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Bemerkungen zu den Wahlen in Bosnien-Herzegowina.

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Bild: radiosarajevo.ba

Bosnien-Herzegowina, so einer seiner bekanntesten Dichter Branko Ćopić, ist ein Land voll Zauber, ein Land, in dem Elfen von Drachen heimgesucht werden. Seit dem blutigen Bürgerkrieg in den 1990er Jahren ist es zudem ein Land, in dem die Bürger und Bürgerinnen von einer Kompradoren-Bourgeoisie heimgesucht werden, die sich in einer Vielzahl zumeist nationalistischer Parteien organisiert hat und das komplette Land wirtschaftlich, politisch, kulturell, moralisch und institutionell ausbeutet.

Den legislativen Rahmen dazu bietet der Friedensvertrag von Dayton, der dem Land eine ethno-nationale Grundstruktur verpasst hat. Entitäten wie die Republika Srpska und die Föderation Bosnien-Herzegowina haben sich seit 1995 wie eine Würgeschlange um das Land gewunden und nehmen buchstäblich jeder, auch noch so kleinen, emanzipatorischen Widerständigkeit jegliche Luft zum Atmen. Gestützt, weil als politisch alternativlos dargestellt, wird dieses Konstrukt von der internationalen Gemeinschaft in Gestalt ihres Hohen Repräsentanten für Bosnien-Herzegowina.

Politisch fatal ist des Weiteren die politische Einmischung der beiden Nachbarstaaten, Kroatien und Serbien. Nicht nur, dass sie teils offen, teils verklausuliert, die territoriale Integrität des Landes in Frage stellen. Beide Staaten instrumentalisieren insbesondere in Wahlkampfzeiten die in Bosnien-Herzegowina lebende kroatische und serbische Bevölkerung für jeweils eigene innenpolitische Zwecke, finanzieren und unterstützen kroatische und serbische nationalistische Parteien, und stellen sich bei Bedarf auch über die Verfassung ihres Nachbarlandes, wenn etwa das Wahlergebnis nicht so ausgefallen ist, wie es sich die Think-Tanks in Zagreb oder Belgrad vorgestellt und gewünscht haben.

Die politische Elite der bosnischen Muslime hingegen, mehrheitlich organisiert in der «Partei der demokratischen Aktion» (SDA), betrachtet das Land als ihr ureigenes Eigentum. Sie geriert sich in der Öffentlichkeit als einzige politische Kraft, die sich für die Ganzheitlichkeit des Staates ausspricht, beutet aber in Praxis das Land gnadenlos aus und privatisiert alle verfügbaren Ressourcen in den Dienst der Parteimaschinerie.

Die am 7. Oktober 2018 abgehaltenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Bosnien-Herzegowina bestätigen den skizzierten politischen Habitus, weisen aber gleichzeitig auch darüber hinaus.

Zahlenwerk

Für Außenstehende mag es auf den ersten Blick nicht ganz ersichtlich sein, was und wen die etwa 3,3 Millionen Wahlberechtigten am 7. Oktober überhaupt wählen konnten. Gewählt wurden das gesamtstaatliche Parlament Bosnien-Herzegowinas, die sogenannten „Entitätsparlamente“ der Republika Srpska und der Föderation sowie die Vertreter des dreiköpfigen Staatspräsidiums – je ein Vertreter der bosnischen Muslime, Kroaten und Serben. In der politischen Berichterstattung, sowohl im In- als auch im Ausland, dominierte als Thema vor allem die Wahl des Staatspräsidiums, und dies obwohl dieses Amt formal keine weitreichenden politischen Vollmachten besitzt. Trotz seiner politisch-praktischen Belanglosigkeit, stellt das dreiköpfige Staatspräsidium aber eine Art kondensiertes Abbild des politischen Systems Bosnien-Herzegowinas dar, und jede noch so unbedeutende Verschiebung innerhalb der eingespielten nationalistischen Architektur löst geradezu panische Reaktionen des politischen Establishments aus.

Innerhalb der als muslimisch-kroatische Föderation bezeichneten Entität «Föderation Bosnien-Herzegowina» konnten die Wählerinnen und Wähler den muslimischen und kroatischen Vertreter im Staatspräsidium wählen. Denkbar knapp, doch letztlich siegreich war Šefik Džaferović, Kandidat der nationalkonservativen muslimischen SDA, der mit knapp 37% der abgegebenen Stimmen zwei Prozentpunkte mehr als sein Herausforderer Denis Bećirović von der «Sozialdemokratischen Partei Bosnien-Herzegowinas» (SDP BIH) erhielt.

Für mehr Aufsehen sorgte die Wahl des kroatischen Vertreters im Staatspräsidium. Željko Komšić von der als sozialdemokratisch zu bezeichnenden «demokratischen Front» (DF) bezwang mit etwa 55% der Stimmen am Ende recht komfortabel den bisherigen Amtsinhaber Dragan Čović von der nationalkonservativen «Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft Bosnien-Herzegowina» (HDZ BIH), der auf knapp 35% der Stimmen kam.

In der «Republika Srpska» konnte das Elektorat den serbischen Vertreter bzw. die Vertreterin wählen, und es siegte mit 54% der Stimmen wenig überraschend Milorad Dodik vom in dieser Entität uneingeschränkt regierenden «Bund unabhängiger Sozialdemokraten» (SNSD).

Im gesamtstaatlichen Parlament Bosnien-Herzegowinas, in das insgesamt 15 Parteien bzw. Wahllisten die Drei-Prozent-Hürde genommen und in das Parlament eingezogen sind, stellen die etablierten und zumeist nationalistischen Parteien unverändert die stärksten Fraktionen, ebenso in den Entitätsparlamenten.

Auch wenn es gegenwärtig keine belastbaren Aussagen zu möglichen Koalitionen gibt, so scheint es dennoch als sicher, dass auf gesamtstaatlicher Ebene die national-konservativen Optionen SDA, HDZ BIH und SNSD eine – wie bisher – Interessenkoalition eingehen werden.

Rein rechnerisch möglich wären auch Optionen, in denen die SDP BIH Teil einer Koalition sein könnte, doch haben sich potentielle Partner wie etwa die Demokratische Front im Vorfeld ausdrücklich dagegen ausgesprochen, und eine Koalition mit den großen nationalen politischen Optionen würde den Niedergang auch der bosnisch-herzegowinischen Sozialdemokratie nur weiter beschleunigen.

Sinn und Widersinn

Im ehemaligen Jugoslawien galt Bosnien-Herzegowina als multinationales Erfolgs-modell, als Jugoslawien im Kleinen. Der jugoslawische Volksbefreiungskampf im Zweiten Weltkrieg, organisiert und angeführt durch die Kommunistische Partei Jugoslawiens, wäre ohne die gemeinsame Aktion aller Nationalitäten nicht erfolgreich gewesen. Die großen Schlachten der jugoslawischen Partisanen, von der Sutjeska bis zur Neretva, fanden allesamt auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas statt. Die beiden Sitzungen des «Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens», auf denen die Grundstruktur des neuen, sozialistischen Jugoslawiens beschlossen wurde, fanden ebenfalls in Bosnien-Herzegowina statt.

Aber in Bosnien-Herzegowina wüteten auch die kroatischen und serbischen Faschisten, die Ustaša und Četniks, um das Land einem Groß-Kroatien bzw. Groß-Serbien einzuverleiben. Der Bürgerkrieg in den 1990er Jahren eskalierte unter anderem auch, weil revanchistische Bestrebungen wiederaufkamen und von Zagreb bzw. Belgrad teils direkt, teils indirekt unterstützt wurden.

Gleichzeitig aber war die Antikriegsbewegung wohl am stärksten in Bosnien-Herzegowina ausgeprägt gewesen, die nicht-nationalen politischen Optionen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre waren – wenn überhaupt irgendwo, dann dort – einigermaßen erfolgreich. Der gesamtjugoslawische Fernsehsender YUTEL etwa konnte in Kroatien und Serbien nicht senden, weil ihm die nationalistischen Republikführungen die Sendelizenz entzogen hatten, wohl aber in Bosnien-Herzegowina.

Der Friedensvertrag von Dayton hat indes eine im Krieg militärisch durchgesetzte, ethnische Aufteilung des Landes zementiert, deren Ausläufer sich im politischen Leben bis heute manifestieren.

Zum Nationalismus gesellt sich, als zweites ideologisches Standbein des Staats- und Gesellschaftssystems Bosnien-Herzegowinas, ein peripherer Neoliberalismus, der die gesamte ökonomische Infrastruktur des Landes in über 20 Jahren Privatisierungs-geschichte demontiert hat. Die nationalen Eliten haben über ihre Parteiinfrastruktur von diesem Prozess massiv profitiert, bzw. haben ihn mitinitiiert, sodass der in Bosnien-Herzegowina geläufige Begriff des «Ethno-Business» durchaus wörtlich genommen werden kann.

Und dennoch stellt Bosnien-Herzegowina, gerade auch nach diesen Wahlen, keine politische Besonderheit in der internationalen Entwicklung dar. Vielmehr bestätigt es Trends, die auch anderswo zu beobachten sind: der Einfluss privilegierter Eliten nimmt zu, formal bestehende demokratische Institutionen werden ihres politischen Inhalts «entleert» und dies führt in Konsequenz zur Materialisierung einer Repräsentationskrise bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften.

Am Beispiel der Wahl des kroatischen Präsidiumsmitglieds etwa lässt sich diese Entwicklung ablesen. Sowohl der unterlegene Dragan Čović mit seinem auf ihn zugeschnittenem, politisch verkommenem Parteiapparat in Bosnien-Herzegowina, als auch der politische und mediale Mainstream Kroatiens proklamieren die Illegitimität der Wahl und sprechen den Bürgerinnen und Bürgern, die Željko Komšić gewählt haben, ihr qua Verfassung garantiertes Recht ab, den Kandidaten ihrer Wahl zu wählen. Nur ein kroatischer Nationalist, so die Logik, könne die bosnisch-herzegowinischen Kroaten repräsentieren, und ein solcher Kandidat würde auch ausschließlich von Kroaten gewählt werden, was dann wiederum repräsentativ wäre.

Ganz im Gegensatz zu Željko Komšić, der von Muslimen, Kroaten und wahrscheinlich auch Serben gewählt worden ist und somit keine Repräsentativität beanspruchen kann.

Beim Blick auf die Wahlbeteiligung von insgesamt knapp über 50% hingegen stellt sich die Frage der Repräsentativität ohnehin viel grundsätzlicher, in der Kommune Maoča beispielsweise lag die Wahlbeteiligung bei – 0%! Ein Blick auf die Zahlen zeigt zudem, dass Dragan Čović und das nationalistische kroatische Establishment, trotz intensiver Wahlkampfunterstützung durch die kroatische Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarović und den kroatischen Premierminister Andrej Plenković, lediglich von etwa einem Viertel der registrierten kroatischen Wählerinnen und Wähler in Bosnien-Herzegowina gewählt wurde.

Wohlfeil sind somit jene Kommentare in einheimischen, regionalen und internationalen liberalen Medien, die sich moralisch über den virulenten Nationalismus in Bosnien-Herzegowina ergehen, ihn als kulturelle Rückständigkeit des Balkans brandmarken und dabei verkennen, dass er Dank der ungebrochenen ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus schon längst zum politischen Mainstream geworden ist.

Die Wahl von Željko Komšić zeigt aber auch, dass ein relevanter Teil der Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas, die zur Wahl gegangen sind, genügend Eigensinn besitzt, um sich dem allgegenwärtigen nationalistischen Diskurs zu widersetzen. Zieht man noch die Stimmen für die sozialdemokratische Partei und eine Anzahl kleinerer, nicht nationalistischer Parteien hinzu, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der Nationalismus hier gar nicht das alles entscheidende Problem ist, sondern das Fehlen relevanter politischer Alternativen, die in der Lage wären, die nicht-wählende Hälfte der Bevölkerung politisch zu engagieren.

Linke Aussichten

Damit sind wir auch beim grundsätzlichen politischen Problem von Željko Komšić und seiner Demokratischen Front, aber auch den linksliberalen politischen Optionen generell. Außer ihrem betont antinationalistischen öffentlichen Auftreten, offenbaren sie eine eklatante politische Schwäche in der Artikulation von Alternativen zu sozio-ökonomischen Strukturproblemen ebenso wie sie es versäumen, Adressaten für ihre Politik außerhalb der urbanen Zentren anzusprechen.

Die DF beispielsweise, deren Mitglieder- und Akteursbasis mehrheitlich aus enttäuschten Sozialdemokraten besteht, fokussiert sich in ihrem öffentlich-programmatischen Auftreten vor allem auf die Kritik der ethno-nationalen Staatsstruktur und darin erschöpft sich auch der politische Wiedererkennungswert dieser Organisation. In Fragen der wirtschaftlichen, sozialen oder außenpolitischen Ausrichtung werden keine alternativen Entwicklungspfade eingeschlagen, vielmehr erschöpft sich alles im bekannten Mainstream einer prioritären Mitgliedschaft in NATO und EU, der Schaffung eines besseren Investitionsklimas, ökonomischer Eigeninitiative und Wettbewerbs-fähigkeit, allen voran im Rennen um ausländische Direktinvestitionen.

Ihrem ideologischen Grundsubstrat nach finden sich jedoch artverwandte Konzepte in nahezu jedem Parteiprogramm in Bosnien-Herzegowina – auch und vor allem in den Programmen von SDA, HDZ BIH und SNSD. Linksliberale Optionen wie die DF oder die SDP bewegen sich somit im Umkreis des wohlbekannten Hegemonialdiskurses und sie verstärken den Prozess der oben erwähnten Repräsentationskrise. Da sie de facto die systemische Alternativlosigkeit festschreiben, versäumen sie es all jene politisch zu engagieren, die sich politisch von keiner der etablierten Parteien vertreten fühlen. Ferner entziehen sie sich einer substantiellen, nachhaltigen und politisch affirmativen Allianzenbildung mit sozialen Bewegungen, linksradikalen Kollektiven oder Bürgerinitiativen.

Die Proteste von 2014, die in einer Reihe von Städten zu einer erstaunlichen direktdemokratischen Willensbildung geführt haben, wurden nicht nur von den etablierten nationalistischen Parteien politisch bekämpft und letztlich geschlagen, sie wurden auch durch die Passivität und Indifferenz des linksliberalen politischen Spektrums im Stich gelassen.

Ähnlich verhält es sich gegenwärtig mit den Protesten in Banja Luka, wo am 5. Oktober, nur zwei Tage vor den Wahlen, bis zu 40.000 Menschen aus allen Teilen Bosnien-Herzegowinas auf die Straße gegangen sind, um den Vater eines ermordeten jungen Mannes zu unterstützen, der seit dem 26. März jeden Tag auf dem Hauptplatz von Banja Luka von den Institutionen der Republika Srpska die Aufklärung des Mordes an seinem Sohn einfordert. Die Protestierenden fordern jedoch nicht mehr nur die Mordaufklärung, sie klagen das gesamte politische Establishment der Republika Srpska als Hauptverantwortlichen für ihre eigene unzureichende Lebenssituation an, und dies aus einer erstaunlich klassenbewussten Perspektive. Die Forderungen der Protestierenden sind deutlich politischer und sozial weitreichender als die meisten der gängigen Parteiprogramme in Bosnien-Herzegowina.

Diese 40.000 Menschen haben am 7. Oktober 2018 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht für Milorad Dodik und seine SNSD, oder eine der anderen nationalistischen Parteien gestimmt. Um den institutionalisierten Ethno-Nationalismus zu durchschauen, benötigen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Proteste weder Željko Komšić noch seine Demokratische Front, auch nicht die Sozialdemokratische Partei Bosnien-Herzegowinas oder eine der in der Republika Srpska vertretenen Oppositionsparteien. Sie benötigen eine glaubwürdige gesellschaftspolitische Alternative, und eine solche Alternative existiert in Bosnien-Herzegowina zurzeit nicht.

Die radikale, außerinstitutionelle Linke in Bosnien-Herzegowina ist lediglich eine politische Randerscheinung, untereinander häufig zerstritten und bis zum jetzigen Zeitpunkt ohne eine wahrnehmbare Debatte über ihre politisch-strategische Ausrichtung.

Die Proteste in Banja Luka könnten für die Linke ein Anknüpfungspunkt werden, um auf Grundlage einer antinationalistischen, sozialen und vor allem auch regional verknüpften Alternative die hegemoniale Denkmatrix von Nationalismus und Wirtschaftsliberalismus zu durchbrechen.

Auch die vielen lokalen Widerständigkeiten und sozialen Bewegungen – Proteste gegen den Bau von Kleinwasserkraftwerken, gegen die immer weiter um sich greifenden Zwangsräumungen, gegen die Kommodifizierung von Gesundheit und Bildung – sind wertvolle Einstiegspunkte in den Prozess einer politischen Artikulation der politischen Linken.

Die Perspektive einer größeren, ganz Bosnien-Herzegowina umfassenden sozialen Bewegung könnte endlich auch auf die linksliberalen Parteien genügend politischen Druck aufbauen und sie dazu bewegen, ihr überwiegend moralisch fundiertes Politikverständnis gegen eine reale politische Alternative jenseits des neoliberalen Mainstreams einzutauschen.

Ob dies realistisch ist, bleibt abzuwarten. Für die radikale Linke jedenfalls ist es überlebensnotwendig, sich durch soziale Bewegungen und lokale Kämpfe sowohl politisch als auch organisatorisch als Akteurin zu etablieren.

Dieser Artikel erschien zuerst im Ada Magazin.