung der angestrebten Regionalisierung des Landes sehen, fürchten andere, dass die Wahlbeteiligung aufgrund des vorherrschenden politischen Frusts im Lande nur gering ausfallen wird.
 

Sarah Mersch lebt und arbeitet seit 2010 in Tunesien, wo sie seit 2011 den politischen Umbruch, erste demokratische Gehversuche und Rückschläge miterlebt und beschreibt. Sie arbeitet hauptsächlich für Radio, Print und Web und ist Teil des Weltreporter-Netzwerkes. Erreichbar ist sie unter mersch@weltreporter.net.