Nach über 120 Jahren ist der wichtigste deutschsprachige Text des Anarchismus zum Thema Genossenschaften wieder verfügbar. »Ein Weg zur Befreiung der Arbeiter-Klasse« lautet der Titel der erstmals zum 1. Mai 1895 in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erschienenen Broschüre. Sie bildet den Haupttext des gleichnamigen 14. Bandes der Ausgabe ausgewählter Schriften des Sozialisten Gustav Landauer. Ein Anhang von mehr als 30 zeitgenössischen Texten führt die kontroverse Debatte um die Stellung der Genossenschaft in der anarchistischen Bewegung wieder vor Augen.
Die Broschüre selbst warb für die »Vereinigung des Konsums« als wichtigen ersten Schritt »im Befreiungskampf der Arbeiter« (75), noch vor der Gründung von Produktivgenossenschaften, und für den Eintritt in die kurz zuvor in Berlin gegründete Arbeiter-Konsumgenossenschaft »Befreiung«, die während ihres nur fünfjährigen Bestehens Filialen in Kreuzberg, Rixdorf (Neukölln) und Adlershof unterhielt.
Im Unterschied zu anderen Konsum- und Sparvereinen der Zeit war die »Befreiung« als regelrechte Kampforganisation konzipiert. Die bislang achtlos zu beliebigen Händlern getragene Kundschaft galt als potenziell mächtige Waffe. Zwar wurden auch regionale, unverfälschte und günstige Produkte angeboten, etwa aus einer Genossenschaftsbäckerei und aus der »Obstbaukolonie Eden« bei Oranienburg. Doch das Hauptziel war ausdrücklich nicht »das Sparen der einzelnen Arbeiter« (86), sondern der Aufbau einer wirtschaftlichen Machtbasis durch die Organisation der Kundschaft und die »Umgehung des Zwischenhandels« (82). Aus dem kollektiv einbehaltenen Handelsprofit sollten in einem zweiten Schritt Produktivgenossenschaften gegründet werden, »die in unlöslicher Verbindung mit dem Konsumverband stehen« (82). Nach dem Handelskapital sollte so auch das industrielle Kapital ausgeschlossen werden und allmählich eine »Arbeitergesellschaft innerhalb der bürgerlichen Welt« (87) entstehen.
Produktivgenossenschaften, die etwa aus Streiks und ohne organisierten Kundenkreis entstünden, würden sich in der kapitalistischen Konkurrenz regelmäßig nicht behaupten. Beinahe voraussetzungslos und daher der bessere erste Schritt auf dem Weg zur genossenschaftlichen Produktion, sei indes die Organisation des Konsums.
Am 1. Oktober 1895 öffnete das erste Ladenlokal der »Befreiung« auf der Kottbusser Str. 11. Auch hierbei kam das in der Broschüre vertretene Prinzip der »Selbsthilfe« (68) zur Anwendung: »Männer, die sich den ganzen Tag redlich geplagt hatten, sie kamen des Abends mit Hammer, Säge und Meißel und schnitten, hobelten und leimten, dass es nur so eine Lust war. « (21 f)
Doch hatte die »Befreiung« von vornherein auch mit Problemen zu kämpfen. Anfeindungen von verschiedenen Seiten blieben nicht aus. Selbst Anarchisten wollten ihr »Ideal« nicht durch praktische Versuche »von seiner erhabenen, reinen Höhe herabgezerrt« (228) sehen. Zudem war die Kundschaft über das ganze Stadtgebiet verstreut, so dass man sogar daran ging, einen Versand einzurichten. Der Umsatz war zu keiner Zeit sehr hoch und die Mitgliederzahl hat die 300 wohl nie überschritten. Dennoch bildet die »Befreiung« ein eigenes Kapitel in der Geschichte der Genossenschaften in Deutschland. Und sie ist ein Lehrstück des »praktischen Sozialismus« (65), der sofort daran geht, eine neue Welt in die alte hineinzubauen, um das Problem des Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsformation zu lösen.
Neben eher strategischen Erwägungen sind die »Beziehungsarbeit« (230) im Rahmen der Genossenschaft und deren »kulturelle Bedeutung« (31) wiederkehrende Themen des Bandes.
Bemerkenswert ist auch die umfangreiche Einleitung des Herausgebers Siegbert Wolf, welche die Gründung, die Wechselfälle und das Aufgehen der Genossenschaft »Befreiung« im »Berliner Konsumverein« im Jahr 1900 detailliert nachzeichnet. Nur beiläufig erwähnt wird allerdings Paul Pawlowitsch (52), ein wichtiger Gegenspieler Landauers und energischer Gegner der Genossenschaftsbewegung. (Das »Rote Antiquariat« in Berlin verkauft derzeit seinen umfangreichen, erst 2010 wiedergefundenen Nachlass.)
Besonders lesenswert aus heutiger Sicht sind auch einige Texte, in denen beteiligte Akteure noch aus der historischen Nähe das Entstehen des Anarchismus in Deutschland und die Geschichte der anarchistischen Genossenschaftsbewegung schildern. Wo der Bauschlosser Wilhelm Wiese – auf dessen Anregung die Gründung der „Befreiung“ zurückging – in einem dieser Texte die »Kosenamen« (244) aufzählt, mit denen er und seine Mitstreiter*innen damals bedacht wurden, ist auch Pawlowitsch indirekt präsent, der seinerzeit vom »Krämer-Anarchismus« sprach und sich Wieses Replik des »Phrasen-Anarchismus« gefallen lassen musste. »Es ist endlich an der Zeit«, so hatte bereits Landauer in dieser Diskussion geschrieben, »aufzuhören, frühere Revolutionen mechanisch nachstammeln zu wollen; der Umschwung, der an die Stelle der bürgerlichen die sozialistische Gesellschaft setzen wird, wird ohne Vorbild in der Vergangenheit gewesen sein, und ganz etwas anderes tut uns heute Not, als die Vorbereitung von Gewalttaten. [...] Ich sage nicht: Erst zerstören, dann aufbauen! Das überlasse ich denen, die in dem allgemeinen Chaos für sich eine Herrscherrolle herausfischen wollen. Vielmehr sei unsere Losung: Erst aufbauen! In der Zukunft wird es sich herausstellen, ob überhaupt noch etwas Zerstörenswertes aufrecht stehen geblieben ist.« (173)
Gustav Landauer: Ein Weg zur Befreiung der Arbeiter-Klasse, Ausgewählte Schriften Bd. 14, Verlag Edition AV 2018, 331 Seiten, 18 Euro