Nachricht | International / Transnational - Soziale Bewegungen / Organisierung - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Geschlechterverhältnisse - Amerikas - Brasilien / Paraguay Auf dem Weg ins Regime

Kehrt in Brasilien die Diktatur zurück? Hat die PT Mitschuld am Aufstieg der Rechten? Die brasilianische Aktivistin Juliana Gonçalves beantwortet häufig gestellte Fragen.

Information

Juliana Gonçalves
Juliana Gonçalves CC BY-NC-ND 3.0, Foto: Daniel Arroyo Ponte

Juliana Gonçalves ist Journalistin und bei der Bewegung «Marsch der Schwarzen Frauen» in São Paulo aktiv. Nach der Stichwahl war sie Anfang November auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Deutschland. Mit Niklas Franzen sprach sie über den Wahlsieg von Jair Bolsonaro und die Gefahren einer ultrarechten Regierung in Brasilien.
 

Niklas Franzen: Nach dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro sprechen viele Menschen bereits von einer Rückkehr der Diktatur. Halten Sie das für übertrieben?

Juliana Gonçalves: Nein. In der Regierung von Bolsonaro werden zahlreiche Militärangehörige vertreten sein. Das letzte Mal, dass die Armee so viel politische Macht in Brasilien hatte, war während der Diktatur. Außerdem gab es nach der Wahl zahlreiche Übergriffe von Unterstützern von Bolsonaro und Versuche des Staates, Linke zu überwachen. Vieles deutet darauf hin, dass sich Brasilien zu einem antidemokratischen Regime entwickelt.

Warum haben denn überhaupt 57 Millionen Brasilianer*innen für einen offen rassistischen, sexistischen und homophoben Politiker gestimmt?

Brasilien ist ein rassistisches und konservatives Land, wo ultrarechte und neoliberale Denkmuster weit verbreitet sind. Dennoch: In Brasilien leben nicht 57 Millionen Rassisten und Frauenfeinde. Eine Reihe von Faktoren haben zur Wahl von Bolsonaro beigetragen, unter anderem eine große Unzufriedenheit mit der traditionellen Politik. Das hat die Rechte geschickt ausgenutzt und es geschafft, die Arbeiterpartei PT und gesamte Linke als Sündenbock für die Probleme des Landes darzustellen. Um die Wahl von Bolsonaro zu verstehen, dürfen wir aber auch nicht die Geschichte Brasiliens vergessen. Die massiven Ungleichheiten, die bis heute unsere Gesellschaft strukturieren, beruhen auf Jahrhunderten des Kolonialismus und der Sklaverei. Während der Regierungszeit der Arbeiterpartei PT gab es große Fortschritte. Allerdings ist durch ihre Politik auch eine neue Mittelschicht entstanden, die den Diskurs der oberen Schichten und Rechten angenommen hat.

Die PT trägt also Mitschuld am Aufstieg der Rechten?

Ohne Zweifel. Die PT hat viele Fehler gemacht. Sie hat den Kontakt zu ihrer Basis verloren und große Teile der unteren Schichten fühlen sich nicht mehr von ihr repräsentiert. Dennoch wissen viele Arme, dass sich ihre Situation mit einer rechten Regierung noch verschlimmern wird. Deshalb haben viele Arme bei diesen Wahlen wieder die PT gewählt. Bolsonaro hat insbesondere in den reicheren und weißeren Städten haushoch gewonnen.

Bolsonaro hat aber auch in armen Stadtteilen viele Stimmen geholt. Wie erklären Sie das?

Selbstverständlich gibt es arme Rechte und Schwarze Rechte. Aber die meisten Armen, Schwarzen und LGBTI, die Bolsonaro gewählt haben, haben ihn aber nicht wegen, sondern trotz der Grausamkeiten gewählt, die er von sich gibt. Sie glauben, dass Bolsonaro nicht umsetzen wird, was er erklärt hat. Wenn ich versuche, mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen und sie davon zu überzeugen, dass Bolsonaro ein Rassist ist, kommt meist die Antwort, dass Bolsonaro viele Schwarze Menschen in seinem Umfeld hat. Und es stimmt: Auf seinen Veranstaltungen finden sich Schwarze, Frauen und LGBTI – sie sind jedoch in der absoluten Minderheit. Eine weitere Erklärung, warum auch Arme für Bolsonaro gestimmt haben, sind die evangelikalen Kirchen. Diese haben enormen Einfluss in den sozial benachteiligten Randgebieten. Die Kirchen haben es geschafft, die PT und die von ihr erkämpften Reformen als antichristlich darzustellen. Davon hat Bolsonaro enorm profitiert.

Lange Zeit sah es so aus als wären die ultrareaktionären Aussagen von Bolsonaro selbst dem konservativen Unternehmertum zu radikal. Kurz vor der Stichwahl haben diese Kräfte jedoch den Schulterschluss mit dem Rechtsradikalen gesucht.

Viele Linke haben gedacht, dass das Kapital einen Wahlsieg von Bolsonaro nicht zulassen würde – diese Einschätzung stellte sich als großer Fehler dar. Das Kapital hat die Fähigkeit, sich ständig neu zu erfinden. So sind Bolsonaro Allianzen mit den drei mächtigsten Lobbys im Kongress geglückt: der Bibel-Lobby, der Waffen-Lobby und der Agrar-Lobby. Aber auch seine Art der Kommunikation erklärt seinen Wahlsieg: Die Linke hat im diesjährigen Wahlkampf nicht die Sprache der Bevölkerung gesprochen. Für uns mag es vielleicht unlogisch sein, dass eine Person, die ihr Leben lang PT gewählt hat, nun Bolsonaro unterstützt. Aber in Anbetracht von fehlender Bildung und der großer Medienkonzentration ist das verständlich. Deshalb muss es jetzt für uns heißen, zurück auf die Straße zu gehen und den Dialog zu suchen – so wie wir das in den letzten Tagen vor der Wahl gemacht haben. Auf diese Weise ist es uns gelungen, viele Wähler zu überzeugen, nicht für Bolsonaro zu stimmen. Hätten wir das von Anfang an gemacht, wäre das Wahlergebnis mit Sicherheit anders ausgefallen.

Welche konkrete Gefahr geht von Bolsonaro aus?

Mit Bolsonaro droht eine Institutionalisierung der Gewalt, die für uns Schwarze und Minderheiten bereits Alltag ist. Es ist zu befürchten, dass Menschen nun die staatliche Legitmation für Gewalt gegen Schwarze, LGBTI und Frauen bekommen. Bolsonaro hat zwar erklärt, dass er keine Gewalt dulde. Allerdings braucht er das auch nicht zu direkt zu fordern, denn sein Diskurs führt bereits dazu. Darüber hinaus bedroht Bolsonaro mit seiner Politik fast alle Fortschritte, die wir in den letzten Jahrzehnten erkämpfen konnten. Er hat eine Mehrheit im Kongress. Das wird ihm ermöglichen, viele Initiativen im Kongress durchzusetzen. Ich befürchte, dass beispielsweise Gesetze, die sich mit Abtreibung und dem Recht auf Selbstbestimmung unserer Körper befassen, zurückgenommen werden. Auch seine neoliberale Politik, wie Privatisierungen oder eine geplante Rentenreform, wird dramatische Auswirkungen haben.

Im Wahlkampf hat Bolsonaro immer wieder gegen Schwarze Brasilianer*innen gehetzt. Welche konkreten Projekte machen Ihnen besonders Angst?

Zum einen die geplante Abschaffung der Quotenreglungen für Minderheiten. Das hat Bolsonaro zu einer Priorität seiner zukünftigen Regierung erklärt. Das könnte das Ende der historischen Reparationen bedeuten. Ein zweites Projekt, das mir große Angst macht, ist die Liberalisierung der Waffengesetze. Bolsonaro will, dass jeder Brasilianer eine Waffe tragen kann. Das Beispiel von Rio de Janeiro zeigt, dass unter der Militarisierung der Gesellschaft vor allem die arme Schwarze Bevölkerung zu leiden hat.

In einem Interview nach der Wahl hat Bolsonaro seine Absicht bekräftigt, politische Gegner aus dem Land zu werfen und soziale Bewegungen als terroristische Vereinigungen einstufen zu lassen. Wie ernst nehmen Sie das?

Das ist ein direkter Angriff auf die Demokratie und das freie Denken. Wenn Bolsonaro davon spricht Bewegungen verbieten zu lassen, meint er selbstverständlich ausschließlich den linken Aktivismus. In Brasilien gibt es mittlerweile auch starke rechte Bewegungen. Diese haben einen entscheidenden Beitrag zum Wahlsieg von Bolsonaro getragen. Seine Drohungen gehen vor allem in Richtung der Landlosenbewegung MST und der Wohnungslosenbewegung MTST. Aber es wird uns alle betreffen. Seine Antwort auf Proteste werden Kugeln sein. Davon haben wir große Angst. Und es geht bereits los: Politiker von Bolsonaros Partei haben unlängst dazu aufgerufen, vermeintlich politisch indoktrinierte – also linke – Professoren zu filmen und im Internet zu denunzieren.

Wie werden Sie auf Bolsonaro reagieren?

Wir müssen diejenigen Menschen schützen, deren Rechte als Erstes entzogen werden sollen. Gleichzeitig müssen wir die Basisarbeit wieder aufnehmen und versuchen, uns als Linke neu aufzustellen. Aber auch Selbstkritik ist wichtig, um alte Fehler nicht zu wiederholen. Und wir müssen daran anknüpfen, was gut läuft: Trotz Bolsonaros Wahlsieg haben wir auch Erfolge bei den Wahlen verbuchen können. Zahlreiche Schwarze, indigene und Transfrauen haben den Einzug in die Parlamente geschafft. Das müssen Beispiele für unseren Widerstand sein.